Jungfräulichkeit in der westlichen Kultur

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Jungfräulichkeit in der westlichen Kultur


TW: Sexuell explizite Bilder, sexuell explizite Sprache, sexualisierte Gewalt, Rassismus, Sklaverei (nur Nennung), Heteronormativität, Transmisia, Antisemitismus, Gadje-Rassismus, Nationalsozialismus, Genitalverstümmelung (nur Nennung).


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Disclaimer: Im folgenden Text soll das Phänomen der Jungfräulichkeit in der westlichen Medienlandschaft und (Pop)Kultur diskutiert werden, dafür muss sich leider an einigen Stellen auf heteronormative und transexkludierende Sprache/Forschung berufen werden. Es wird sich bemüht, diese als problematisch zu kennzeichnen und – wenn irgendwie möglich – auf sie zu verzichten. Leider ist die Forschung und die Sprache in diesem Bereich nicht weit genug, um zu 100% auf solche menschenfeindlichen Darstellungen und Sprachmuster zu verzichten. Dafür entschuldige ich mich im Voraus.


Gibt es eine historische Jungfräulichkeit?

Denkt man an Jungfräulichkeit, so ist die erste Assoziation (zumindest aus kunsthistorischer Sicht) die Jungfrau Maria und ihre unbefleckte Empfängnis. Maria, die dafür bekannt ist, als Jungfrau ein Kind bekommen zu haben. Jungfräulichkeit wird im christlichen Glauben (und damit auch in der stark von ihm beeinflussten westlichen Kultur) spätestens seit Maria mit Reinheit und Erhabenheit gleichgesetzt. Doch Jungfräulichkeit als Motiv ist sehr viel älter als Maria und historisch heteronormativ.

ggIn der Frühantike gab es das Statuenmotiv der ‚tiefgegurteten Nymphe‘, das in der hellenistischen Hochphase der Antike weiter bearbeitet und ausgebaut wurde. Diese Abbildung weist auf eine Art Jungfrauengürtel hin, der für die Keuschheit der jeweiligen Frauen steht. Der Begriff ‚Nymphe‘ bezeichnet sowohl Halbgöttinnen als auch junge Frauen ab der Pubertät bis zu ihrer Hochzeit und noch spezifischer eine Braut an ihrem Hochzeitstag. Mit dem (halb)göttlichen Part wird vor allem Fruchtbarkeit assoziiert, die auf die jungen Frauen übertragen wird, die ab der Pubertät Reproduktionsfähigkeit besitzen. Bei einer Hochzeit wurde der Nymphe als Hochzeitsgöttin etwas geopfert – in der Zeit davor werden die jungen Frauen und Nymphen generell tiefgegürtet dargestellt. Der Gürtel symbolisiert ihre Reinheit, Unschuld und – am wichtigsten von allem – ihren Glauben. Auch die Tempeldienerinnen waren jungfräulich und ihre ‚Verunreinung‘ durch lüsterne Götter macht mehrere Kapitel in der griechischen und römischen Mythologie aus. Religion fungierte über Jahrhunderte hinweg aber auch als Schutz für Frauen, wie Elizabeth Castelli in Virginity and Its Meaning for Women’s Sexuality in Early Christianity schreibt. Wie effektiv dieser Schutz war/ist, ist jedoch in Frage zu stellen, wie sich an den jüngeren Skandalen in der katholischen Kirche zeigt.

Jungfräulichkeit und Religion stehen seit Jahrtausenden in direkter Korrelation. Diese religiös-motivierte Ambivalenz zwischen gut und böse, rein und unrein, jungfräulich und sexuell aktiv besitzt einen Genderbias, der an dieser Stelle nicht außen vor gelassen werden darf. Der erste große Hinweis auf ein geschlechterbasiertes Ungleichgewicht ist das Wort ‚Jungfrau‘, beziehungsweise ‚Jungfräulichkeit‘ – beides Begriffe, die wir im modernen Kontext auch für Männer/männlich Gelesene verwenden, obwohl sie sich historisch und sprachlich auf ‚junge Frauen‘ beziehen. Von Männern wird (je nach Zeit/Kultur/Stand) erwartet, bereits vor der Ehe sexuell aktiv zu werden – beziehungsweise wird es mindestens nicht sanktioniert oder zwingend auf ihre Mangel an Religion und Charakter zurückgeführt. Die Frage ist: Wenn von jungen Frauen erwartet wird bis zur Ehe zu warten, wo sollen junge Männer dann eine Partnerin finden? Dieses System setzt sexualisierte Gewalt, Untreue und/oder Sexarbeit voraus, wobei es jedoch den weiblichen Part in dieser Gleichung automatisch abwertet. Weibliche Sexualität muss existieren, um die Anforderungen an Männer zu erfüllen, wird gleichsam jedoch als unmoralisch und unrein konnotiert.

Sexuelle Inaktivität wird, in ihren Wurzeln, schon immer auf Frauen/weiblich Gelesene reduziert und zugeschnitten. Wann immer (im historischen Kontext) auf eine sexuell inaktive Person hingewiesen wird, geschieht dies mit Verweis auf deren weiblich konnotierte Geschlechtsmerkmale. Auch, wenn die Person männlich ist/gelesen wird. Ist ein Mann sexuell (noch) nicht aktiv, so ist er eine ‚Pussy‘ oder ein ‚Mädchen‘ oder wird mit ähnlichen weiblich konnotierten Beleidigungen konfrontiert. Dies beginnt bereits im Mittelalter, bei Werken wie der mittelhochdeutschen Versnovelle Helmbrecht von Wernher dem Gärtner (zwischen 1250 und 1280). Aber auch aktive Sexualität wird von weiblich konnotierten Geschlechtsmerkmalen und Reifemerkmalen abhängig gemacht. So ist Sexualität immer von dem Eintritt der Periode bestimmt, erst dann kann historisch gesprochen geheiratet werden, denn erst dann ist es möglich Kinder zu zeugen. Das Alter und die Reife des Mannes sind nicht wirklich entscheidend. Jungfräulichkeit wird an das Hymen geknüpft, was nur in weiblich gelesenen Körper existiert und weibliche Sexualität darf in historischem Kontext nur dann existieren, wenn daraus Kinder entstehen können, alle anderen Formen sind tabuisiert.


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Lilith, John Collier (1892)


Blut und Schmerzen – ein toxischer Mythos

Jungfräulichkeit als Konzept tritt in vielen Muster auf. Besieht man sich die weibliche Entjungferung, so trifft man auf Bilder und Informationen, die Angst hervorrufen und Sexualität als etwas Schmerzhaftes konnotieren. Diese Motive haben einen gemeinsamen Nenner: das Hymen, auch Jungfernhäutchen genannt.

Die Vorstellung vieler (gerade junger) Menschen ist, dass diese ‚Haut‘ bei der ersten Penetration einreißt und dabei Schmerzen verursacht, die die Person mit Vagina ertragen muss, da dies eben ’natürlich‘ und ’normal‘ sei. Doch ist man sich in der Forschung seit Jahrzehnten bewusst, dass dies ein gefährlicher Mythos ist:

Abundant myths exist in different cultures portraying hymen as the icon of spotlessness obligatory to be cracked at the first night of marriage but the reality discloses it as a very subtle mucosal tissue lining the vaginal opening procuring different shapes and may be thin, elastic, thicker and less stretchy. […]

Some [people with hymens] contemplate that this tissue must break at the first penile penetration but this ‚first time‘ belief is a myth. […] In some […] a small amount of this tissue may break out but this may not necessarily happen for the very first time. Sexual intercourse must occur when [the person with the hymen] is aroused, relaxed, lubricated where the penetration must be done slowly if it is the first time as in such cases question of bleeding can be ignored. Forceful penetration may upshot in bleeding however, some women bleed due to non-flexible nature of their hymen.

(Dr. Navodita Maurice, Hymen and Virginity: A Social Humiliation, 2015)

Bevor man sich mit der Umsetzung in Medien und Kultur beschäftigt, muss man zunächst diese Mythen adressieren und widerlegen. Denn was Dr. Navodita Maurice schreibt, ist leider nicht so bekannt, wie es sein sollte. Hymen sind keine magischen Vagina-Siegel, die bei dem ersten sexuellen Kontakt automatisch brechen. Sie sind dehnbar und reißen oft gar nicht oder durch Aktivitäten, die nichts mit Sex zu tun haben, wie bei generellem Sport, Reiten, Fahrradfahren, etc. – ein Grund, warum Frauen in manchen Zeitabschnitten verboten wurde, diese Aktivitäten auszuüben.

Der Mythos einer schmerzhaften Entjungferung ist etwas, was bis heute als Allgemeinwissen gilt. Heteronormativer Sex muss für Menschen mit Vagina, zumindest die ersten paar Mal, wehtun – so heißt es. Das ‚erste Mal‘ wird von Medien, populärer Kultur und über Generationen weitergegebenes Halbwissen so spezifisch als unangenehm und schmerzhaft definiert, dass viele es erst später in ihrem Leben hinterfragen. Die Schmerzen kommen, wie Maurice in ihrem Rechercheartikel festhält, von erzwungener Penetration oder fehlender Vorbereitung. Die Idee, dass Sex etwas ist, was Menschen mit Vagina im jungen Alter nicht mögen können (und dürfen) wird durch Jahrhunderte des Patriarchats gefestigt. In diesem wird die Unterdrückung von weiblicher (bzw. als weiblich gesehener) Sexualität durch ebensolche Mythen erreicht. Hinzu kommt, dass die Schmerzen als Grundlage für die Entjungferung ein Weltbild stützen, in dem die Person mit Vagina gegen ihren Willen entjungfert wird – etwas was besonders in Medien, die an das Mittelalter angelehnt sind, gerne aufgegriffen und als Fakt verkauft wird.

Auch das Bluten bei der Entjungferung ist Teil dieser Darstellung und wird, gerade in der Serie Game of Thrones, deutlicher noch in den Büchern dazu, zu etwas stilisiert, was Grauen und Ekel, aber auch Faszination hervorrufen soll. Dies läuft unter zwei Annahmen:

  1. Wenn die Person nicht blutet, hatte sie schon Sex.
  2. Blut ist ein Anzeichen dafür, dass der Sex nicht einvernehmlich ist.

Die erste ist, wie in diesem Beitrag nun geklärt wurde, nicht wahr. Nicht alle Menschen mit Hymen bluten beim ersten Mal, das Hymen kann beim Sex gar nicht reißen oder bereits zuvor gerissen sein.

Hinter der zweiten Annahme steckt etwas, was nicht einfach als falsch gedeutet werden kann. Denn ja, das generelle Konzept von Schmerzen und Blut bei der Entjungferung kommt aus dem Gedanken, dass Sex für Menschen mit Vagina beim ersten Mal nicht angenehm sein kann/darf und die Person dabei bluten wird. Die automatische Verknüpfung von Gewalt/Schmerzen und Blut ist trotzdem nicht gerechtfertigt, denn auch wenn die sexuelle Handlung angenehm und einvernehmlich ist, kann es, je nach Körper, zu leichten Blutungen kommen. Diese dürfen nicht mit dem gewalttätigen Unterton solcher Szenen gleichgesetzt werden.


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Three Ladies Adorning a Term of Hymen, Joshua Reynolds (1773)


Der westliche Zwiespalt

Die Tatsache, dass wir Jungfräulichkeit an die Existenz eines kleinen Häutchens knüpfen, was nur Menschen mit Vagina haben, ist lächerlich, wenn man genauer darüber nachdenkt. Nicht-westliche Kulturen haben einen traditionell anderen Umgang mit Sexualität und Jungfräulichkeit, der im Zuge der Kolonialisierung an westliche Standards angepasst wurde – eine negative Entwicklung für Menschen mit Vagina in diesen Bereichen der Welt. So schreibt Eric Julian Manalastas über Jungfräulichkeit in den Philippinen, dass junge Frauen für ihre Sexualität bestraft werden, wohingegen junge Männer darin bestätigt werden – dieses Konzept von sexueller Männlichkeit und asexueller Weiblichkeit kommt aus der westlichen Kultur und wurde in die ganze Welt exportiert. Neben der Tatsache, dass es ganze Kulturen beeinflusste und das Bild von weiblicher Sexualität global veränderte sorgt es auch dafür, dass sexualisierte Gewalt normalisiert wird, denn die Frau/Person mit Vagina als passiver Teil und der Mann/die Person mit Penis als aktiver (sich etwas nehmender) Teil kommt genau aus diesem Weltbild.

Respekt und Jungfräulichkeit werden traditionell miteinander verbunden und gerade im westlichen Mittelalter entwickelten sich Strukturen, die jungfräuliche Frauen (und generell Menschen mit Vagina) als besonders rein – und begehrenswert kennzeichneten. Hier wurde die Jungfrau von einem Symbol für Reinheit zu einem Sexsymbol. Der Reiz des frischen, ‚reinen‘ und (noch) nicht eroberten Körper brachte gefährliche Konsequenzen mit sich. Ein Zwiespalt entwickelte sich: Einerseits wurde die sexuell inaktive Frau als Reinheitssymbol der Religion gefeiert, andererseits wurden nun aber alle Frauen, die begehrenswert erschienen, als Jungfrau stilisiert und tatsächliche Jungfrauen zum Sexsymbol erklärt.

Um es deutlich zu sagen: Jungfrauen wurden sexuell begehrt, verloren aber in der Sekunde, in der sie diesem Drang nachgaben (oder dazu gezwungen wurden) ihren Status und ihren Reiz. An dieser Entwicklung wurde ihnen dann selbst die Schuld gegeben.

Die Glorifizierung von Jungfrauen kann anhand von bekannten weiblich gelesenen Persönlichkeiten in der Geschichte verfolgt werden, wie etwa Joan of Arc und Königin Elizabeth I. Ob diese wirklich jungfräulich waren, ist im Endeffekt egal, denn die Menschen ihrer Zeit und alle, die folgten, begannen Zölibat, ‚Asexualität‘ und Verweigerung der Heirat in ihre ‚Marke‘ zu integrieren und es zu einem wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit zu stilisieren, der historisch betrachtet nicht zwingend auf Fakten beruhen muss. Gerade historische Frauenfiguren, die sich Gott verschreiben und auf Sex verzichten, verkaufen sich gut – so schlimm es auch klingt. Schriftsteller*innen, Geschichtsschreiber*innen, Journalist*innen, Regisseur*innen, und weitere Medienproduzent*innen, die unser Bild von Kultur und Geschichte prägen, wissen, was Menschen lesen/hören/sehen wollen. Geschichten von Frauen, die sich widersetzten und rebellierten, sind ohne die sexuelle Komponente einfach nicht interessant genug. Es braucht einen Skandal oder eine Verweigerung, um weiblich gelesene Persönlichkeiten berühmt zu machen.

Dieser westliche Zwiespalt übt(e) sich negativ auf junge (weiße) Frauen aus, aber wie eigentlich immer in unserer Geschichte, traf es andere wesentlich härter. Denn die Reinheitsvorstellungen führten dazu, dass im Zuge des Kolonialismus alle weiblich gelesenen, die nicht weiß waren, automatisch als unrein gesehen wurden; auch der religiöse Schutz fiel weg – sie waren also der sexualisierten Gewalt seitens der Kolonialmächte ausgeliefert, ohne dass jemand dafür bestraft werden konnte. Sie konnten aus dem westlichen Weltbild heraus nicht weiter verunreinigt werden, erhielten keinen Schutz aus der christlichen Religion und waren für Ehen ungeeignet, womit also auch keinem zukünftigen Mann etwas weggenommen wurde. Die Sexualisierung von nicht-weißen Frauen und weiblich Gelesenen spielte ebenfalls in diese Sichtweise hinein und ihre Ausläufer können wir bis heute sehen. Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben, wird eher geglaubt, wenn sie weiß sind und die sexuelle Selbstbestimmung von weißen Frauen gilt als schützenswerter als die von BIWoCs.


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Au Salon de la Rue des Moulins, Henri de Toulouse-Lautrec (1894)


Die Rolle der populären Kultur

In der populären Kultur wird seit dem 18. Jahrhundert ein gewisser Standard evoziert, der Jungfräulichkeit zu einem eigenen Thema macht. Der Keuschheitsgürtel ist ein gutes Beispiel hierfür. Historisch gesehen war der Gürtel ein Schutz vor sexuellen Übergriffen, der nur sehr selten tatsächlich genutzt wurde. Durch mediale Darstellung in der populären Kultur ab etwa 1750 (besonders in der Mittelalterromantik ab 1800) wurde er zu einem Zeichen der Überwachung und des „Auf-die-Ehe-Wartens“. Der strenge Vater, der die Sexualität seiner Tochter kontrolliert und dabei versagt wurde zu einem Symbol im Bürgerlichen Trauerspiel. Die Jungfräulichkeit als Tauschgut, als Wert der jungen Frauen, setzte sich fest in der Gesellschaft ab. Vermutlich noch fester, als wir es vom Mittelalter erwarten. Die Neuzeit war es, die diese Symbolik auf ein neues Level hob.

Diese Vorstellungen wurden in den 20ern teilweise aufgebrochen, als die (weibliche) Avantgarde-Literatur (Marieluise Fleißer) begann, mehr über sexuelle Stigmata zu schreiben und die Schande, die jungen Frauen/weiblich Gelesenen aufgelegt wurde, zu entpacken. Dies wurde nach dem Zweiten Weltkrieg lange verdrängt und erst in den 80ern wieder ausgepackt (Elfriede Jelinek).

Dazwischen begannen öffentliche Medien wieder auf alte Stereotypen zurückzugreifen, wie etwa sexuelles Erwachen bei jungen (unschuldigen) Frauen, die sexuell aktive Frau als böse/verrucht und mehr. In modernen Serien gibt es einen Zwiespalt zwischen altbackenen Mittelalterdarstellungen (wie Game of Thrones) und sexistischen Untertönen in eigentlich diversen Serien (Atypical (Darstellung der Frau als Mittel zum Zweck (Sex)), How to get away with murder (Jungfräulichkeitspackt, „Test“ zur Feststellung von Jungfräulichkeit, Slutshaming)). Selbst Serien wie Black-ish, die eigentlich solche Dinge entpacken, sind nicht immun gegen schlechte Recherche und Slutshaming gegenüber jungen Frauen. Wo der Sohn für sein erstes Mal gefeiert wird, bricht der Vater in Tränen aus, wenn er erfährt, dass seine erwachsene Tochter Sex hat.

Wenn in Serien wie Game of Thrones eine Vergewaltigung dazu führt, dass die Frau keine Jungfrau mehr ist, ihren Wert verliert und als „unrein“ gilt (Sansa Stark), aber einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Sex zwischen zwei Frauen nicht denselben Effekt hat (Margaery Tyrell) sendet das essenziell die Nachricht, dass eine Vergewaltigung eher als sexuelle Handlung akzeptiert wird, als Sex zwischen zwei Frauen.

Populäre Kultur spiegelt heteronormative und veraltet-sexistische Bilder von Sexualität wider und beeinflusst damit unser Denken und unsere Einstellungen – ohne dass wir es aktiv bemerken. Statt die Chance zu nutzen eine diverse Bandbreite von Jungfräulichkeit und Sexualität darzustellen, beruft sich die populäre Kultur auf sexistische, veraltete Standards. Wir haben kein Problem damit die sexuelle Erwachung von einer Vierzehnjährigen darzustellen oder sexualisierte Gewalt zu zeigen, aber Asexualität oder eine gesunde Beziehung von zwei Menschen, die nicht cis-hetero sind, geht zu weit. Wenn es in den Medien mal eine asexuelle Figur gibt, dann ist diese dick und weiblich – alles andere wäre ja „Verschwendung“. Und wenn es mal eine LGBTQ+ Figur gibt, so ist diese nicht geoutet oder wird gemobbt/verfolgt.


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The Flirtation, Eugen de Blaas (1904)


Männliche Jungfräulichkeit

Weiblich Gelesene stehen zwischen den Stühlen, wenn es um ihre Jungfräulichkeit geht; sie können es niemanden wirklich recht machen. Männlich Gelesene hingegen haben nur ein Ziel, wenn man den Medien glaubt: Sex. Die Vorstellung, die wir von jungen Männern haben ist, dass sie möglichst schnell sexuell aktiv werden wollen.

Ihnen wird abgesprochen, dass sie asexuell sein können oder auf die Ehe/richtige Person warten wollen. [Eines der wenigen Positivbeispiele ist Todd aus Bojack Horseman.] Damit schädigen wir nicht nur ihre Sicht auf Sexualität, sondern auch ihre Rolle in der Gesellschaft. Denn wenn wir – heteronormativ gesprochen – jungen Frauen beibringen, dass sie ja keinen Sex haben sollen, junge Männer aber dazu zwingen früh Sex zu haben, bleibt ihnen kaum eine andere Möglichkeit, als den weiblichen Part dazu zu überreden oder – im schlimmsten Fall – zu zwingen.

Männliche Jungfräulichkeit in den Medien dreht sich entweder darum, schnellstmöglich keine Jungfrau mehr zu sein oder – in seltenen Fällen – um religiösen Zölibat. Ansonsten spielt sie keine wirkliche Rolle. Wir nehmen bei jungen, männlich gelesenen Menschen einfach an, dass sie entweder bereits sexuell aktiv sind oder es sein wollen. Dementsprechend gibt es endlos viele Darstellungen von „coolen“ Teenagern, die ihre Freundin dazu überreden Sex mit ihnen zu haben, andere Jungen dafür auslachen noch Jungfrau zu sein oder ihre Freundin betrügen, weil sie „Triebe“ haben und diese sie nicht erfüllen wollte.

Diese „Triebe“ beruhen ebenso auf Pseudobiologie, wie der Umgang mit dem Hymen. Blue Balls wird als Begriff genutzt, um Frauen zu shamen, die einem Mann den Sex verweigern. Sein Sexualtrieb wird über die körperliche Selbstbestimmung der Frau gestellt.

Der Druck auf junge cis Männer möglichst früh sexuell aktiv zu sein schadet ihnen, übt sich jedoch ebenso negativ auf junge cis Frauen aus. Ihnen wird die Rolle des „Mittels zum Zweck“ zugeschrieben. Sie verlieren ihren „Wert“, damit der cis Mann seine Triebe erfüllen kann. Was sie wollen und welche negativen Auswirkungen dies auf sie haben kann rückt dabei in den Hintergrund.

Sex wird als etwas dargestellt, was vom Mann ausgeht. Die Frau erträgt es ihm zuliebe nur. Dabei ist es besonders wichtig, dass wir jungen Menschen zeigen, dass Sex mehr ist als Penetration und dass es immer mindestens zwei Personen benötigt, die es gleichermaßen wollen und sich der Konsequenzen bewusst sind. Verhütung spielt hierbei ebenfalls eine Rolle, denn cis Männer können nicht schwanger werden, was ihnen einen einfachen Ausweg aus der Diskussion um Verhütung ermöglicht. Die Konsequenzen sexueller Handlungen müssen von allen getragen werden, die an der Handlung beteiligt waren. Diese Grundsätze müssen vor allem jungen cis Männern klargemacht werden, bevor sie sexuell aktiv werden.

Wenn wir cis-männliche Jungfräulichkeit entpacken und die toxischen Zwänge ablegen wollen, müssen wir sie mit Verantwortung und Sexualkunde ersetzen, die Sex als etwas definiert, was Konsequenzen hat, nicht zwingend einen Penis beinhalten muss und nur stattfinden kann, wenn sich alle auf Augenhöhe begegnen und bereit sind eventuelle Konsequenzen gemeinsam zu tragen.


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La mort de Socrate, Jacques-Louis David (1787)


Heteronormativität und Jugendkultur

Die heutige populäre Kultur ist sehr sexorientiert. Alle Serien/Filme benötigen irgendeine Form der Sexualität. Dabei haben wir ein sehr definiertes Bild von Sexualität, in dem nicht alles gleichwertig ist. Wir wissen genau wann Sex passiert und warum – alles dreht sich um cis-männliche Triebe.

Bei Game of Thrones reicht eine Vergewaltigung, um einer Frau ihre Jungfräulichkeit zu nehmen. Dabei ist sexualisierte Gewalt nicht dasselbe wie Sex – die Frau muss keinen Sex haben, um als sexuelles, „verdorbenes“ Wesen gesehen zu werden. Wir wissen, dass wenn ein cis Mann Sex will, das auch passiert. Egal ob mit einem anderen cis Mann oder mit einer cis Frau. Der Penis ist der Fokus unseres Sexualitätsverständnis. Gleichgeschlechtlicher Sex zweier Frauen führt nicht dazu, dass sie im Sinne unseres Verständnisses ihre Jungfräulichkeit verlieren. Auch die sexuelle Erwachung von cis Frauen dreht sich in der Regel um einen cis Mann, der ihnen ihre „verruchte/schmutzige“ Seite zeigt. Der cis Mann ist der Held, die cis Frau verliert ihre Unschuld und ist nun ein sexuelles Wesen. Diese Darstellung kennt man aus Filmen, Serien, Büchern, Fanfiktions – sogar aus Videospielen.

Dabei ist Jungfräulichkeit nicht an einen Penis geknüpft! Penetration ist nicht das, was sexuelle Handlungen ausmacht. Ebenso wie das Hymen einer Person mit Vagina nicht bestimmt, ob sie „rein“ oder „unrein“ ist. Diese pseudo-medizinische Ansicht sorgt dafür, dass jedes Jahr mehr und mehr junge Menschen genital verstümmelt werden, um zu verhindern, dass sie ihre Jungfräulichkeit verlieren. Auch „Virginity-Testing“ existiert und hat furchtbare Ausmaße. Die Forscherinnen Benita de Robila und Louise Vincent untersuchen „Virginity-Testing“ in Südafrika und schreiben über die Konsequenzen für junge Menschen mit Vagina, die den Test nicht bestehen.

Sexualität dreht sich so sehr um traditionell männlich gesehene Geschlechtsorgane, dass junge Menschen nicht lernen, was Sex ist und was nicht. Sexualisierte Gewalt ist kein Sex. Sex ohne Penis ist Sex. Niemand muss Sex haben, um einen gewissen „Status“ zu erreichen, aber wenn jemand Sex haben will ist das alleinig die Verantwortung von ihnen den jeweiligen Partner*innen. Dem cis Penis wird in sexuellen Beziehungen alle Macht zugesprochen, dabei geht es um so viel mehr, als nur cis-männliche Befriedigung.

Die Heteronormativität sorgt dafür, dass wir weiblich gelesene Jungfrauen in Gruppen einteilen. Die einen sollen unbedingt Jungfrau bleiben und werden unter grausamen Methoden dazu gezwungen – die anderen sollen unbedingt heteronormativen Sex haben, da nichts anderes sie aus ihrer Rolle der Jungfrau herausheben kann. Es steht uncool aber unschuldig versus cool aber weniger wert.


Jungfräulichkeit wird in der LGBTQA+ Community anders definiert und ist um einiges Komplexer, als der westlich-heteronormative Standard. Hier einige Links zu Jungfräulichkeit/Sex bei trans Personen, Asexuellen und in der restlichen LGBQ+ Community.


Die heutige Jugendkultur ist sehr viel offener gegenüber diverser Sexualität, was oft dazu führt, dass der „neuen“ Generation eine Hypersexualität zugesprochen wird. Dem ist nicht so. Wir sind heute nicht sexueller als Generationen vor uns, wir haben nur die Chance unsere Sexualitäten offen zu leben. Ganz gleich welche Sexualität wir haben und inwiefern wir uns dazu entschließen sexuell aktiv zu werden.


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Punning visually on the lute in this brothel scene, Gerrit van Honthorst (1625)


Pornografie und (früh) Sexualisierung

Ein Grund für diese Öffnung ist Pornografie.

Pornografie wird generell tabuisiert, dabei ist es das einzige Medium, in dem Sex wirklich eine Rolle spielen muss – anders als in Serien/Filmen/Büchern/Videospielen ist die Grundprämisse eine einvernehmlich sexuelle Handlung zwischen zwei erwachsenen Menschen. Selbst wenn die Handlung nicht als solche dargestellt wird – legale Pornografie funktioniert nur, weil die Schauspieler*innen dahinter diese Ansprüche erfüllen.

Der richtige Umgang mit Pornografie kann jungen Menschen viel über Sex beibringen. Die Absprache hinter der Kamera, die Verhütung und vor allem die gemeinsame Grundlage, dass alle mit den geplanten Handlungen einverstanden sein müssen.

Die (berechtigte) Angst vieler Erwachsenen ist, dass Pornografie ein Bild von Sex vermittelt, was nicht der Realität entspricht. Dem ist auch oft so, allerdings werden junge Menschen so oder so mit diesen Bildern konfrontiert. Der Unterschied ist, dass wir die Darstellung von sexualisierter Gewalt in Serien wie Game of Thrones nicht verurteilen, die in Pornografie jedoch schon. Die Frühsexualisierung von Jugendlichen geschieht in der medien-definierten Welt des 21. Jahrhunderts, ob wir es wollen oder nicht. Pornografie hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber Serien/Filmen – sie befasst sich aktiv mit dem Thema, statt es nur als leeren Plot-Device zu nutzen.

Viele Pornodarsteller*innen arbeiten aktiv daran, ein Bild von Sexualität zu entwerfen das zeigt, dass jede Handlung (egal wie sie aussieht) nur okay ist, wenn alle Partner*innen damit einverstanden sind. Ganz gleich, ob es um heteronormativen Sex, nicht-heteronormativen Sex oder Fetische geht. Es gibt Pornografie, die Sexualitäten als Fetisch darstellt und das ist zu verurteilen, aber gleichsam steht hinter jedem legalen pornografischen Inhalt (der nicht gezeichnet ist) ein Team an Menschen, die alle freiwillig und aktiv dabei sind. Durch Pornografie werden alle Arten von Sexualität gezeigt – es gibt Genres für alle Sexualitäten und Präferenzen – ohne Verurteilung. Junge Menschen sehen ihre Sexualität in diesen Medien, nicht die heteronormative Filterung Hollywoods.

Erotische Medien (wie Pornografie, erotische Literatur, etc.) erfüllen eine wichtige Rolle in der Medienlandschaft. Sie umfassen die Themen, die es auch in anderen Medien gibt, und machen sie zum Fokus. Über diese Darstellungen können wir als Gesellschaft aktiv die Bilder steuern, die junge Menschen in dieser Hinsicht prägen. Ein offenes Gespräch über Pornografie und die Hintergründe von legaler (und illegaler) medialer Sexarbeit sind ein wichtiger Grundstock für das Verständnis von Sexualität und Jungfräulichkeit junger Menschen.


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Le déjeuner sur l’herbe, Édouard Manet (1863)


Fazit

Jungfräulichkeit wird in den (westlichen) Medien als ein fast ausschließlich cis-weibliches Thema dargestellt. Die heteronormativen Bilder evozieren ein Verständnis von Sexualität, was seit Jahrhunderten existiert und im 21. Jahrhundert langsam aufgebrochen wird. In der Antike gab es ein teilweise offeneres Verständnis von Homosexualität, was jedoch nicht so modern ist, wie gerne angenommen und spätestens durch das Mittelalter komplett aus der medialen Darstellung verschwand.

Nicht-heteronormativer Sex wurde lange auf cis Frauen beschränkt und galt nicht wirklich als sexuelle Handlung, sondern vielmehr als Fetisch, der besonders cis Männern als Sex-Fantasie diente (und teilweise bis heute dient). Das Verständnis von Sexualität geht so weit, dass sogar sexualisierte Gewalt eher als sexuelle Handlung gilt, als gleichgeschlechtlicher Sex ohne einen Penis.

Junge Menschen werden mit einer Darstellung von Jungfräulichkeit und Sexualität konfrontiert, die im Mediengedächtnis der letzten Jahrhunderte eine feste Form annahm. Diese dreht sich um cis-männliche Befriedigung und Schande für den cis-weiblichen Part. Die Heteronormativität wird im 21. Jahrhundert langsam abgebaut, findet sich jedoch trotzdem noch in den Medien – selbst in eigentlich offenen und diversen Serien/Filmen.

Der gemeinsame Nenner hinter diesen medialen und kulturellen Traditionen ist die primär-westliche Religion, genauer das Christentum. Die Unterdrückung weiblicher Sexualität wird nur von Darstellungen gebrochen, die sexuelle Aktivität als Statussymbol darstellen. Junge, weiblich gelesene Menschen stehen zwischen den Stühlen und müssen sich entscheiden zwischen zwei Rollenvorgaben, die beide positive und negative Konsequenzen mit sich bringen. Männlich Gelesene hingegen werden so aktiv darauf trainiert, sexuelle Aktivität als Lebensziel zu sehen, dass Respekt und Verantwortung dabei vernachlässigt werden. Die LGBTQA+ Community kämpft darum, wahrgenommen zu werden und die pseudobiologischen Annahmen rund um Sexualität und Jungfräulichkeit in den Medien abzubauen.

Wir haben als Gesellschaft noch einen langen Weg vor uns, Sexualität zu enttabuisieren und Jungfräulichkeit als Konzept abzuschaffen. Nur wenn wir es schaffen, das Konzept komplett zu vergessen, wird es für alle Menschen möglich, ihre Sexualität frei von Stigmata und toxischen Vorstellungen auszuleben – ganz gleich, ob sie überhaupt sexuell aktiv sein wollen und wenn ja wann und mit wem.


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Illustration für den Erotikroman ‚Aphrodite‘ von Pierre Louÿs, Maurice Ray (1931)


Linksammlung und Fachliteratur


Nochmals als Disclaimer: Leider schließt fast alle Fachliteratur die Existenz von trans Menschen und der generellen LGBA*-Community aus. Darauf sollte beim weiteren Nachlesen geachtet werden. Die Literatur ist fast ausschließlich auf Englisch, da im internationalen Raum mehr dazu geforscht wird.


  • Dr. Navodita Maurice: Hymen and Virginity: A Social Humiliation. (2015)
  • Dr. Iklim Goksel: Rhetorics of Virginity in Turkish Modernity. (2009)
  • Dr. Corinne Harol: Enlightened Virginity in Eighteenth-Century-Literatury. (2006)
  • Eric Julian Manalastas: Valuation of Women’s Virginity in the Philippines. (2018)
  • Terry P. Humphreys: Cognitive Frameworks of Virginity and First Intercourse. (2013)
  • Miriam Robbins Dexter: Indo-European Reflection of Virginity and Autonomy. (1985)
  • Elizabeth Castelli: Virginity and Its Meaning for Women’s Sexuality in Early Christianity. (1986)
  • Dr. Hannelore Winkler: Zur Jungfräulichkeit in der Antike: Die tiefgegürteten Nymphen. (2014)
  • Benita de Robila: ‚Girls‘ and virginity: Making the Post-Apartheid Nation State. (2009)
  • Louise Vincent:  Virginity testing in South Africa: Re-traditioning the Postcolony. (2006)
  • Jonas Eriksson/Terry P. Humphreys: Development of the Virginity Beliefs Scale. (2014)
  • Paige Averett: Virginity Definitions and Meaning Among the LGBT Community. (2014)

Der Tod als Frau I – Einführung, Europa und Westasien

  Der Tod als Frau I Eine historisch-medienkulturelle Analyse Einführung, Europa und Westasien TW: Tod, Kindstod Disclaimer: Alle Beispiele in diesem Text wurden exemplarisch für die jeweilige Region gewählt, es herrscht keinesfalls ein Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund der teilweise sehr vielen/wenigen Literatur, kann es zu Unstimmigkeiten kommen. Sollte sich ein Fehler einschleichen bitte ich darum […]

 

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Der Tod als Frau I

Eine historisch-medienkulturelle Analyse

Einführung, Europa und Westasien

Teil 2 | Teil 3


TW: Tod, Kindstod


Disclaimer: Alle Beispiele in diesem Text wurden exemplarisch für die jeweilige Region gewählt, es herrscht keinesfalls ein Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund der teilweise sehr vielen/wenigen Literatur, kann es zu Unstimmigkeiten kommen. Sollte sich ein Fehler einschleichen bitte ich darum diesen respektvoll in den Kommentaren anzumerken. Alle Kommentare, die die in diesem Text genannte Kulturen und Religionen angreifen/beleidigen, werden gelöscht.

Im Folgenden wird der Tod als weiblich gelesene Figur diskutiert. Da in der Literatur und den Quellen zu den Kulturen/Religionen generell von ‚Frauen‘ die Rede ist, wird dies hier übernommen. In einzelnen Fällen gibt es geschlechtsfreie/nicht binäre Entitäten, die (sofern dies aus den Quellen abzulesen ist) dementsprechend benannt werden.


Dieser Blogtext wird euch kostenfrei zur Verfügung gestellt, falls ihr mich und meine Arbeit unterstützen wollt, könnt ihr das hier: Paypal.


Religion und der weibliche Tod


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Death and the Dancer, Joshua Gleadah (1822)


Möchte man eine Betrachtung des weiblich konnotierten Todes in Medien und Kultur vornehmen, so muss zuvor geklärt werden, woher diese Darstellungen kommen. Ein Großteil (wenn nicht sogar alle) der (weiblichen) Todesfiguren besitzen in irgendeiner Weise religiöse oder religiös-kulturelle Hintergründe. Die meisten davon kann man unter Polytheismus verzeichnen, da ein komplexes Gött*innensystem mehr Platz für weibliche Figuren lässt. In den monotheistischen Darstellungen handelt es sich bei den weiblichen/nicht binären Wesen eher um Zwischenbot*innen oder künstlerisch-frei interpretierten Versionen der nicht zu bestimmenden Gött*innenfigur, die in diesem Fall sowohl für Leben als auch für den Tod zuständig ist.

Die nicht-religiösen Darstellungen drehen sich um Legenden und Figuren, die in einer entfernten Verwandtschaft zur Religion stehen oder zumindest einem kulturellen Volksglauben entspringen. In der Moderne wandelt(e) sich dies, nun kann Tod auch fern von Religion existieren. Aufgrund der Konnotation von Tod und Religion lassen sie sich jedoch nie ganz voneinander trennen.

Außerhalb des Monotheismus stehen die weiblichen/ nicht binären Gött*innen des Todes oft für Erde, Fruchtbarkeit und Mutterschaft, was ihnen eine spezifische Rolle in den Todesdarstellungen einbringt: Das Zurückkehren zur Erde, der friedliche Tod, das Sterben von Kindern/Müttern. Der männliche Part dieser Darstellung steht hingegen für den brutalen Kriegstod oder andere Arten des gewaltvollen Sterbens. Diese beiden Versionen des Todes werden im jeweiligen Glauben/der jeweiligen Kultur oft als Geschwister und/oder Ehepaar vergegenwärtigt. Natürlich gibt es hier Ausnahmen, die im Folgenden als solche markiert werden.


Die süd- und mittel- und nordeuropäische Mythologie


Nordeuropa


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Hel (und ihr Hund Garmr), Johannes Gehrts (1889)


Nordische Mythologie

In der nordischen Mythologie kann man drei große Göttinnen erkennen, die für den Tod in einer jeweils spezifischen Form zuständig sind. Freya ist eine der nordischen Wanengöttinnen und gilt (nach Frigg) als zweite Göttin des Pantheons. Auch wenn Frigg für die Erde und Fruchtbarkeit steht, erfüllt Freyja eine ähnliche Aufgabe: Sie wacht über Fólkvangr, ein Feld auf das eine Hälfte der im Krieg/in der Schlacht Gefallenen Menschen nach ihrem Tod geschickt wird (die andere Hälfte kommt zu Odin nach Valhalla). Die See-Göttin Rán fängt alle Ertrunkenen in ihrem Netz und bietet ihnen darin einen Aufenthaltsort für das Leben nach dem Tod. Hel ist die Göttin des Todes und Königin von Helheim, wo alle anderen Toten, die nicht durch Schlacht oder Ertrinken umkommen die Ewigkeit verbringen.  Neben den Göttinnen gibt es drei Schwestern, Nornen genannt, die das Schicksal der Menschen von Geburt zu Tod spinnen. Besonders Freya ist eine sehr bekannte Göttin, die immer wieder Teil von Sagen und Epen ist. Durch die Neuentdeckung des Paganismus taucht sie ab dem 19. Jahrhundert vermehrt in Darstellungen und Literatur auf.

Finnland

Finnland hat eine eigene Götterwelt innerhalb des Paganismus, in der die Göttin für Tod und Verwesung Kalma heißt. Ihr Name leitet sich lose vom Gestank der Leichen ab und fungiert als Basis für das finnische Wort kalmisto (Friedhof). Als Sagenfigur wird sie oft auf eben diesen dargestellt, wo sie als Rauch/Gestankswolke über die Toten wacht. Sie und ihre Familie leben in Tuonela, der finnischen Unterwelt. Wie auch die entsprechende Göttin der nordischen Mythologie, so hat Kalma eine hundeartige Figur bei sich, die Surma (finn. Tod) heißt. Sie tritt im finnischen Nationalepos Kalevala auf.


Mitteleuropa


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The Death of the Grave Digger, Carlos Schwabe (1895)


Keltische Mythologie

Im irischen Teil der keltischen Mythologie gibt es die Geisterkönigin Morrígan, die aus der Anderswelt stammt und eng verknüpft wird mit Krieg, Kampf und Sexualität. In der Sammlung zu mittelirischen Sagen und Geschichten Lebor Gabála Érenn aus dem (Früh)Mittelalter wird sie als eine von drei Schwestern beschrieben, die unter der Göttin Danu dienen. Sie wird auch mit der Göttin Anu gleichgestellt, die für Mutterschaft steht. Als Todbringerin/Todesfigur dient sie in mehreren Sagen, unter anderem in der Erzählung über die Schlacht von Mag Tuired, wo sie den letzten Fir Bolg-König erschlägt. Sie tritt vermehrt als schöne junge Frau, alte Frau, Aal oder Wölfin auf und soll die Heldenfigur zum Scheitern bringen oder gar töten, wie sich in Táin Bó Cuailnge, der wichtigsten Sage des altirischen Ulster-Zyklus, zeigt.

Auch moderne Medien zeigen Morrígan als Todesfigur, wie etwa in der Kriminalkomödie A Dirty Job (Christopher Moore, 2006), wo sie als eine der drei Harpyien (griechische Göttinnen der Unterwelt) die Personifizierung des Todes darstellt. In der Fantasyreihe The Iron Druid Chronicles (Kevin Hearne, 2013) stellt sie ebenfalls eine Todesgöttin dar, diesmal jedoch auch wirklich innerhalb der irischen Mythologie. Die Serie Sanctuary (2008-2011) benennt eine Gruppe von drei Frauen nach ihr, die mithilfe von übernatürlichen Fähigkeiten ganze Menschenmassen auslöschen können. In Videospielen wird ihr Name genutzt (ein Schiff von Shay Cormac in Assassin’s Creed Rogue (2014)) oder ihr eine Figur gegeben, die düster und als Vorahnung des Todes/Todbringerin fungiert wie in Dragon Age: Inquisition (2014) und Smite (2014).

Christentum

Nicht wirklich mitteleuropäisch, wird das Christentum an dieser Stelle trotzdem hier verortet, damit es nicht zwischen den antiken Mythen der Griechen, Römer und Etrusker untergeht.

Schwierig für die Darstellungen im Christentum ist, wie in der Einleitung bereits angedeutet, die monotheistische Natur des Christentums. Anders als in anderen monotheistischen Religionen (soweit mir dies bekannt ist) gibt es zumindest in der Kunst auch hier Interpretationen des weiblich konnotierten Todes. Das Bild zu Beginn des Kapitels zeigt eine dieser Interpretationen, die sich oft in Engelsfiguren manifestieren. Gott selbst ist ein geschlechtloses Wesen, das oft als männlich gelesen wird; die unter ihm Arbeitenden sind jedoch eine andere Sache. Sie werden in der Kunst je nach Sujet dargestellt: Die Engel in der Bibel sind Krieger und werden ebenfalls männlich gelesen, auch wenn sie geschlechtlos auftreten. Sie stehen für gewaltvolle Tode und Krieg. Weiblich gelesene Engel werden mit Schutz verbunden (auch wenn es hier männlich gelesene Versionen gibt) – sie findet man oft auf Grabsteinen. Durch ihr oft kindliches Aussehen ist es schwer, ihnen ein festes Geschlecht zuzuteilen. Die, die man als weiblich lesen kann, stehen für den Schutz der Toten und hüten besonders Kindergräber.

Wie im Bild oben erkennbar ist, gibt es auch weiblich gelesene Engelsdarstellungen, die aktiv die Rolle des Todes (beziehungsweise die Personifizierung von Gott in dieser Rolle) übernehmen. Auch wenn sie in Süd- West- und Nordeuropa eher selten auftreten, gibt es sie. Diese Darstellung von Tod und Engeln wurde in die Amerikas und andere Teile der Welt importiert.

Moderne Umsetzungen dieser Engelfiguren/Todbringer und Gott als geschlechtslos bzw. weiblich lesbar findet man in Serien wie Supernatural (2005-2020), Lucifer (seit 2016) und der Miniserie Good Omens (2019), beziehungsweise dem dazugehörigen Buch (Neil Gaiman, Terry Pratchett, 1990).


Südeuropa


Vanth

Vanth in a fresco in an Etruscan tomb in Tarquinia (~300 v. Chr.), X


Griechische und römische Mythologie

Aufgrund der enormen Ausmaße der griechischen und römischen Mythologie werden diese Gött*innen etwas kürzer dargestellt. (Fast) Alle dieser Figuren sind sich in römischer und griechischer Darstellung gleich, mit Ausnahme des Namens. Die griechische Mythologie wird besonders in den kyklischen Epen von Homer und den Götterepen Hesiods dargestellt. Sie ist seit der Antike fester Bestandteil vieler Dramen, Erzählungen, Lyrik und anderer künstlerischer Darstellungen. Die römische Seite hingegen wird durch die Erzählungen Ovids festgehalten und ist ebenfalls Teil zahlloser literarischer und künstlerischer Aufarbeitungen.

Zunächst die griechischen Todbringer*innen: Die Erinnyen, Furien und Harpyien sind alle Rachegött*innen, beziehungsweise Dämon*innen der Unterwelt, die typisch weiblich oder geschlechtslos dargestellt werden. Ihr Auftreten bedeutet einen nahenden Tod. Keres bezeichnet eine Gruppe an Göttinnen, die für den gewaltvollen Tod und Kriegstod (also den Tod durch die Hand einer anderen Person) stehen. Die Lampaden sind Nymphen der Unterwelt, die der Göttin Hekate den Weg weisen und sie begleiten. Atropos ist eine der drei Moiren, die für das Schicksal zuständig sind. Sie zerschneidet den Lebensfaden und beendet damit das Leben des jeweiligen Menschen.

Die Göttinnen Lethe und Styx sind für die gleichnamigen zwei der sieben Flüsse in der Unterwelt verantwortlich. Styx steht damit für die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. Die Göttin des Hungertods Limos steht Demeter gegenüber, die die Göttin der Fruchtbarkeit ist. Auch sie steht in gewisser Weise für den Tod, beispielsweise wenn es um Kinder, Pflanzentod und den Selbstmord (junger Frauen) geht. Ebenfalls Limos gegenüber steht Macaria, die Göttin des friedlichen (direkt übersetzt heiligen) Todes. Persephone schließlich ist die wohl bekannteste weibliche Personifikation des Todes in der griechischen Mythologie, sie ist die Tochter der Demeter und Frau des Unterweltherrschers Hades. Da sie die Göttin des Frühlings und des Wachstums ist, steht sie nur passiv (aufgrund ihrer Ehe) für den Tod. In der Mythologie wird beschrieben, dass Demeter und Hades sich Persephone zeitlich aufteilen, was die Jahreszeiten in wachsend und frisch (Frühling und Sommer) und sterbend (Herbst und Winter) aufteilt.

Nun zur römischen Seite: (Dea) Tacita, auch (Dea) Muta genannt, ist die Göttin der Stille und des Todes. Morta ist das Äquivalent der Atropos, in den Parzen (gr. Moiren) erfüllt sie die Rolle des kommenden Todes und zerschneidet den Lebensfaden. Die di inferi fassen geschlechtlose Gött*innen und Seelenerscheinungen zusammen, die alle für die Unterwelt stehen oder in Erzählungen zur Unterwelt auftauchen. Lemuren und Manes sind beides die Untoten, die Lemuren stehen spezifisch für die ruhelosen, rachevollen Toten. Beide Gruppen sind geschlechtslos. Libitina, Mania und (Dea) Nenia teilen sich ansonsten die Titel der Todesgöttinnen. Libitina ist für Beerdigungen und Gräber an sich verantwortlich, ihr Abbild wird oft an den Wänden großer Gräber gefunden. Mania ist die Göttin des Todes, die neben Tactia für den Tod an sich steht. Nenia steht ebenfalls für Beerdigungen, ist jedoch seltener in Bildform vertreten als Libitina. Proserpina ist die römische Version der Persephone und die Herrscherin der Unterwelt.

Etruskische Mythologie

In der etruskischen Mythologie gibt es viele Überschneidungen zu den römischen und griechischen Gött*innen. Die Dämoninnen Vanth und Culga bieten eine Ausnahme, da es für sie keine Entsprechung in anderen Religionen gibt. Sie sind Teil der etruskischen Unterwelt und bewachen als Statuen oder Wandmalereien die Toten im ehemals etruskischen Gebiet. Sie findet man dementsprechend besonders häufig in der Grabmalkunst dargestellt, wie etwa bei Grabeingängen oder Sarkophagen ab 400 v. Chr., der Hochzeit für etruskische Kunst. Varth wird bereits vor dieser Zeit in Inschriften genannt, jedoch nicht explizit dargestellt, soweit die aktuelle Forschung dies einschätzen kann.

Auch wenn sie keine direkten Gegenspielerinnen haben, werden sie (besonders in der älteren Forschung) oft mit den griechischen Furien, Harpyien und Erinnyen gleichgesetzt. Seit einigen Jahren ist aus den Inschriften bekannt, dass sie eher hilfreich, als bösartig dargestellt wurden, weshalb die neuere Forschung diesen Vergleich nicht mehr vornimmt. Besonders Vanth ist als Leiterin der Toten bekannt; die in ihrer Ikonografie oft auftretende Fackel, der Schlüssel und/oder die Schriftrolle sollen ihr dabei helfen, die Toten sicher durch die Unterwelt zu führen. Ihre Bekleidung ist die einer Jägerin, mit bloßen Oberkörper, kurzem Chiton, Fellstiefeln und den gekreuzten Lederstriemen über der Brust, die einen Köcher halten.

Sie wird bildlich mit der Schlacht von Troja verknüpft und taucht auch in anderen Darstellungen von Schlachten auf – selten zum Zeitpunkt des tatsächlichen Todes, sondern vielmehr direkt danach, wie sie die Seelen fortführt.

Mania, die Göttin der Toten, regiert mit ihrem Mann Mantus die etruskische Unterwelt. Sie gilt als Mutter der Geister, Untoten und Dämon*innen. Unter ihr Leben die geschlechtlosen Mani, die Geister Verstorbener. Anders als in der griechischen Mythologie steht sie nicht für Wahnsinn und Insania, sondern für dämonische Macht und Chaos. Sie wird in der Forschung als Ergebnis einiger antiker Gelehrter (wie Marcus Terentius Varro) betrachtet, da die Überlieferungen und tatsächlichen Inschriften sehr selten und die wenigen, die es gibt, umstritten sind.

Statt einer ‚realen‘ Figur in der Mythologie wird sie als Personifizierung eines Festbrauches der Compitalien gesehen, bei dem eine kleine Puppe aus Wolle namens Maniae für die Lares und Manes an den Wegkreuzungen aufgehängt wurde. Diese Puppen sollten (so Macrobius) die Menschenopfer des letzten römischen Königs Tarquinius Superbus ersetzen. Das Orakel von Delphi forderte das Opfer von (kindlichen) ‚Häuptern‘, die durch den ersten römischen Konsul Lucius Iunius Brutus durch Knoblauchknollen, Mohnköpfe und eben diesen Puppen ersetzt wurden. Sie wurden auch zur Abwehr von Bösem über Türen gehängt. Ihre Figur steht also vielmehr für den Ersatz von Tod. Durch das unheimliche Aussehen der Puppen etablierte sich der Begriff Maniae auch als Bezeichnung für Schreckgespenster.


Der weibliche Tod in Osteuropa und Westasien


Osteuropa


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Nāve (Tod), Janis Rozentāls (1897)


In Osteuropa gibt es zahlreiche paganische Dämon*innen und Gött*innen, die für den Tod stehen und/oder ihn bringen. Im Folgenden können nicht alle aufgezählt werden, da jedes Land mehrere hat, die sich teilweise überschneiden und durch christlichen Einfluss weiterentwickelt wurden.

Lettland 

Die Göttin Māra ist die wichtigste Göttin der lettischen Mythologie. Sie steht für Mutter Erde und nimmt die Körper (nicht die Seelen) der Verstorbenen nach ihrem Tod. Andere lettische Göttinnen werden zu alternativen Versionen von ihr stilisiert oder als ihre Assistentinnen dargestellt. Sie ist die Schutzgöttin der Frauen und ihrer traditionellen Aufgaben (wie Kinder bekommen/aufziehen und Kühe umsorgen), sowie aller essbaren ökonomischen Erzeugnisse (Brot, Milch, etc.) und des Geldes und des Markts. Nach der Christianisierung von Lettland wurde sie mit Maria gleichgesetzt.

Litauen

Giltinė ist die Göttin des Todes und dafür verantwortlich die Seelen von Verstorbenen (Vėlės) einzusammeln. Einer der vielen anderen Namen für sie ist Maras, was so viel bedeutet wie schwarzer Tod oder Pest. Sie wird als Schwester/Gegensatz von Laima, der Göttin des Glücks, dargestellt.

Dalia ist die Göttin des Schicksals und des Webens. Sie ersetzt zusammen mit einigen anderen Göttinnen die Moiren/Parzen aus der röm./gr. Mythologie, die im litauischen Deivės Valdytojos heißen. Sie fertigen Gewänder aus den Leben der Menschen und sind insgesamt nicht drei, sondern sieben Schwestern. Mit ihnen verbunden wird Laima, die neben der Göttin des Glücks auch die Schutzpatronin der schwangeren Frauen ist und für den Tod dieser Frauen und/oder ihrer Kinder verantwortlich ist. Ihr zur Hilfe steht Ragana, eine alte Frau die oft als Hexe bezeichnet wird. Ihr wird nachgesagt, dass sie in Wäldern lebt und dort Tränke und Kräuterheilmittel braut, die besonders werdende Mütter vor Unheil schützen.

Überschneidungen und Dopplungen

Fast alle der oben genannten Dämon*innen und Gött*innen gibt es auch im Russischen, Rumänischen, Polnischen, Tschechischen, Ungarischen, Estischen und allen anderen slavischen Ländern. Sie decken sich ebenfalls mit vielen persischen, türkischen und hindu Erscheinungen und Gött*innen, jeweils unter anderen Namen und mit kleinsten Variationen. Ein Beispiel ist die Göttin Marzanna (Polnisch, Marena (Russ.), Morana (Tschech./Bulgar./Sloven./Serbo-Kroat.), Morena/Kyselica (Slovak.), Morena (Mazedon.), Mara (Belar./Ukrain.), Maržena (Lit./Rumän.))

Marzanna ist eine slavische Göttin, die für den Winter, die Kälte, den Tod und die Neugeburt steht. Sie stirbt in slavischen Mythen am Ende des Winters und wird im Frühling als Göttin des Frühjahrs (Kostroma/Lada/Vesna) wiedergeboren.

In modernen Ritualen hat sie ihren heiligen Charakter verloren; ihre Legende wird in manchen (oft kleineren) Orten genutzt, um ein Frühlingsfest zu veranstalten. Eine Puppe von Marzanna oder Marzanoik (ihrem männlichen Gegenpart) wird von den Bewohnern zum nächsten Teich, See oder Fluss gebracht und dort in das Wasser getaucht. Manchmal wird sie davor auch angezündet. Die Menschen feiern mit dem symbolischen Tod der Marzanna das Ende des Winters.

Andere allgemein-slavische Göttinnen die den Tod darstellen und/oder ihn bringen sind die Jägergöttin Ciza, die Göttin der Fruchtbarkeit und der Zwillinge Lada, die Göttin der Zeit Chislobog, die Göttin der Beerdigungen Karna, die Göttin des Feuers und des Herzens Matergabia und die geschlechtslose Gottheit Veliona, die allgemein für Tod und Sterben steht und die Seelen der Ahnen hütet.


Westasien


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Queen of the Night Relief (~1792-1750 v. Chr.)


In der Türkei und anderen Teilen (Nord)Westasiens sind die primären Gottheiten des Todes männlich konnotiert – die Mythen überschneiden sich jedoch großflächig mit denen Osteuropas.

Mesopotamien

Die Göttin Ereshkigal regiert in der mesopotamischen Mythologie Kur, das Reich der Toten. Sie stammt vermutlich aus dem sumerischen Glauben. In späteren semitischen Mythologien wird sie Irkalla genannt, passend zu dem Land Irkalla, was sie mit ihrem Mann Nergal regiert. Im oben gezeigten Burney Relief (auch Königin der Nacht genannt, ~1792-1750 v. Chr.) sieht man, was oft als Ikonografie der Ereshkigal gesehen wird – sicher kann man sich jedoch nicht sein. Forscher interpretieren das Relief auch als Bildniss ihrer Schwester Inanna oder des Dämons Lilith.

In manchen Versionen des Glaubens regiert sie alleine, ohne einen Mann an ihrer Seite. Passend dazu ist sie generell auch die einzige Göttin in der Mythologie, die Schuld vergeben und erlassen kann. Es gibt einige sumerische Gedichte, wie etwa Inanna’s Descent to the Underworld (~1900-1600 v. Chr.), in denen ihre Rolle als Inannas große Schwester und Göttin der Unterwelt beschrieben wird. Mehr Informationen zum Gedicht und anderen Nennungen findet ihr hier (engl.) – diese Zivilisation gehört zu den ältesten der Menschheit und die Göttin steht im Zentrum davon. Es lohnt sich also sehr, mehr über sie zu erfahren.

Kaukasien

Die Forschung ist sich unsicher, inwiefern es einmal eine gesamt-kaukasische Religion gab. Daher sind die Gottheiten bislang in die Mythen der Osseten und Nakh unterteilt. Die Namen und Aufgaben der Göttinnen sind sich jedoch sehr ähnlich, so ist Satana bei den Osseten und Sata bei den Nakhs jeweils die Muttergöttin, die das Volk schuf und auch für ihren Tod verantwortlich ist. Sie ist zudem für weibliche Arbeit, Schwangerschaft und Kinder verantwortlich. Die Nakhs kennen zudem noch die Fruchtbarkeitsgöttin Tusholi. Es wird in der Forschung untersucht, ob zwischen beiden Mythologien eine gemeinsame Jagdgöttin existiert, die für den Tod der Tiere steht.


Literatur

Raymond Ian Page: Nordische Mythen: Eine Einführung. (2018)

Leea Virtanen/Thomas Andrew DuBois: Finnish folklore. (2000)

Elfriede Paschinger: Die etruskische Todesgöttin Vanth. (1992)

Wolfgang Fauth: Römische Religion im Spiegel der ‚Fasti‘ des Ovid. (1978)

Ernst Tabeling: Mater Larum. Zum Wesen der Larenreligion. (1975)

Jeremy Black/Anthony Green: Gods, Demons and Symbols of Ancient Mesopotamia. (2004)

Anna Chaudhri: The Causcasian hunting-divinity, male and female: traces of the hunting-goddess in Ossetic folklore. (1996)

 

Psychiatriestigmen in unserer Gesellschaft

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Psychiatriestigmen in unserer Gesellschaft


TW: Mentale Gesundheit, politisch fragwürdige Wortwahl zur Illustration des Problems


Hallo und herzlich willkommen im Büchnerwald. Heute möchte ich mit euch über ein wichtiges Thema sprechen: den Stigmen gegenüber Psychiatrien, die wir auch im Jahr 2018 noch haben.

Was sind die Stigmen?

Wenn wir heute in Büchern, Serien, Filmen oder im Alltag über Psychiatrien sprechen, dominieren oft Horrorvorstellungen. Leblose Menschen in Stühlen, ‚irres‘ Lachen, Gefahr und Schmutz und kalte Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, die die Patient*innen unheimlich finden oder selber böse sind.

Eingewiesene Menschen sind der trockene Witz am Ende. Sie werden entweder als extrem hilfsbedürftig oder als gefährlich betrachtet. Die armen dummen „Irren“, die sich nicht wehren können und die „Gestörten“, von denen man froh ist, dass sie weggesperrt sind.

Woher kommen diese Stigmen?

Gerade wenn man sich die Popkultur ansieht, wird der Appeal of Horror deutlich. Wir wollen abstoßende Geschichten über kranke Personen, wir schauen uns Filme wie Gothika und Serien wie American Horror Story an. Und wir adaptieren die Darstellungen für uns.

Dabei sind diese Vorstellungen schon so in unserem Kopf und werden durch diese Medien bestärkt. Einer flog übers Kuckucksnest, American Psycho, Supernatural, Alice im Wunderland, Psycho, The Shining, Lucius – egal ob Bücher, Musik, Theater, Spiel oder Film/Serie. Unsere Vorstellung von psychischen Krankheiten und Psychiatrien ist – um ehrlich zu sein – extrem verzerrt.

Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich selbst Stereotypen über diese Dinge in der Popkultur konsumiere, ohne sie zu kritisieren. Eben weil Menschen es interessant finden, mit Horror konfrontiert zu werden. Und was ist schon aufregender, abstoßender und interessanter als Horrorgeschichten über Anstalten?

Zumal nicht alle Medien es so schlecht machen. Klar perpetuiert American Horror Story gewisse Stereotypen, es gibt jedoch ein gutes Bild über den Status unseres Gesundheitssystems in den 50er/60ern ab. Wir haben eine ekelhafte Geschichte, wenn es darum geht Menschen wegzusperren.

Homosexualität, körperliche/mentale Einschränkung, die falsche Religion, Hautfarbe, Abstammung oder Einstellung – auch nach dem Nationalsozialismus haben wir nicht aufgehört, Menschen zu Unrecht einzuweisen und sie dann zu ignorieren. Machtausübung der Heime und allgemeines Desinteresse der Öffentlichkeit resultierten in furchtbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Aber wir befinden uns nicht mehr in den 60ern. Unsere dauerhaft rückblickende Sichtweise auf diese Thematik stört uns, die Dinge so zu sehen wie sie heute sind. Menschen, die sich Hilfe suchen brauchen die Unterstützung der Gesellschaft.

Wem schaden die Stigmen?

Und da sind wir schon beim wichtigsten Punkt: Wem schadet das eigentlich? Die Antwort ist einfach und kompliziert zu gleich, denn diese Stereotypen schaden uns allen.

Sich selbst einzugestehen, dass man Hilfe benötigt und die Realisation, dass Therapie etwas Gutes ist, sind wichtige Schritte für viele Menschen. Es gibt noch immer so viel Ableismus und Ageismus in der alltäglichen Sprache. So viele Stigmen, so viel Hass und Unverständnis. Erst wenn wir all das hinter uns lassen erhalten wir eine Gesellschaft, in der man sich nicht dafür schämt, Hilfe zu benötigen. Mobbing und Vorurteile bei Jobinterviews sind alltägliche Vorkommnisse für manche. Aktionen, in denen sich über Kliniken lustig gemacht wird, bestärken das.

Sie verharmlosen aber auch das Leider derer, die früher wirklich gelitten haben. Wenn man heutige Institutionen für mentale Gesundheit mit Anstalten aus den 60ern gleichsetzt, was sagt das dann über die Menschen aus, die früher tatsächlich gegen ihren Willen eingesperrt wurden? Und was sagt man damit über moderne Einrichtungen, die sich darauf konzentrieren Menschen zu helfen? Und über diejenigen, die einen sehr harten Job bewältigen, um anderen zu ermöglichen, ein besseres Leben zu leben.

Haha! Lass dich für eine Nacht in eine Anstalt sperren und gewinne ein Buch lol! Richtig unterhaltsam!

Sebastian Fitzek machte 2018 Schlagzeilen mit seiner Werbung für sein Buch „Der Insasse“. Es gab ein Preisausschreiben, in dem eine Nacht in einer Anstalt verlost wurde. Dieser Umgang mit dem Thema illustriert genau das Problem, was ich in diesem Artikel anspreche. Sein Buch weist zudem mehrere Recherchefehler auf. Wenn man als Autor schon Horror in einer psychiatrischen Einrichtung umsetzen möchte, dann doch bitte in der richtigen Zeit und korrekt recherchiert. Bilder von Lobotomien und Zwangsbädern bei viel zu hohen Temperaturen haben nichts im 21. Jahrhundert zu suchen.

Die Realität

Warum ist mir das so wichtig, dass ich alles stehen und liegen lasse, um direkt einen Artikel darüber zu schreiben? Weil die Realität anders aussieht, als das, was sich die meisten Menschen darunter vorstellen. Menschen weisen sich in der Regel selbst ein, der Aufenthalt ist zeitlich beschränkt (es gibt natürlich Ausnahmen, aber 2-3 Monate sind ein guter Grundwert) und das Wichtigste: Kliniken sind in erster Linie ein sicherer Ort, an dem Menschen loslassen können, um wirklich in Kontakt mit ihrer Krankheit zu kommen und Techniken zu lernen, im Alltag mit ihr klarzukommen. Eine Klinik ist keine Endlösung oder ein Ort, an den man einfach abgeschoben werden kann.

Ich selbst war als Kind (genauer, als ich 12 war) in einer psychiatrischen Klinik. Die Umstände, wie ich dazu gekommen bin, sind hier unwichtig. Die Erfahrung an sich ist so viel mehr, als nur gut oder nur schlecht.

Als Kind hat man keine Kontrolle darüber, ob man dort sein möchte oder nicht. Deswegen kam ich mir am Anfang furchtbar alleine vor. Besuchszeiten tun weh, weil man gerade als junger Mensch mehr Kontakt mit der Familie braucht, als 2-3h die Woche. Die Bettzeiten und starken Beschränkungen (man muss sich Privilegien wie Spielzeiten im Garten oder Besuche in nahegelegenen Supermärkten verdienen) sind ebenfalls gewöhnungsbedürftig.

Für mich war es allerdings eine wichtige Erfahrung. Mit anderen Menschen zusammen zu sein, die ebenfalls Depressionen und soziale Ängste haben, tut so gut. Man wird von niemandem verurteilt. Es gibt reguläre Therapiestunden mit einer Psychologin, Gruppentherapie, die alles sein kann (von im Kreis sitzen und miteinander sprechen zu einem Besuch in der Kletterhalle), Kunsttherapie, Massagetherapie und Musiktherapie.

Mir wurde außerdem ermöglicht zu schreiben. Talente fördern, Selbstbewusstsein aufbauen, lernen das man nicht seltsam ist, sondern einfach man selbst. Lernen, wie man damit umgeht, dass es einem manchmal nicht gut geht und das es okay ist, anderen Menschen die eignen Grenzen mitzuteilen.

Ich war für 2 ½ Monate dort und habe so viel mitgenommen, was ich noch heute in mir sehe. Die Erfahrung hat mir so geholfen und trotzdem musste ich mir von Klassenkameraden Sprüche anhören. Sehr schlimme Sprüche. Ich war der „Psycho“ und „Weirdo“ und alles, was ich mir in der Zeit in der Klinik erarbeitet habe, ging wieder kaputt. Weil diese Kinder lernen, dass „Irrenhäuser“, „Klapsen“ und „Klapsmühlen“ gruselige Orte sind für Menschen, die gefährlich und seltsam sind und keinen Platz in der Gesellschaft haben.

Das kann so nicht weitergehen

Wann sind wir endlich an einem Punkt angekommen, an dem psychische Krankheiten in unserer Gesellschaft nicht entweder nonexistent oder extrem negativ besetzt sind? Wann kommt der Punkt, an dem Menschen sich nicht mehr dafür schämen müssen, Hilfe zu brauchen, um mit sich selbst klar zu kommen?

Wir müssen zu diesem Punkt kommen, und zwar schnell. Denn jeder Tag, der vergeht, an dem ein Kind für die Therapie gemobbt wird oder an dem sich jemand gegen einen Klinikaufenthalt entscheidet, weil die Person Angst vor dem Backlash hat, ist einer zu viel.

Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der sich Hilfe suchen etwas Gutes ist und in der sich nicht darüber lustig gemacht wird, in dem man so tut, als wären Kliniken der selber Horror, der sie vor 80 Jahren waren.