Der Tod als Frau I – Einführung, Europa und Westasien

  Der Tod als Frau I Eine historisch-medienkulturelle Analyse Einführung, Europa und Westasien TW: Tod, Kindstod Disclaimer: Alle Beispiele in diesem Text wurden exemplarisch für die jeweilige Region gewählt, es herrscht keinesfalls ein Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund der teilweise sehr vielen/wenigen Literatur, kann es zu Unstimmigkeiten kommen. Sollte sich ein Fehler einschleichen bitte ich darum […]

 

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Der Tod als Frau I

Eine historisch-medienkulturelle Analyse

Einführung, Europa und Westasien

Teil 2 | Teil 3


TW: Tod, Kindstod


Disclaimer: Alle Beispiele in diesem Text wurden exemplarisch für die jeweilige Region gewählt, es herrscht keinesfalls ein Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund der teilweise sehr vielen/wenigen Literatur, kann es zu Unstimmigkeiten kommen. Sollte sich ein Fehler einschleichen bitte ich darum diesen respektvoll in den Kommentaren anzumerken. Alle Kommentare, die die in diesem Text genannte Kulturen und Religionen angreifen/beleidigen, werden gelöscht.

Im Folgenden wird der Tod als weiblich gelesene Figur diskutiert. Da in der Literatur und den Quellen zu den Kulturen/Religionen generell von ‚Frauen‘ die Rede ist, wird dies hier übernommen. In einzelnen Fällen gibt es geschlechtsfreie/nicht binäre Entitäten, die (sofern dies aus den Quellen abzulesen ist) dementsprechend benannt werden.


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Religion und der weibliche Tod


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Death and the Dancer, Joshua Gleadah (1822)


Möchte man eine Betrachtung des weiblich konnotierten Todes in Medien und Kultur vornehmen, so muss zuvor geklärt werden, woher diese Darstellungen kommen. Ein Großteil (wenn nicht sogar alle) der (weiblichen) Todesfiguren besitzen in irgendeiner Weise religiöse oder religiös-kulturelle Hintergründe. Die meisten davon kann man unter Polytheismus verzeichnen, da ein komplexes Gött*innensystem mehr Platz für weibliche Figuren lässt. In den monotheistischen Darstellungen handelt es sich bei den weiblichen/nicht binären Wesen eher um Zwischenbot*innen oder künstlerisch-frei interpretierten Versionen der nicht zu bestimmenden Gött*innenfigur, die in diesem Fall sowohl für Leben als auch für den Tod zuständig ist.

Die nicht-religiösen Darstellungen drehen sich um Legenden und Figuren, die in einer entfernten Verwandtschaft zur Religion stehen oder zumindest einem kulturellen Volksglauben entspringen. In der Moderne wandelt(e) sich dies, nun kann Tod auch fern von Religion existieren. Aufgrund der Konnotation von Tod und Religion lassen sie sich jedoch nie ganz voneinander trennen.

Außerhalb des Monotheismus stehen die weiblichen/ nicht binären Gött*innen des Todes oft für Erde, Fruchtbarkeit und Mutterschaft, was ihnen eine spezifische Rolle in den Todesdarstellungen einbringt: Das Zurückkehren zur Erde, der friedliche Tod, das Sterben von Kindern/Müttern. Der männliche Part dieser Darstellung steht hingegen für den brutalen Kriegstod oder andere Arten des gewaltvollen Sterbens. Diese beiden Versionen des Todes werden im jeweiligen Glauben/der jeweiligen Kultur oft als Geschwister und/oder Ehepaar vergegenwärtigt. Natürlich gibt es hier Ausnahmen, die im Folgenden als solche markiert werden.


Die süd- und mittel- und nordeuropäische Mythologie


Nordeuropa


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Hel (und ihr Hund Garmr), Johannes Gehrts (1889)


Nordische Mythologie

In der nordischen Mythologie kann man drei große Göttinnen erkennen, die für den Tod in einer jeweils spezifischen Form zuständig sind. Freya ist eine der nordischen Wanengöttinnen und gilt (nach Frigg) als zweite Göttin des Pantheons. Auch wenn Frigg für die Erde und Fruchtbarkeit steht, erfüllt Freyja eine ähnliche Aufgabe: Sie wacht über Fólkvangr, ein Feld auf das eine Hälfte der im Krieg/in der Schlacht Gefallenen Menschen nach ihrem Tod geschickt wird (die andere Hälfte kommt zu Odin nach Valhalla). Die See-Göttin Rán fängt alle Ertrunkenen in ihrem Netz und bietet ihnen darin einen Aufenthaltsort für das Leben nach dem Tod. Hel ist die Göttin des Todes und Königin von Helheim, wo alle anderen Toten, die nicht durch Schlacht oder Ertrinken umkommen die Ewigkeit verbringen.  Neben den Göttinnen gibt es drei Schwestern, Nornen genannt, die das Schicksal der Menschen von Geburt zu Tod spinnen. Besonders Freya ist eine sehr bekannte Göttin, die immer wieder Teil von Sagen und Epen ist. Durch die Neuentdeckung des Paganismus taucht sie ab dem 19. Jahrhundert vermehrt in Darstellungen und Literatur auf.

Finnland

Finnland hat eine eigene Götterwelt innerhalb des Paganismus, in der die Göttin für Tod und Verwesung Kalma heißt. Ihr Name leitet sich lose vom Gestank der Leichen ab und fungiert als Basis für das finnische Wort kalmisto (Friedhof). Als Sagenfigur wird sie oft auf eben diesen dargestellt, wo sie als Rauch/Gestankswolke über die Toten wacht. Sie und ihre Familie leben in Tuonela, der finnischen Unterwelt. Wie auch die entsprechende Göttin der nordischen Mythologie, so hat Kalma eine hundeartige Figur bei sich, die Surma (finn. Tod) heißt. Sie tritt im finnischen Nationalepos Kalevala auf.


Mitteleuropa


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The Death of the Grave Digger, Carlos Schwabe (1895)


Keltische Mythologie

Im irischen Teil der keltischen Mythologie gibt es die Geisterkönigin Morrígan, die aus der Anderswelt stammt und eng verknüpft wird mit Krieg, Kampf und Sexualität. In der Sammlung zu mittelirischen Sagen und Geschichten Lebor Gabála Érenn aus dem (Früh)Mittelalter wird sie als eine von drei Schwestern beschrieben, die unter der Göttin Danu dienen. Sie wird auch mit der Göttin Anu gleichgestellt, die für Mutterschaft steht. Als Todbringerin/Todesfigur dient sie in mehreren Sagen, unter anderem in der Erzählung über die Schlacht von Mag Tuired, wo sie den letzten Fir Bolg-König erschlägt. Sie tritt vermehrt als schöne junge Frau, alte Frau, Aal oder Wölfin auf und soll die Heldenfigur zum Scheitern bringen oder gar töten, wie sich in Táin Bó Cuailnge, der wichtigsten Sage des altirischen Ulster-Zyklus, zeigt.

Auch moderne Medien zeigen Morrígan als Todesfigur, wie etwa in der Kriminalkomödie A Dirty Job (Christopher Moore, 2006), wo sie als eine der drei Harpyien (griechische Göttinnen der Unterwelt) die Personifizierung des Todes darstellt. In der Fantasyreihe The Iron Druid Chronicles (Kevin Hearne, 2013) stellt sie ebenfalls eine Todesgöttin dar, diesmal jedoch auch wirklich innerhalb der irischen Mythologie. Die Serie Sanctuary (2008-2011) benennt eine Gruppe von drei Frauen nach ihr, die mithilfe von übernatürlichen Fähigkeiten ganze Menschenmassen auslöschen können. In Videospielen wird ihr Name genutzt (ein Schiff von Shay Cormac in Assassin’s Creed Rogue (2014)) oder ihr eine Figur gegeben, die düster und als Vorahnung des Todes/Todbringerin fungiert wie in Dragon Age: Inquisition (2014) und Smite (2014).

Christentum

Nicht wirklich mitteleuropäisch, wird das Christentum an dieser Stelle trotzdem hier verortet, damit es nicht zwischen den antiken Mythen der Griechen, Römer und Etrusker untergeht.

Schwierig für die Darstellungen im Christentum ist, wie in der Einleitung bereits angedeutet, die monotheistische Natur des Christentums. Anders als in anderen monotheistischen Religionen (soweit mir dies bekannt ist) gibt es zumindest in der Kunst auch hier Interpretationen des weiblich konnotierten Todes. Das Bild zu Beginn des Kapitels zeigt eine dieser Interpretationen, die sich oft in Engelsfiguren manifestieren. Gott selbst ist ein geschlechtloses Wesen, das oft als männlich gelesen wird; die unter ihm Arbeitenden sind jedoch eine andere Sache. Sie werden in der Kunst je nach Sujet dargestellt: Die Engel in der Bibel sind Krieger und werden ebenfalls männlich gelesen, auch wenn sie geschlechtlos auftreten. Sie stehen für gewaltvolle Tode und Krieg. Weiblich gelesene Engel werden mit Schutz verbunden (auch wenn es hier männlich gelesene Versionen gibt) – sie findet man oft auf Grabsteinen. Durch ihr oft kindliches Aussehen ist es schwer, ihnen ein festes Geschlecht zuzuteilen. Die, die man als weiblich lesen kann, stehen für den Schutz der Toten und hüten besonders Kindergräber.

Wie im Bild oben erkennbar ist, gibt es auch weiblich gelesene Engelsdarstellungen, die aktiv die Rolle des Todes (beziehungsweise die Personifizierung von Gott in dieser Rolle) übernehmen. Auch wenn sie in Süd- West- und Nordeuropa eher selten auftreten, gibt es sie. Diese Darstellung von Tod und Engeln wurde in die Amerikas und andere Teile der Welt importiert.

Moderne Umsetzungen dieser Engelfiguren/Todbringer und Gott als geschlechtslos bzw. weiblich lesbar findet man in Serien wie Supernatural (2005-2020), Lucifer (seit 2016) und der Miniserie Good Omens (2019), beziehungsweise dem dazugehörigen Buch (Neil Gaiman, Terry Pratchett, 1990).


Südeuropa


Vanth

Vanth in a fresco in an Etruscan tomb in Tarquinia (~300 v. Chr.), X


Griechische und römische Mythologie

Aufgrund der enormen Ausmaße der griechischen und römischen Mythologie werden diese Gött*innen etwas kürzer dargestellt. (Fast) Alle dieser Figuren sind sich in römischer und griechischer Darstellung gleich, mit Ausnahme des Namens. Die griechische Mythologie wird besonders in den kyklischen Epen von Homer und den Götterepen Hesiods dargestellt. Sie ist seit der Antike fester Bestandteil vieler Dramen, Erzählungen, Lyrik und anderer künstlerischer Darstellungen. Die römische Seite hingegen wird durch die Erzählungen Ovids festgehalten und ist ebenfalls Teil zahlloser literarischer und künstlerischer Aufarbeitungen.

Zunächst die griechischen Todbringer*innen: Die Erinnyen, Furien und Harpyien sind alle Rachegött*innen, beziehungsweise Dämon*innen der Unterwelt, die typisch weiblich oder geschlechtslos dargestellt werden. Ihr Auftreten bedeutet einen nahenden Tod. Keres bezeichnet eine Gruppe an Göttinnen, die für den gewaltvollen Tod und Kriegstod (also den Tod durch die Hand einer anderen Person) stehen. Die Lampaden sind Nymphen der Unterwelt, die der Göttin Hekate den Weg weisen und sie begleiten. Atropos ist eine der drei Moiren, die für das Schicksal zuständig sind. Sie zerschneidet den Lebensfaden und beendet damit das Leben des jeweiligen Menschen.

Die Göttinnen Lethe und Styx sind für die gleichnamigen zwei der sieben Flüsse in der Unterwelt verantwortlich. Styx steht damit für die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. Die Göttin des Hungertods Limos steht Demeter gegenüber, die die Göttin der Fruchtbarkeit ist. Auch sie steht in gewisser Weise für den Tod, beispielsweise wenn es um Kinder, Pflanzentod und den Selbstmord (junger Frauen) geht. Ebenfalls Limos gegenüber steht Macaria, die Göttin des friedlichen (direkt übersetzt heiligen) Todes. Persephone schließlich ist die wohl bekannteste weibliche Personifikation des Todes in der griechischen Mythologie, sie ist die Tochter der Demeter und Frau des Unterweltherrschers Hades. Da sie die Göttin des Frühlings und des Wachstums ist, steht sie nur passiv (aufgrund ihrer Ehe) für den Tod. In der Mythologie wird beschrieben, dass Demeter und Hades sich Persephone zeitlich aufteilen, was die Jahreszeiten in wachsend und frisch (Frühling und Sommer) und sterbend (Herbst und Winter) aufteilt.

Nun zur römischen Seite: (Dea) Tacita, auch (Dea) Muta genannt, ist die Göttin der Stille und des Todes. Morta ist das Äquivalent der Atropos, in den Parzen (gr. Moiren) erfüllt sie die Rolle des kommenden Todes und zerschneidet den Lebensfaden. Die di inferi fassen geschlechtlose Gött*innen und Seelenerscheinungen zusammen, die alle für die Unterwelt stehen oder in Erzählungen zur Unterwelt auftauchen. Lemuren und Manes sind beides die Untoten, die Lemuren stehen spezifisch für die ruhelosen, rachevollen Toten. Beide Gruppen sind geschlechtslos. Libitina, Mania und (Dea) Nenia teilen sich ansonsten die Titel der Todesgöttinnen. Libitina ist für Beerdigungen und Gräber an sich verantwortlich, ihr Abbild wird oft an den Wänden großer Gräber gefunden. Mania ist die Göttin des Todes, die neben Tactia für den Tod an sich steht. Nenia steht ebenfalls für Beerdigungen, ist jedoch seltener in Bildform vertreten als Libitina. Proserpina ist die römische Version der Persephone und die Herrscherin der Unterwelt.

Etruskische Mythologie

In der etruskischen Mythologie gibt es viele Überschneidungen zu den römischen und griechischen Gött*innen. Die Dämoninnen Vanth und Culga bieten eine Ausnahme, da es für sie keine Entsprechung in anderen Religionen gibt. Sie sind Teil der etruskischen Unterwelt und bewachen als Statuen oder Wandmalereien die Toten im ehemals etruskischen Gebiet. Sie findet man dementsprechend besonders häufig in der Grabmalkunst dargestellt, wie etwa bei Grabeingängen oder Sarkophagen ab 400 v. Chr., der Hochzeit für etruskische Kunst. Varth wird bereits vor dieser Zeit in Inschriften genannt, jedoch nicht explizit dargestellt, soweit die aktuelle Forschung dies einschätzen kann.

Auch wenn sie keine direkten Gegenspielerinnen haben, werden sie (besonders in der älteren Forschung) oft mit den griechischen Furien, Harpyien und Erinnyen gleichgesetzt. Seit einigen Jahren ist aus den Inschriften bekannt, dass sie eher hilfreich, als bösartig dargestellt wurden, weshalb die neuere Forschung diesen Vergleich nicht mehr vornimmt. Besonders Vanth ist als Leiterin der Toten bekannt; die in ihrer Ikonografie oft auftretende Fackel, der Schlüssel und/oder die Schriftrolle sollen ihr dabei helfen, die Toten sicher durch die Unterwelt zu führen. Ihre Bekleidung ist die einer Jägerin, mit bloßen Oberkörper, kurzem Chiton, Fellstiefeln und den gekreuzten Lederstriemen über der Brust, die einen Köcher halten.

Sie wird bildlich mit der Schlacht von Troja verknüpft und taucht auch in anderen Darstellungen von Schlachten auf – selten zum Zeitpunkt des tatsächlichen Todes, sondern vielmehr direkt danach, wie sie die Seelen fortführt.

Mania, die Göttin der Toten, regiert mit ihrem Mann Mantus die etruskische Unterwelt. Sie gilt als Mutter der Geister, Untoten und Dämon*innen. Unter ihr Leben die geschlechtlosen Mani, die Geister Verstorbener. Anders als in der griechischen Mythologie steht sie nicht für Wahnsinn und Insania, sondern für dämonische Macht und Chaos. Sie wird in der Forschung als Ergebnis einiger antiker Gelehrter (wie Marcus Terentius Varro) betrachtet, da die Überlieferungen und tatsächlichen Inschriften sehr selten und die wenigen, die es gibt, umstritten sind.

Statt einer ‚realen‘ Figur in der Mythologie wird sie als Personifizierung eines Festbrauches der Compitalien gesehen, bei dem eine kleine Puppe aus Wolle namens Maniae für die Lares und Manes an den Wegkreuzungen aufgehängt wurde. Diese Puppen sollten (so Macrobius) die Menschenopfer des letzten römischen Königs Tarquinius Superbus ersetzen. Das Orakel von Delphi forderte das Opfer von (kindlichen) ‚Häuptern‘, die durch den ersten römischen Konsul Lucius Iunius Brutus durch Knoblauchknollen, Mohnköpfe und eben diesen Puppen ersetzt wurden. Sie wurden auch zur Abwehr von Bösem über Türen gehängt. Ihre Figur steht also vielmehr für den Ersatz von Tod. Durch das unheimliche Aussehen der Puppen etablierte sich der Begriff Maniae auch als Bezeichnung für Schreckgespenster.


Der weibliche Tod in Osteuropa und Westasien


Osteuropa


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Nāve (Tod), Janis Rozentāls (1897)


In Osteuropa gibt es zahlreiche paganische Dämon*innen und Gött*innen, die für den Tod stehen und/oder ihn bringen. Im Folgenden können nicht alle aufgezählt werden, da jedes Land mehrere hat, die sich teilweise überschneiden und durch christlichen Einfluss weiterentwickelt wurden.

Lettland 

Die Göttin Māra ist die wichtigste Göttin der lettischen Mythologie. Sie steht für Mutter Erde und nimmt die Körper (nicht die Seelen) der Verstorbenen nach ihrem Tod. Andere lettische Göttinnen werden zu alternativen Versionen von ihr stilisiert oder als ihre Assistentinnen dargestellt. Sie ist die Schutzgöttin der Frauen und ihrer traditionellen Aufgaben (wie Kinder bekommen/aufziehen und Kühe umsorgen), sowie aller essbaren ökonomischen Erzeugnisse (Brot, Milch, etc.) und des Geldes und des Markts. Nach der Christianisierung von Lettland wurde sie mit Maria gleichgesetzt.

Litauen

Giltinė ist die Göttin des Todes und dafür verantwortlich die Seelen von Verstorbenen (Vėlės) einzusammeln. Einer der vielen anderen Namen für sie ist Maras, was so viel bedeutet wie schwarzer Tod oder Pest. Sie wird als Schwester/Gegensatz von Laima, der Göttin des Glücks, dargestellt.

Dalia ist die Göttin des Schicksals und des Webens. Sie ersetzt zusammen mit einigen anderen Göttinnen die Moiren/Parzen aus der röm./gr. Mythologie, die im litauischen Deivės Valdytojos heißen. Sie fertigen Gewänder aus den Leben der Menschen und sind insgesamt nicht drei, sondern sieben Schwestern. Mit ihnen verbunden wird Laima, die neben der Göttin des Glücks auch die Schutzpatronin der schwangeren Frauen ist und für den Tod dieser Frauen und/oder ihrer Kinder verantwortlich ist. Ihr zur Hilfe steht Ragana, eine alte Frau die oft als Hexe bezeichnet wird. Ihr wird nachgesagt, dass sie in Wäldern lebt und dort Tränke und Kräuterheilmittel braut, die besonders werdende Mütter vor Unheil schützen.

Überschneidungen und Dopplungen

Fast alle der oben genannten Dämon*innen und Gött*innen gibt es auch im Russischen, Rumänischen, Polnischen, Tschechischen, Ungarischen, Estischen und allen anderen slavischen Ländern. Sie decken sich ebenfalls mit vielen persischen, türkischen und hindu Erscheinungen und Gött*innen, jeweils unter anderen Namen und mit kleinsten Variationen. Ein Beispiel ist die Göttin Marzanna (Polnisch, Marena (Russ.), Morana (Tschech./Bulgar./Sloven./Serbo-Kroat.), Morena/Kyselica (Slovak.), Morena (Mazedon.), Mara (Belar./Ukrain.), Maržena (Lit./Rumän.))

Marzanna ist eine slavische Göttin, die für den Winter, die Kälte, den Tod und die Neugeburt steht. Sie stirbt in slavischen Mythen am Ende des Winters und wird im Frühling als Göttin des Frühjahrs (Kostroma/Lada/Vesna) wiedergeboren.

In modernen Ritualen hat sie ihren heiligen Charakter verloren; ihre Legende wird in manchen (oft kleineren) Orten genutzt, um ein Frühlingsfest zu veranstalten. Eine Puppe von Marzanna oder Marzanoik (ihrem männlichen Gegenpart) wird von den Bewohnern zum nächsten Teich, See oder Fluss gebracht und dort in das Wasser getaucht. Manchmal wird sie davor auch angezündet. Die Menschen feiern mit dem symbolischen Tod der Marzanna das Ende des Winters.

Andere allgemein-slavische Göttinnen die den Tod darstellen und/oder ihn bringen sind die Jägergöttin Ciza, die Göttin der Fruchtbarkeit und der Zwillinge Lada, die Göttin der Zeit Chislobog, die Göttin der Beerdigungen Karna, die Göttin des Feuers und des Herzens Matergabia und die geschlechtslose Gottheit Veliona, die allgemein für Tod und Sterben steht und die Seelen der Ahnen hütet.


Westasien


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Queen of the Night Relief (~1792-1750 v. Chr.)


In der Türkei und anderen Teilen (Nord)Westasiens sind die primären Gottheiten des Todes männlich konnotiert – die Mythen überschneiden sich jedoch großflächig mit denen Osteuropas.

Mesopotamien

Die Göttin Ereshkigal regiert in der mesopotamischen Mythologie Kur, das Reich der Toten. Sie stammt vermutlich aus dem sumerischen Glauben. In späteren semitischen Mythologien wird sie Irkalla genannt, passend zu dem Land Irkalla, was sie mit ihrem Mann Nergal regiert. Im oben gezeigten Burney Relief (auch Königin der Nacht genannt, ~1792-1750 v. Chr.) sieht man, was oft als Ikonografie der Ereshkigal gesehen wird – sicher kann man sich jedoch nicht sein. Forscher interpretieren das Relief auch als Bildniss ihrer Schwester Inanna oder des Dämons Lilith.

In manchen Versionen des Glaubens regiert sie alleine, ohne einen Mann an ihrer Seite. Passend dazu ist sie generell auch die einzige Göttin in der Mythologie, die Schuld vergeben und erlassen kann. Es gibt einige sumerische Gedichte, wie etwa Inanna’s Descent to the Underworld (~1900-1600 v. Chr.), in denen ihre Rolle als Inannas große Schwester und Göttin der Unterwelt beschrieben wird. Mehr Informationen zum Gedicht und anderen Nennungen findet ihr hier (engl.) – diese Zivilisation gehört zu den ältesten der Menschheit und die Göttin steht im Zentrum davon. Es lohnt sich also sehr, mehr über sie zu erfahren.

Kaukasien

Die Forschung ist sich unsicher, inwiefern es einmal eine gesamt-kaukasische Religion gab. Daher sind die Gottheiten bislang in die Mythen der Osseten und Nakh unterteilt. Die Namen und Aufgaben der Göttinnen sind sich jedoch sehr ähnlich, so ist Satana bei den Osseten und Sata bei den Nakhs jeweils die Muttergöttin, die das Volk schuf und auch für ihren Tod verantwortlich ist. Sie ist zudem für weibliche Arbeit, Schwangerschaft und Kinder verantwortlich. Die Nakhs kennen zudem noch die Fruchtbarkeitsgöttin Tusholi. Es wird in der Forschung untersucht, ob zwischen beiden Mythologien eine gemeinsame Jagdgöttin existiert, die für den Tod der Tiere steht.


Literatur

Raymond Ian Page: Nordische Mythen: Eine Einführung. (2018)

Leea Virtanen/Thomas Andrew DuBois: Finnish folklore. (2000)

Elfriede Paschinger: Die etruskische Todesgöttin Vanth. (1992)

Wolfgang Fauth: Römische Religion im Spiegel der ‚Fasti‘ des Ovid. (1978)

Ernst Tabeling: Mater Larum. Zum Wesen der Larenreligion. (1975)

Jeremy Black/Anthony Green: Gods, Demons and Symbols of Ancient Mesopotamia. (2004)

Anna Chaudhri: The Causcasian hunting-divinity, male and female: traces of the hunting-goddess in Ossetic folklore. (1996)

 

Theoriebesprechung von Friedrich Schiller: Das Erhabene

Das Erhabene

Theoriebesprechung von Friedrich Schiller: Das Erhabene (1801)


Im Folgenden wird, sofern nicht explizit anders gekennzeichnet, zitiert aus dem Kapitel Ueber das Erhabene in: Friedrich Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie. Hrsg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2009. S. 99-117.


Ueber das Erhabene erschien 1801 als Essay in dem Band Kleinere prosaische Schriften und schließt sich thematisch an Schillers Aufsätze Vom Erhabenen und Ueber das Pathetische an. In diesen Schriften setzt sich Schiller mit den Ideen Kants bezüglich des Erhabenen auseinander und setzt sie in Verbindung mit den Abhandlungen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen und Ueber das Pathetische, indem er die Schriften zusammen publiziert. Der so erstandene Zusammenhang ist bei der Rezeption der theoretischen Texte zu beachten.

Was ist das Erhabene? Schillers Menschenbild

Vorab kurz dazu, was das Erhabene eigentlich ist – sofern man das denn feststecken kann. Denn das Erhabene wird von jedem/jeder Theoretiker*in neu definiert. Generell beschreibt das Erhabene alles, was wir als Menschen nicht (er)fassen können. Wenn wir etwa in der Natur sind und ihre Schönheit uns überwältigt oder wir unsere eigene Sterblichkeit und Ohnmacht durch etwas erfahren, wenn Naturgewalten wüten oder auch, wenn religiöse Menschen über Gott nachdenken. Was genau hat das mit Literatur zu tun? Bei Kant ist das Erhabene von dem Schönen und der Kunst abgekoppelt, bei Schiller jedoch nicht. Er schreibt der Kunst eine wichtige Rolle zu.

Um eine Basis für die folgenden Theorien zu schaffen definiert Schiller auf den ersten Seiten des Essays sein Menschenbild.

„[D]er Mensch ist das Wesen, welches will“ (S. 99)

So lautet die These, welche er noch auf derselben Seite erläutert. Der Mensch ist ein Wesen, wessen Prärogativ es ist, dass er mit dem gegebenen freien Willen und seinem Bewusstsein vernünftig handelt. Gewalt, hier als alles definiert, was gegen den Willen des Menschen geschieht, nimmt ihm dementsprechend die Menschlichkeit ab. Die Natur determiniert alles in und um sie herum, so auch den Menschen. Dieser hat sich im Rahmen der Evolution und technischen Fortschritts immer weiter ihrer Kontrolle entzogen und ist ihr in fast allen Fällen voraus. Nur der Tod, als letzte unumgehbare Komponente eines jeden menschlichen Lebens, bleibt bestehend.

Der Weg zur Freiheit

Folgt man Schillers Argumentation, so kommt man zu der Konklusion, dass ein jeder Mensch, so lange er dem Tod nicht entrinnen kann, nicht über freien Willen verfügt und somit seine Menschlichkeit abgesprochen bekommt. Schiller bietet zwei Lösungswege um der Gewalt zu entgehen:

Entweder r e a l i s t i s c h, wenn der Mensch der Gewalt Gewalt entgegensetzt, wenn er als Natur die Natur beherrschet; oder i d e a l i s t i s c h, wenn er aus der Natur heraustritt und so; in Rücksicht auf sich, den Begriff der Gewalt vernichtet. [sic] (S. 100)

Für diese beiden Möglichkeiten schreibt er dem Menschen zweierlei Kulturen zu, eine physische und eine moralische. Die physische Kultur soll dem Menschen durch Weiterbildung der sinnlichen Kräfte ermöglichen, die Natur bis zu einem gewissen Punkt zu kontrollieren. Da dieser Punkt spätestens beim Tod erreicht ist, braucht man die moralische Kultur. Sie soll uns dabei helfen zu begreifen, dass der einzige Weg aus der Beherrschung durch die Natur darin liegt, uns ihr zu unterwerfen.

Was im ersten Moment nach einem Widerspruch klingt, ergibt im Kontext mehr Sinn. In dem Menschen, spezifischer moralisch gebildete Menschen, welche die Fähigkeit dazu besitzen, die Punkte, an denen wir die Natur nicht kontrollieren können, als solche Annehmen und uns mit dem, was sie uns antut einverstanden erklären, ist es keine Gewalt mehr. Alles was von diesem Moment an folgt, was vorher ein Akt gegen unseren Willen war, fügt sich nun in unseren Willen ein. Damit ist in keiner Weise gemeint, dass man den Tod akzeptieren oder erwarten soll, wie es im Barock oft Thematik war, sondern dass man lediglich der Natur vorgreift, in dem man ihre Entscheidungen zu den eigenen macht.

Um dies zu verstehen und umzusetzen benötigt man, so Schiller, einen stärkeren Willen und mehr Klarheit, als es im restlichen Leben eines Menschen der Fall ist. Für das Erreichen dieser Qualitäten reicht es nicht aus, die moralische Seite von uns zu bilden. Wir müssen an die ästhetische Tendenz in unserem sinnlichen, physischen Wesen appellieren. Wie man aus der begrifflichen Einteilung durch Kant bereits erahnen kann, wird diese physische Seite von der Schönheit, die moralische von dem Erhabenen ausgebildet.

Die Schönheit und das Erhabene

Anders als bei Kant sind Schönheit und Erhabenes bei Schiller gleichwertig. Nur wenn sie beide zusammen in uns vertreten sind, befinden wir uns in der Lage, zu einem vollwertigen, moralischen Menschen zu werden. Das Schöne ist der Teil in uns, der trotz aller Versuche nicht von der Natur fortkommt. Indem wir uns wünschen, dass unsere Umgebung gut und schön sei, sind wir gefangen in unserem sinnlichen Denken. Wir machen uns durch unseren Wunsch von der Natur als unsere Umgebung abhängig. Die Stimme in uns, der es gleichgültig ist, ob Gegenstände um uns herum schön sind, die jedoch verlangt, dass dasjenige, welches bereits Existiert schön und gut sei, wird als das Erhabene bezeichnet.

Sehr einfach erklärt bedeutet dies, dass das Schöne in uns sich explizit von der Natur abhängig macht, durch den Wunsch von Schönem umgeben zu sein. Das Erhabene in uns verlangt von der Natur, dass alles, was sie schafft, schön ist und setzt sich so frei, da es sich in die Machtposition über der Natur stellt, statt sich unter ihr einzuordnen. Trotzdem sind beide Teile unabdinglich für unsere Menschlichkeit und den Begriff der Freiheit für uns:

Wir fühlen uns frey bey der Schönheit, weil die sinnlichen Triebe mit dem Gesetz der Vernunft harmonieren; wir fühlen uns frey beym Erhabenen, weil die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluss haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinem andern als seinem eigenen Gesetzen stünde. [sic] (S. 103)

Die Schönheit ist das erste, was uns als Menschen anzieht. Sie bildet uns für die ersten Lebensjahre, in welchen wir noch nicht bereit für das Erhabene sind. Während sich unser Geschmack formt, bilden wir uns moralisch weiter und entwickeln den Verstand, welcher unabdinglich für unsere Fähigkeit das Erhabene in uns aufzunehmen ist. Hier sind wir bereits bei der ästhetischen Erziehung angelangt, welche Schiller sehr eng mit seinen Gedanken über das Erhabene verknüpft. Die Schönheit begleitet uns bei allen sinnlichen Lebenserfahrungen, das Erhabene führt uns darüber hinaus. Zusammen bilden sie uns zu einem Menschen aus und machen uns zu dem, was wir sind.

Das Schöne alleine übernimmt einen großen Teil dieser Ausbildung, wir benötigen das Erhabene jedoch, um uns selbst zu erkennen. Erst durch die Erfahrung von etwas, dass über unsere übliche Fassungskraft hinausgeht und sowohl schön wie auch schaurig ist, wird uns klar, dass wir zwei Naturen in uns vereinigen. Wir alle besitzen zwei Seiten, welche komplett unterschiedliche Verhältnisse zu dem vor uns haben. Keine der beiden Instanzen dominiert, was uns als Mensch aufzeigt, dass wir die sind, die entscheiden und nicht eine der beiden Naturen.

Kants Einfluss und die Bedeutung von Fantasie

Die Aufteilung des Erhabenen in Fassungskraft und Lebenskraft ist stark an Kants mathematisches und dynamisches Erhabenes angelehnt. Sehen wir etwas, was die oben beschriebene Reaktion auslöst, so beziehen wir dies entweder auf unsere Fassungskraft in dem wir versuchen uns ein Bild davon zu machen, oder aber wir beziehen es auf unsere Lebenskraft und sehen unsere eigene Ohnmacht darin. Beides zeigt uns eigene Grenzen auf, jedoch ohne uns abzustoßen. Wir werden angezogen von dieser Unverständlichkeit von uns selbst. Unsere Fantasie ist es, die es uns erlaubt, über die eigentlichen Grenzen unserer Macht hinaus zu denken und das Erhabene überhaupt erst zu begreifen.

Wir ergötzen und an dem Sinnlichunendlichen, weil wir denken können, was die Sinne nicht mehr fassen, und der Verstand nicht mehr begreift. Wir werden begeistert von dem Furchtbaren, weil wir wollen können, was die Triebe verabscheuen, und verwerfen, was sie begehren. [sic] (S. 104)

Im Erhabenen wollen wir, was wir nicht wollen müssen und sind damit effektiv frei. Es ergibt keinen Sinn, dass wir uns von etwas angezogen fühlen, was uns verwirrt und unsere eigenen Grenzen aufzeichnet und doch hat es diese Wirkung auf uns. Indem wir uns davon distanzieren, was unser sinnlicher Teil will, sind wir vollends frei. Das Erhabene ermöglicht uns dies, durch seine eigene Unmöglichkeit.

Das Große und das Kleine

An dieser Stelle kann man sich fragen, ob es nicht unlogisch ist, wenn wir unseren Verstand nutzen, um etwas verstehen zu wollen, was unmöglich zu verstehen ist. Allerdings ist das Erhabene wichtig für unser Selbstverständnis, da wir selbst ebenso unmöglich sind.

„[D]as relativ Große (…) ist der Spiegel, worinn er das absolut Große in [sich] selbst erblickt.“ [sic] (S. 109)

Haben wir einmal das Große gesehen, so reicht uns das Kleine nicht mehr. Durch das Erwachen des Erhabenen in uns, wollen wir alles um uns herum sortieren und ordnen – auch die Welt an sich. Begreifen wir nun, dass man eben diese Größe nicht begreifen kann, so verstehen wir erst, was in uns selbst vorgeht. Unser Verstand, das Große in uns, ist ebenso unverständlich wie die Welt an sich. Das Chaos, welches keine Ordnung findet, macht uns ebenso aus, wie das unbegreifliche um uns herum. Einfach gesagt suchen wir in der Welt nach Verbindungen, weil wir annehmen, dass es sie geben muss. Wenn wir einsehen, dass dies nicht der Fall ist, sehen wir auch, dass unsere Vernunft genauso funktioniert. Auch in ihr gibt es diese Zweckverbindungen nicht. Wir lernen über unsere eigene Vernunft, in dem wir aufgeben zu versuchen, das Erhabene um uns herum verstehen zu wollen.

Doch nicht nur die Natur kann diesen Effekt auf uns haben, auch Menschen die einen erhabenen Charakter besitzen, können uns auf diese Spur bringen. Ein moralischer Charakter zeichnet sich dadurch aus, dass jemand die Tugenden besitzt. Warum ist für außenstehende unwichtig. Wir neigen dazu, die Absichten dieser Menschen zu hinterfragen, wobei das nicht nötig ist, so lange sie nur anhand der Tugenden handeln. Verliert ein Mensch jedoch alles, was ihn an diese Welt bindet, Status, Familie, Gesundheit, uns handelt noch immer nach den Tugenden, so ist er erhaben. Denn wenn jemand ohne weltliche Bindungen diese Moralvorstellung aufrechterhält, so ist dies für uns ebenso ungreifbar, wie die Macht des Erhabenen in der Natur. Unser Ideal ist das Leben in der sinnlichen Welt ohne unsere moralische Seite aufzugeben zu müssen. Schiller fasst diese Gedanken folgendermaßen zusammen:

Nur wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet, uns unsre Empfänglichkeit für beydes in gleichem Maaß ausgebildet worden ist, sind wir vollendete Bürger der Natur, ohne deswegen ihre Sklaven zu seyn, und ohne unser Bürgerrecht in der intelligibeln Welt zu verscherzen. [sic] (S. 116)

Fassen wir an dieser Stelle einmal kurz alles zusammen, bevor die Rolle der Kunst diskutiert wird. Der Mensch ist nur frei, wenn er von nichts determiniert wird. Dazu muss er sich der Natur ergeben, um ihrer Gewalt zu entgehen. Für diesen Prozess benötigt er sowohl seine sinnliche Seite, als auch seine moralische. Das Erhabene hilft uns, unsere eigene Größe anzuerkennen und unseren Charakter so zu stärken, dass wir uns der Natur ohne Vorbehalte unterwerfen können um frei zu sein. Nun ist die Frage, wie genau dies erreicht werden kann. Hier kommt das Pathetische hinein, was Schiller in anderen Schriften ausbaut und erläutert.

Was ist das Pathetische?

Das Pathetische ist, stark verkürzt und vereinfacht gesagt, Leiden, welches durch die Kunst ausgedrückt wird und uns so ermöglicht, wie durch einen Filter hindurch dieses Leiden zu erfahren.

Schiller beschreibt verschiedene Möglichkeiten einer Umsetzung, von der Antike bis ins zeitgenössische Frankreich hinein. Das Pathetische ist ein künstliches Unglück, welches es uns ermöglicht aus sicherere Distanz heraus die erhabene Rührung zu erfahren. Normalerweise braucht der Mensch die Natur dazu. So wird man bei Kant durch das Erfahren einer Tragödie (ohne an ihr Teilzunehmen) in diesem Feld gebildet. Schiller eröffnet dem Menschen also eine Möglichkeit, ohne die Realerfahrungen diese Kompetenzen zu bilden.

Die Rolle der Kunst

Vorteile der Kunst sind zu einen die Konzentration des Leidens, da die Kunst sonst keine Aufgabe hat, anders als die Natur. Aber auch die Tatsache, dass uns reale Tragödien oft ohne Vorwarnung treffen und wir so zu emotional verwickelt sind, um das Erhabene zu erfahren, spielt eine wichtige Rolle. Wir trainieren an dem künstlichen, um für reale Ereignisse besser gewappnet zu sein. Um uns eine Tragödie zu bieten, muss in der Natur Gewalt geschehen. In der Kunst ist dies nicht der Fall. Künstliche Tragödien sind also in jedem Fall die menschlichere Variante.

Psychiatriestigmen in unserer Gesellschaft

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Psychiatriestigmen in unserer Gesellschaft


TW: Mentale Gesundheit, politisch fragwürdige Wortwahl zur Illustration des Problems


Hallo und herzlich willkommen im Büchnerwald. Heute möchte ich mit euch über ein wichtiges Thema sprechen: den Stigmen gegenüber Psychiatrien, die wir auch im Jahr 2018 noch haben.

Was sind die Stigmen?

Wenn wir heute in Büchern, Serien, Filmen oder im Alltag über Psychiatrien sprechen, dominieren oft Horrorvorstellungen. Leblose Menschen in Stühlen, ‚irres‘ Lachen, Gefahr und Schmutz und kalte Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, die die Patient*innen unheimlich finden oder selber böse sind.

Eingewiesene Menschen sind der trockene Witz am Ende. Sie werden entweder als extrem hilfsbedürftig oder als gefährlich betrachtet. Die armen dummen „Irren“, die sich nicht wehren können und die „Gestörten“, von denen man froh ist, dass sie weggesperrt sind.

Woher kommen diese Stigmen?

Gerade wenn man sich die Popkultur ansieht, wird der Appeal of Horror deutlich. Wir wollen abstoßende Geschichten über kranke Personen, wir schauen uns Filme wie Gothika und Serien wie American Horror Story an. Und wir adaptieren die Darstellungen für uns.

Dabei sind diese Vorstellungen schon so in unserem Kopf und werden durch diese Medien bestärkt. Einer flog übers Kuckucksnest, American Psycho, Supernatural, Alice im Wunderland, Psycho, The Shining, Lucius – egal ob Bücher, Musik, Theater, Spiel oder Film/Serie. Unsere Vorstellung von psychischen Krankheiten und Psychiatrien ist – um ehrlich zu sein – extrem verzerrt.

Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich selbst Stereotypen über diese Dinge in der Popkultur konsumiere, ohne sie zu kritisieren. Eben weil Menschen es interessant finden, mit Horror konfrontiert zu werden. Und was ist schon aufregender, abstoßender und interessanter als Horrorgeschichten über Anstalten?

Zumal nicht alle Medien es so schlecht machen. Klar perpetuiert American Horror Story gewisse Stereotypen, es gibt jedoch ein gutes Bild über den Status unseres Gesundheitssystems in den 50er/60ern ab. Wir haben eine ekelhafte Geschichte, wenn es darum geht Menschen wegzusperren.

Homosexualität, körperliche/mentale Einschränkung, die falsche Religion, Hautfarbe, Abstammung oder Einstellung – auch nach dem Nationalsozialismus haben wir nicht aufgehört, Menschen zu Unrecht einzuweisen und sie dann zu ignorieren. Machtausübung der Heime und allgemeines Desinteresse der Öffentlichkeit resultierten in furchtbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Aber wir befinden uns nicht mehr in den 60ern. Unsere dauerhaft rückblickende Sichtweise auf diese Thematik stört uns, die Dinge so zu sehen wie sie heute sind. Menschen, die sich Hilfe suchen brauchen die Unterstützung der Gesellschaft.

Wem schaden die Stigmen?

Und da sind wir schon beim wichtigsten Punkt: Wem schadet das eigentlich? Die Antwort ist einfach und kompliziert zu gleich, denn diese Stereotypen schaden uns allen.

Sich selbst einzugestehen, dass man Hilfe benötigt und die Realisation, dass Therapie etwas Gutes ist, sind wichtige Schritte für viele Menschen. Es gibt noch immer so viel Ableismus und Ageismus in der alltäglichen Sprache. So viele Stigmen, so viel Hass und Unverständnis. Erst wenn wir all das hinter uns lassen erhalten wir eine Gesellschaft, in der man sich nicht dafür schämt, Hilfe zu benötigen. Mobbing und Vorurteile bei Jobinterviews sind alltägliche Vorkommnisse für manche. Aktionen, in denen sich über Kliniken lustig gemacht wird, bestärken das.

Sie verharmlosen aber auch das Leider derer, die früher wirklich gelitten haben. Wenn man heutige Institutionen für mentale Gesundheit mit Anstalten aus den 60ern gleichsetzt, was sagt das dann über die Menschen aus, die früher tatsächlich gegen ihren Willen eingesperrt wurden? Und was sagt man damit über moderne Einrichtungen, die sich darauf konzentrieren Menschen zu helfen? Und über diejenigen, die einen sehr harten Job bewältigen, um anderen zu ermöglichen, ein besseres Leben zu leben.

Haha! Lass dich für eine Nacht in eine Anstalt sperren und gewinne ein Buch lol! Richtig unterhaltsam!

Sebastian Fitzek machte 2018 Schlagzeilen mit seiner Werbung für sein Buch „Der Insasse“. Es gab ein Preisausschreiben, in dem eine Nacht in einer Anstalt verlost wurde. Dieser Umgang mit dem Thema illustriert genau das Problem, was ich in diesem Artikel anspreche. Sein Buch weist zudem mehrere Recherchefehler auf. Wenn man als Autor schon Horror in einer psychiatrischen Einrichtung umsetzen möchte, dann doch bitte in der richtigen Zeit und korrekt recherchiert. Bilder von Lobotomien und Zwangsbädern bei viel zu hohen Temperaturen haben nichts im 21. Jahrhundert zu suchen.

Die Realität

Warum ist mir das so wichtig, dass ich alles stehen und liegen lasse, um direkt einen Artikel darüber zu schreiben? Weil die Realität anders aussieht, als das, was sich die meisten Menschen darunter vorstellen. Menschen weisen sich in der Regel selbst ein, der Aufenthalt ist zeitlich beschränkt (es gibt natürlich Ausnahmen, aber 2-3 Monate sind ein guter Grundwert) und das Wichtigste: Kliniken sind in erster Linie ein sicherer Ort, an dem Menschen loslassen können, um wirklich in Kontakt mit ihrer Krankheit zu kommen und Techniken zu lernen, im Alltag mit ihr klarzukommen. Eine Klinik ist keine Endlösung oder ein Ort, an den man einfach abgeschoben werden kann.

Ich selbst war als Kind (genauer, als ich 12 war) in einer psychiatrischen Klinik. Die Umstände, wie ich dazu gekommen bin, sind hier unwichtig. Die Erfahrung an sich ist so viel mehr, als nur gut oder nur schlecht.

Als Kind hat man keine Kontrolle darüber, ob man dort sein möchte oder nicht. Deswegen kam ich mir am Anfang furchtbar alleine vor. Besuchszeiten tun weh, weil man gerade als junger Mensch mehr Kontakt mit der Familie braucht, als 2-3h die Woche. Die Bettzeiten und starken Beschränkungen (man muss sich Privilegien wie Spielzeiten im Garten oder Besuche in nahegelegenen Supermärkten verdienen) sind ebenfalls gewöhnungsbedürftig.

Für mich war es allerdings eine wichtige Erfahrung. Mit anderen Menschen zusammen zu sein, die ebenfalls Depressionen und soziale Ängste haben, tut so gut. Man wird von niemandem verurteilt. Es gibt reguläre Therapiestunden mit einer Psychologin, Gruppentherapie, die alles sein kann (von im Kreis sitzen und miteinander sprechen zu einem Besuch in der Kletterhalle), Kunsttherapie, Massagetherapie und Musiktherapie.

Mir wurde außerdem ermöglicht zu schreiben. Talente fördern, Selbstbewusstsein aufbauen, lernen das man nicht seltsam ist, sondern einfach man selbst. Lernen, wie man damit umgeht, dass es einem manchmal nicht gut geht und das es okay ist, anderen Menschen die eignen Grenzen mitzuteilen.

Ich war für 2 ½ Monate dort und habe so viel mitgenommen, was ich noch heute in mir sehe. Die Erfahrung hat mir so geholfen und trotzdem musste ich mir von Klassenkameraden Sprüche anhören. Sehr schlimme Sprüche. Ich war der „Psycho“ und „Weirdo“ und alles, was ich mir in der Zeit in der Klinik erarbeitet habe, ging wieder kaputt. Weil diese Kinder lernen, dass „Irrenhäuser“, „Klapsen“ und „Klapsmühlen“ gruselige Orte sind für Menschen, die gefährlich und seltsam sind und keinen Platz in der Gesellschaft haben.

Das kann so nicht weitergehen

Wann sind wir endlich an einem Punkt angekommen, an dem psychische Krankheiten in unserer Gesellschaft nicht entweder nonexistent oder extrem negativ besetzt sind? Wann kommt der Punkt, an dem Menschen sich nicht mehr dafür schämen müssen, Hilfe zu brauchen, um mit sich selbst klar zu kommen?

Wir müssen zu diesem Punkt kommen, und zwar schnell. Denn jeder Tag, der vergeht, an dem ein Kind für die Therapie gemobbt wird oder an dem sich jemand gegen einen Klinikaufenthalt entscheidet, weil die Person Angst vor dem Backlash hat, ist einer zu viel.

Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der sich Hilfe suchen etwas Gutes ist und in der sich nicht darüber lustig gemacht wird, in dem man so tut, als wären Kliniken der selber Horror, der sie vor 80 Jahren waren.