Reichweitenverantwortung im Medienzeitalter – Das Gronkh-Debakel

Reichweitenverantwortung im Medienzeitalter

Reichweitenverantwortung im Medienzeitalter

Das Gronkh-Debakel


Tw: Sexismus, Homophobie, sexualisierte Gewalt, Kindesmissbrauch (Nennung), Rassismus (Nennung)


Disclaimer: Im Text wird an manchen Stellen bewusst nicht gegendert, weil sich Abschnitte auf cis Männer beziehen. Trans Männer sind nicht angesprochen. [Einfügung: Dies soll nicht heißen, dass trans Männer keine Männer sind, sondern dass ich mich bewusst nur auf cis Männer beziehe. Ich entschuldige mich für negative Reaktionen, die diese Formulierung hervorrief. Ich lerne selbst noch und schriftlich festhalten, wie genau ich dies meine, ist für mich (noch) schwierig. Zudem möchte ich mich entschuldigen, dass ich im Text häufig davon ausgehe, dass es sich bei Youtubern um cis Menschen handelt. Dies werde ich in Zukunft nicht mehr tun. Den Text lasse ich so stehen, da ich meine Fehler nicht einfach aus dem Internet löschen will.] Dies wird, so gut es geht, markiert. Dieser Disclaimer dient dazu, es allgemein deutlich zu machen.


Youtuber*innen zeigen sich oft gerne als Freund*innen ihrer Zuschauer*innen. Als Kumpel, die einen online unterhalten. Dabei unterschlagen sie die Macht, die mit Millionen Abonnent*innen kommt. Youtuber*innen sind ‚Stars‘ und Vorbilder mit mehr Einflussfaktor, als wir es von Schauspieler*innen, Sänger*innen und anderen Berühmtheiten bislang kennen. Weil sie nicht nur das Poster über dem Bett sind, sondern aktiv mit tausenden von Followern kommunizieren können. Es herrscht ein Austausch, der nicht nur ihre Reichweite erhöht, sondern auch die Treue ihrer Fans. Oft gibt es das Bild des*der bescheidenen Youtuber*ins, der*die sagt, dass das alles ja gar nicht so groß und der eigene Einfluss nicht so wichtig sei. Doch Youtuber*innen haben eine menge Einfluss, besonders auf junge Menschen, den sie leider nicht immer gut kontrollieren und nutzen.

Der folgende Text untersucht die Pflicht zur Reichweitenverantwortung und geht dabei besonders auf die deutsche Youtubeszene ein, die sich 2019 bereits mehrere Schnitzer erlaubt hat. Angesprochen werden struktureller Antifeminismus, das generelle Kritikproblem auf Youtube und eine spezifische Situation, die im März 2019 die Situation für problematische Youtuber*innen auf Twitter veränderte.

Reichweitenverantwortung: Was ist damit gemeint?

Unter Reichweitenverantwortung versteht man das reflektierte Verhalten auf sozialen Medien im Hinblick auf die eigenen Followerzahlen. Damit ist gemeint, dass man als bekannter Account auf Twitter, Facebook, Youtube, Instagram, etc. eine Reichweite hat, die größer ist als die anderer Menschen. Kritisiert man nun, macht sich über jemanden lustig oder kommentiert/zeigt aus sonstigen negativen Gründen den Account einer Person mit wesentlich weniger Followern ((B)PoCs, Frauen/Feminist*innen, Menschen die offen LGBTQA+ sind und weitere Minderheiten sind doppelt betroffen), so liefert man diese der eigenen Followerschaft aus. Die eigenen Follower sind oft zum Großteil aus der eigenen Demografie (im Falle vieler cis männlichen, weißen Youtubern sind sie oft ebenfalls cis männlich und weiß) und stimmen dem größeren Account zu, da sie ähnliche Hintergründe haben und/oder Fans sind, die aus Prinzip zustimmen. Es wird ein Machtverhältnis geschaffen, in dem die Person mit weniger Followern nur verlieren kann. Ganz egal, ob die Kritikpunkte relevant sind oder nicht.

Das ungleiche Verhältnis sorgt außerdem dafür, dass man als Machthalter*in nicht wirklich die Kritik annehmen und reflektieren muss. Problematische Personen nutzen ihre Followermacht aus, um Kritiker*innen zu dogpilen. Unter Dogpiling versteht man das bombardieren einer Person mit negativen Kommentaren, Drohungen, etc., um sie von ihrem Standpunkt abzubringen oder sie dazu zu bringen, ihre Aussagen zu löschen. Die Kritik verschwindet, man muss sich nicht damit auseinandersetzten und die eigenen Follower feiern einen.

„Aber ich wurde ja zuerst angegriffen, darf ich nun nichts mehr sagen?“ und „Aber es gibt auf der anderen Seite doch auch Leute, die mich beleidigen!“

Reichweitenverantwortung betreiben heißt nicht, dass man als großer Account nichts Kritisches mehr unter kleinere Accounts kommentieren oder diese seinen Follower*innen zeigen kann. Es geht vielmehr darum, dass man versteht, was man damit auslöst. Besonders kleine, feministische Accounts wurden dieses Jahr vermehrt zum Angriffsziel großer Youtuber auf Twitter, die kritische Aussagen per kommentiertem Retweet an ihre Followerschaft schickten und dann behaupteten, sie können ja nichts, für die Drohungen und widerlichen Kommentare, die die Feminis*innen als Folge erhalten. Auch die Quantität wurde zum Thema, als der Youtuber ‚Rezo‘ auf einen von ihm ausgelösten Hasssturm gegen eine Twitterin drei Hassnachrichten gegen ihn als Argument nannte, dass die hunderte Kommentare unter dem Tweet gegen ihn gerechtfertigt seien. In großen online Communities finden sich immer Menschen, die bereit sind Grenzen zu überschreiben und Hass zu verbreiten. Dessen muss man sich als Onlinepersönlichkeit bewusst sein. Das Argument „ich kann die nicht kontrollieren“ ist absoluter Unsinn – man kann sehr wohl steuern, wer einen gut findet und wie diese Leute reagieren, wenn man jemanden kritisiert oder ihr Idol kritisiert wird.

Reichweitenverantwortung ist zum Beispiel:

  • offen sagen, dass man das Dogpiling nicht okay findet.
  • kleine Accounts, die einen kritisieren, nicht einfach so an die Followerschaft auszuliefern, sondern sich alternative Lösungsmöglichkeiten zu überlegen (z.B. eine DM schicken; kommentieren, statt mit Retweet kommentieren; etc.).
  • Menschen aus der eigenen Community zurückpfeifen, wenn sie jemanden angreifen.
  • Sich klar und deutlich gegen sexistische, rassistische, antisemitische und ableistische Beleidigungen aussprechen – auch wenn das heißt, dass man damit eigene Follower, die sich problematisch verhalten, kritisieren muss. Ein „keine Nazis!“-Tweet alle vier Wochen reicht nicht, weil es eben nicht nur Nazis sind, sondern reguläre Follower. Das sind Menschen, die sonst Herzchen in Chats senden. Auch liebe Follower von einem werden problematisch, wenn ihr Idol angegriffen wird. Das geschieht im Namen der Onlinepersönlichkeit, das sind keine 1-2 schwarzen Schafe.
  • Kritik gegen sich reflektieren, statt sie an die eigenen Follower zu senden, die dem offensichtlich widersprechen, weil sie eben treue Fans sind. Kritik ist nicht immer ein Angriff, den man abwehren muss. Wenn die eigenen Follower jede kritische Stimme stumm schalten, entwickelt man sich als Mensch nicht weiter.

Feminismus als Feindbild: Youtuber auf Twitter

Bevor es gezielt um das titelgebende ‚Gronkh-Debakel‘ geht, noch einige Wörter zu anderen Vorkommnissen dieses Jahr. Ein großer Teil des problematischen Verhaltens vieler großer (Youtuber-)Accounts auf Twitter ist, dass sie sich als Zentrist*innen stilisieren. Sprich sich darstellen, als wären sie politisch in der (linken) Mitte. Rechts geht gar nichts, wirklich links ist zu krass. Youtuber wie Viktor Roth (IBlali), Erik Range (Gronkh) und viele mehr (fast alle davon übrigens cis männlich) sind dafür bekannt, dass sie ’nice guys‘ sind. Also politisch gegen Nazis und schon irgendwie links, aber halt nicht im Sinne von ‚SJW‘, Feminist*innen und ‚leftist‘. Dabei ist die Message die gleiche, das Label fehlt nur.

Viktor Roth stand dabei Anfang des Jahres mehrfach in einem merkwürdigen Licht dar, da er feministische Accounts (oft mit wenigen hundert Followern im Vergleich zu seinen 1,5 Millionen (Stand Oktober 2019)) kritisierte, mit Kommentar retweetete und sich dann aus der Affäre zog, als die kleinen Accounts mit Hass und (teilweise ekelhaft expliziten) Drohungen überschüttet wurden. Dies geschah mehrfach und führte dazu, dass sich einige Accounts temporär deaktivierten, weil sie die Kommentare nicht mehr ertrugen. Zwischen diesen ‚Outcalls‘ gegen Feminist*innen und dem offen herablassenden Ton gegenüber Feminismus an sich, twitterte der Youtuber jedoch feministische Tweets, die genau den Inhalt hatten, für den er Feminst*innen angriff. Er stellte sich als guter, linker Typ dar, dem Feminismus einfach ‚zu krass‘ ist. Dabei ist Feminismus genau das, was er in seinen Tweets benannte.

Er nahm die feministischen Inhalte und verbreitete sie als ’nicht feministisch, sondern normal eben‘, was an seine Follower die Nachricht schickte: Ich bin ein guter, die bösen Feminist*innen hassen Männer und sind radikal. Er denunzierte Feminismus als etwas Schlechtes und eignete sich gleichsam feministische Inhalte an. Das dies problematisch  (und generell unsinnig) ist, leuchtete ihm nicht ein.

Feminismus und politische Korrektheit als Feindbild trifft man bei vielen ‚good guys‘, wie eben IBlali und Gronkh (der in seinen Streams oft Dinge sagt, die man als feministisch einordnen könnte, aber dann geschmacklose Witze über Feminismus und politische Korrektheit macht), aber auch viele cis Frauen, die sich als ‚gechillt‘ darstellen und als Gegenbild zu den ‚hysterischen‘ Feminist*innen auftreten. Das kann man nicht alles auf Unwissenheit schieben – das hat durchaus System. Denn wenn man sich generell politisch Mittig einordnet, holt man mehr Follower ab, auch die, die sich eher in die rechte Ecke einordnen. Man hält sich außerdem einen Weg frei, um politisch inkorrekte Witze zu machen, die oft Frauen, Opfer sexualisierter Gewalt, politische Minderheiten, (B)PoCs und die LGBTQA+ Community treffen.

Das ‚Gronkh-Debakel‘

Und damit sind wir beim Gronkh-Debakel. Zunächst eine Zusammenfassung davon, was passiert ist. Die Situation wird im Detail aufgezeichnet, um die graduelle Eskalation und das Handeln aller Akteur*innen im Vergleich zu zeigen.

[Die folgenden Informationen sind mit dem betreffenden Account abgeklärt, Tweets dürfen zitiert werden.]

Was passiert ist

Ein kleiner feministischer Twitteraccount mit dem @ NeueSappho veröffentlichte am 12. März 2019 eine Reihe an Tweets, die sich auf Rocketbeans-Teammitglied Etienne Gardé bezogen, der sich am selben Tag auf Twitter über Kindesmissbrauch lustig machte und mit Ankündigung provokante Tweets schrieb:

Weiblicher Twitteraccount: Gamer sind Trash
Gamer: Gar nicht!
RBTV: *twittern*
Gronkh: *Vergewaltigungswitz*
Steam-Community: Vergewaltigung = Meinungsfreiheit
Gamer:
Gamer:
Gamer: Gar nicht du Hure

Dazu schrieb sie: „Wollt ihr was witziges hören: Ich habe große (rechte) Gamer-Bubble Menschen wie Corrupty vorsorglich blockiert, damit mir nicht wieder jemand eine DrüKo macht und mein Twitter für Tage vor lauter Hate unnutzbar wird. Fun oder?“

Die Tweets wurde mehrfach geteilt und erreichten bald darauf die Gronkh-Community, die sich dafür interessierte, was denn mit dem „Vergewaltigungswitz“ gemeint sei. Einige Fragten nach, andere, die klare Mehrheit, begannen die Twitterin zu beleidigen und den Youtuber zu verteidigen. Dieser wurde auf die wachsende Kontroverse aufmerksam, wollte sich über den Tweet erkundigen und entdeckte, dass er blockiert war. Wie im hier zitierten Thread gesagt wird, hatte die Twitterin ihn und weitere Gamingaccounts vorsorglich blockiert, um einem Shitstorm durch die Follower der Accounts vorzubeugen. Etwas, was viele kleine Accounts machten, nachdem IBlali kurz zuvor mehrere Accounts an seine Followerschaft auslieferte und diese von Hass erdrückt wurden.

Da Erik Range (Gronkh) dies jedoch nicht sehen konnte und es auch nach Erklärungsversuchen von anderen feministischen Accounts nicht begriff, twitterte er auf Nachfrage eines Followers, ob etwas an den Anschuldigungen dran sei:

Nö, da war auch nix, aber die Furie hat mich sowieso direkt nach der Behauptung blockiert, damit ich’s auch ja nicht sehen kann. 1 nicer Move, da weiß man gleich, wen man vor sich hat.

Die Twitterin hingegen verfolgte die Diskussion zwischen Range und einem feministischen Twitteraccount, in der er sich verständlich zeigte und eigentlich nur wissen wollte, was denn nun los sei, und veröffentlichte einen weiteren Thread, der hier nur zu Teilen zitiert wird:

Da er gestern sehr höflich zu einer Freundin auf Twitter war, habe ich mich dazu entschlossen, das mit dem Vergewaltigungswitzen bei Gronkh näher zu beleuchten.
[@Gronkh, ich habe dich entblockiert. Der Block war Selbstschutz, da ich Angst hatte du zitierst das und schickst deine 1,2 Millionen Follows gegen mich. Wenn du mich kritisieren möchtest sind meine DMs offen, ich bitte dich diesen Weg zu gehen, da mein Acc sonst überrannt wird]
Das Spiel The Forest wurde lange von Gronkh gespielt und let’s playt. Seit Jahren existiert dabei derselbe Running Gag: Eine nackte Ureinwohnerin des Waldes stirbt und man tut so, als würde man sexuelle Gewalt an ihr ausüben. (…) Mittlerweile hat er es wieder gespielt und diese Witze kamen wieder. Nun denke ich anders. Warum?

Sie erklärt im Folgenden, dass sie als Opfer sexualisierter Gewalt diese Art von ‚Witzen‘ nicht ertragen kann und dass Gronkh damit rechnen muss, dass er in seiner Community nicht nur Witze über die Opfer sexualisierter Gewalt normalisiert, sondern auch andere Mitglieder seiner gigantischen Followerbasis triggern wird. Auch geht sie darauf ein, dass das Ganze vor dem Hintergrund, dass bei der Ankunft der europäischen Flotten in den heutigen USA zahlreiche Menschen sexuell genötigt und missbraucht wurden und er – ob bewusst oder nicht – eine Parallele zwischen diesen Taten und seinen Taten um Spiel zieht. Sie bezog diese Art des ‚edgy Humors‘ auch auf Youtube allgemein:

(Die ‚Witze‘) zeigen, wie lapidar Youtuber mit solchen Themen umgehen. Sie triggern Opfer [sexualisierter] Gewalt und zeigen allen anderen Zuschauer*innen, dass es ok ist, darüber zu lachen.

Erst nach dem Thread sah sie, wie sich der Youtuber mittlerweile über sie geäußert hatte und gab das Thema auf. Doch in Kombination aus Gronkhs „Furien“-Tweet, den vielen Falschinformationen, die über die Anschuldigungen kursierten, den Menschen, die ihr Idol mit allen Mitteln verteidigen wollten und Trollen entstand binnen weniger Stunden ein Shitstorm, der so groß wurde, dass die Twitterin an einem Punkt permanente Hassnachrichten durch ihre Mentions scrollen sah. Ihre Dms waren voller Menschen, die ihr ihre Erfahrungen absprachen, Gronkh verteidigten, weil er ‚ja ein Guter sei‘, sexistische Memes und Nachrichten schickten und Drohungen aussprachen. Speziell Witze, Kommentare und Drohungen bezüglich der von ihr geschilderten Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt häuften sich. Gleichsam wurde NeueSappho von Menschen kritisiert, die ihr vorwarfen zu viel zu blockieren oder dass sie selbst schuld sei, weil sie Gronkh öffentlich kritisierte, statt per Dm. Zahlreiche cis Männer, die Range nahe stehen, sprachen Soli aus und machten Witze über die Situation. Viele davon haben ebenfalls eine große Followerbasis, die sich dann zusätzlich auf den kleinen Twitteraccount stürzten.

Auch Solidarität war da, besonders seitens des Journalismus, großer feministischer Accounts und zahlreicher junger Frauen und nichtbinären Menschen, die Zuschauer*innen des Kanals sind/waren und die Witze aufgrund eigener Erfahrungen ebenfalls kritisieren wollten, sich jedoch aufgrund des Shitstorms nicht trauten oder das Ganze nicht in Worte fassen konnten.

Maximilian Ensikat (PhunkRoyal) reagierte auf eine Dm der Twitterin, in der sie ihm mitteilte, was seine Tweets zum Thema ausgelöst hatten. Nach einem Gespräch verstand er, dass er seine Reichweite kontrollieren sollte und twitterte, dass er Beleidigungen und Hass aufgrund seiner Kritik nicht stützte und seine Fans und Zuschauer*innen es besser wissen sollten. Auch der Account RollifahrerMike, ein Freund Ranges, äußerte sich kritisch zu dem Ansturm gegen die junge Frau; zahlreiche andere Youtuber*innen und Onlinepersönlichkeiten, einige davon aus dem Umfeld Ranges, stützten die Twitterin und ihre Aussagen und betonten, dass es sich um eigentlich höflich und klar formulierte Kritik handelte, die durchaus nachvollziehbar sei. Es wuchs das Gerücht, dass sich Range bei ihr gemeldet und das Ganze ausdiskutiert hätte, dem ist nicht so. Bis heute lässt der Youtuber das Thema und die Hasswelle, die von seiner Community auf die junge Frau ausging, unkommentiert.

Der Account von NeueSappho wuchs binnen weniger Tage auf 1300 Follower an, was dazu genutzt wurde ihr vorzuwerfen, sie würde das Ganze für Aufmerksamkeit tun.  Sie wurde als böse Feministin stilisiert, die falsche Anschuldigungen an einen Youtuber machte. Dabei war die Kritik nie böse, der Ton nie aggressiv. Es war eine Kritik, die die Inhalte des Youtubers verbessern und zugänglich für mehr Menschen machen wollte. Die Twitterin hat bis heute Wellen, in denen sie von den Followern Gronkhs angegriffen wird. Sie hat sich mittlerweile zu den psychischen Auswirkungen der insgesamt fünf Wochen geäußert, die der Shitstorm anhielt und sagte, dass sie noch immer Angst hat öffentlich über Gaming zu sprechen.

Wie konnte das passieren und warum ist das heute noch relevant?

Die betreffende Twitterin ist aktuell im geschützten Twittermodus, da im Zuge der Debatte um rechte Communities im Gamingbereich erneut Hass auf sie traf. Menschen markierten Gronkh unter ihren Tweets zum Thema, nachdem sie schrieb, dass sie den Namen nicht ausschreiben kann, aus Angst, wieder einen Shitstorm zu erleben. Die Aussage vieler war, dass sie es witzig fänden, wenn sie wieder angegriffen würde. Die Täter: Zuschauer Gronkhs, cis Männer, die auf ihren Accounts zwischen Hass auf Minderheiten (speziell die LGBTQA+ Community) auch Gronkh retweeten und ihm und weiteren Youtuber*innen in seinem Umfeld folgen. Keine Trollaccounts, sondern Zuschauer. Leute die sich von den sporadischen „ich dulde keine Nazis“-Tweets des Youtubers nicht angesprochen fühlen oder denen es egal ist.

Gronkh ist gerade wieder in Kritik, wie so oft dieses Jahr. Viel tut sich nicht, doch der Youtuber wird für problematische Inhalte zumindest auf Twitter zur Verantwortung gezogen. Als Antwort schickt er seine Follower, die die Kritik dogwhistlen oder setzt einen sehr allgemeinen Tweet ab: Ich bin nicht rechts, Kritiker*innen und Feminist*innen übertreiben, ich mag Nazis nicht.

Aber damit hat es sich nicht. Er reflektiert die Kritik nicht, sondern tut sie als unsinnig ab. Dabei ist sie in den allermeisten Fällen respektvoll und ruhig formuliert, kein hysterischer Feminismus, sondern erst gemeinte Kritik, die den Youtuber und seinen Kanal als das zeigen, was sie sind: Range versucht sich an stereotypischen Impressionen von schwulen Männern (Sims 3 + 4, A Way Out), reißt sexistischen Witze, die speziell dicke Frauen oft in den Fokus nehmen (Sea of Thieves, Streams, Horrorspiele) und macht noch immer Anspielungen und ‚Witze‘ über sexualisierte Gewalt (Outlast, Survivalspiele, Horrorspiele). Er wird vehement verteidigt mit den Argumenten, dass er ja ein Guter sei, weil er ja gegen Nazis ist und das alles Einzelfälle seien. Aber das sind keine Einzelfälle. Man findet diese Art des ’schwarzen Humors‘ und der ‚Satire‘ (die komischerweise immer dieselben Randgruppen trifft) in fast jedem Spiel. Nicht nur in den älteren Aufnahmen, nicht nur bei Spielen wie Card Against Humanity, wo dieser Humor genutzt und gebraucht wird – in fast jedem Spiel und Stream.

Range könnte sich die Kritik zu Herzen nehmen und etwas ändern, muss er aber nicht, weil seine Community jede Kritik abprallen lässt und er nie wirklichen Schaden trägt. Er kann es sich leisten, ignorant zu sein und dabei Toleranz zu claimen. Seine Community wird gerne als liebste Community Youtubes bezeichnet und man kann sich fragen, ob NeueSappho und alle, die im Zuge des Shitstorms angegriffen wurden, das auch so sehen.

Das Kritik-Problem auf Youtube

Gronkh ist bei weitem nicht der Einzige, der sich so äußert und seine Fanbase als Schutzwall gegen Kritik und Reflektion nutzt. Er ist nicht mal der Schlimmste, auch wenn er eine gigantische Reichweite hat. Youtuber wie Marcel Eris (MontanaBlack), Viktor Roth (IBlali) oder Mitglieder des Rocketbeans-Teams sind da bei weiten offener in ihrer Abwertung. Aber er ist als Mittelpunkt dieser Debatte der Knackpunkt, weil die Soli hier endet. Gronkh wird in den letzten Monaten vermehrt kritisiert. Seine Fanbase hält zwar eisern zu ihm, doch er entkommt der Kritik nicht mehr. Wann immer er nun etwas tut, was problematisch und ignorant ist, wird es bemerkt, geteilt und er wird zur Verantwortung gezogen. Er ist sicher vor ernsten Konsequenzen, doch durch diesen Shitstorm und den Stimmen aller, die darunter litten, wird er bei jedem neuen Shitstorm mit dem Angriff seiner Community auf eine Feministin konfrontiert. Die Schwere der Shitstorms wird erhöht, weil sie sich langsam addieren. Er kann zumindest dieser Realität nicht entkommen.

Wenn man sich anschaut, wie auf Youtube kritisiert wird, versteht man besser, wie Range sich aus der Affaire ziehen kann und wieso auch Viktor Roth nicht über seine Widersprüche nachdenken muss. Einige Youtuber (ich habe nur cis männliche Kanäle gefunden) machen kritische Videos über ihre problematischen Kollegen und zwei Wochen später wird klar, dass das eine Kunstfehde war. Falls es überhaupt so weit kommt. Menschen wie Gronkh haben den Ruf eines ’nice guys‘, weswegen jegliche Kritik automatisch als feministischer Unsinn abgetan wird.

Wird kritisiert, so reagieren beide Kanäle in der Regel mehrfach aufeinander und finden sich vielleicht sogar ehrlich unsympatisch – aber tiefgehende Kritik, die nicht mit einem Zwinkern nach einer Woche abgetan wird, gibt es nur in ‚Extremfällen‘. Es heißt dann immer „ach, das ist doch kein schlechter Typ“ und das wars. Es gibt kaum Youtuber die ihre Kritik durchziehen. Selbst eigentlich gute und kritische Kanäle (wie Ultralativ) tun dies nicht. Die einzigen Menschen, die durchgängig, ohne Zwinkern gehasst werden, sind Frauen wie Shirin David und Bianca Heinicke (BibisBeautyPalace), die sicher nicht unschuldig sind, aber eben nicht mehr oder weniger kritikwürdig, als die cis Männer auf der Plattform.

Warum sind die antifeministischen Rants, der Hass und die politisch inkorrekten Witze, die teilweise jede Grenze zu ’schwarzem Humor‘ überschreiten, okay, Produktplazierungen und Freizügigkeit aber nicht? Warum ist eine Fehde zwischen cis männlichen Youtubern selten ernst, der geballte und gesammelte Hass gegen die wenigen Frauen, die auf der Plattform große Zahlen haben, aber immer?

Kontroversen auf Youtube und Kritik auf Youtube haben ein Problem, das viel weiter geht, als ‚bloßer‘ Sexismus – es ist mehr als reine Kumpelkultur. Dahinter steckt das System, dass ein Großteil der Youtubekanäle, die sich kritisch äußern, politisch mit den Kritisierten übereinstimmen. MontanaBlacks Frauenhass ist krass, aber Feminismus ist schlimmer. Man kritisiert offen, wenn es um Clickbait geht, Produktplazierungen bei Youtuber*innen mit junger Basis, unsinnige Thumbnails, Freizügigkeit bei Frauen – aber nicht bei politischen Dingen, die antifeministisch und rassistisch sind. Weil das so implementiert in die Youtubekultur ist, dass jeder so denkt. Zumindest die, die kritisieren. Und weil man sich nicht politisch positionieren möchte, zumindest, wenn es um Feminismus geht. Rassismus wird kritisiert, Homophobie auch, beide jedoch nur bei offensichtlichen Fällen. So wird der offen homophobe Youtuber und Rapper Mert Ekşi kritisiert, andere Youtuber*innen, die homophobe Aussagen machen, ohne klar dazuzusagen, dass sie homophob sind, jedoch nicht.

SJW, Feminismus und Antirassismus werden als schlimmer gewertet, als Witze gegen Minderheiten, Frauen und die LGBTQA+ Community. In ihrem Bemühen, unpolitisch zu sein, ordnen sich die Kanäle klar politisch ein: gegen Feminismus, Gleichberechtigung, Antirassismus, etc. Sie stilisieren sich als politisch links und teilen einige der Meinungen, denunzieren jedoch die Organisationen dahinter, um weiterhin Slurs in Streams droppen zu können oder ab und an mal einen homophoben Witz zu reißen. Das, was sie Meinungsfreiheit nennen, ist Hass und Aggression, gegen Randgruppen, Minderheiten und Communities. Ob ihnen das bewusst ist oder nicht, kann man bei manchen Kanälen ehrlich nicht sagen, weil sie ja nicht reflektieren müssen, da ihre Fanbase ihnen das abnimmt.

Reichweitenverantwortung ist auch, dass man reflektiert, statt sich hinter den Fans zu verstecken, die einen stützen, ganz gleich was man tut. Reichweitenverantwortung ist, die eigene Community als mehr zu sehen, als eine homogene Masse an lieben Menschen, und Verantwortung zu übernehmen, wenn man die Fanbase auf Menschen loslässt, die einem nichts Böses wollen, weil man verlernt hat, Kritik anzunehmen.

Online Grenzen aufbrechen? Ein Blick auf Uni-Twitter

Online die Uni-Grenzen aufbrechen_

Online Grenzen aufzubrechen?

Ein Blick auf Uni-Twitter


Disclaimer: Es handelt sich bei dem folgenden Meinungsartikel um eine persönliche Beobachtung, die keinen Anspruch auf Objektivität und Vollständigkeit hat. Im Folgenden wird vor allem über die Geisteswissenschaft gesprochen, nicht über andere wissenschaftliche Gruppierungen, die sich eventuell ebenfalls online austauschen.


Online-Uni auf Twitter – ein Experiment

Schon bevor im letzten Semester (Sommersemester 2019) mehrere Dozierende an deutschsprachigen Universitäten Seminare zum Thema ‚Relevante Literaturwissenschaft‘ anboten, sammelten sich auf dieser Plattform zahlreiche (Uni-)Persönlichkeiten: Studierende im Bachelor, Master, älteren Studiengängen und im Staatsexamen, (Post-)Doktorand*innen, Lehrende, Lehrer*innen, Professor*innen, Aussteiger*innen, Quereinsteiger*innen und Beobachtende. Ein bisschen fühlte es sich an, als säße man mit einigen hundert Leuten in einem Saal und alle sind Gasthörende. Vorne steht jede Woche, nein jeden Tag, nein jede Stunde, nein jede Minute eine andere Person, die über ihr Fachgebiet, ihre Expertise und/oder ein Forschungsprojekt spricht. Hat man Interesse, dann bleibt man, wenn nicht, kann man weiterscrollen und jemand anderes bietet etwas an.

Twitter ist schnelllebig. Das wird oft als negative Eigenschaft genannt, wenn man es im Hinblick auf Kommunikation und Nutzen für die Universität betrachtet. Auch die Ansammlung an Menschen, die alle einen anderen Hintergrund und Bildungsgrad haben, wird gerne kritisch betrachtet. Aber genau das macht den Reiz aus: Alle sind gleichauf. Es wird nach Interessen getrennt diskutiert, nicht zwingend nach Hierarchie (obschon es in der Hinsicht oft gewisse Tendenzen gibt).

Ich glaube nicht, dass irgendjemand erwartet, dass eine Plattform wie Twitter jemals Seminare ersetzen oder einen ähnlichen Zweck wie Vorlesungen erfüllen wird – es geht vielmehr um interessante Ergänzungen/Angebote. Die Grenze zwischen der festen Institution Uni und der wissenschaftlichen Blase in sozialen Medien wurde mit den Seminaren überschritten. Studierende hatten nun (je nach Seminar) die Aufgabe mitzumischen und diese Umgebung für sich zu nutzen. Es war ein Experiment, was laut offiziellen Stimmen und Erfahrungsberichten (von Studierenden und Lehrenden zugleich) gut lief.

Gemeinsam Grenzen aufbrechen?

Das Ziel war es, je nach Seminarthema, Grenzen aufzubrechen. Dozierende führten ihre Studierenden durch die Grenzen zwischen Skandal und Ethik, Gesellschaft und Literatur, digitaler und analoger Sichtweise. Dazwischen sammelten sich Außenstehende, wie ich etwa, die passende Vorlesungen in einigen Tweets zusammenfassten, mit den dazugekommenen Studierenden diskutierten und/oder weiterhin ihre Projekte und Texte zu ähnlichen Themen veröffentlichten. Literaturbetrachtung im digitalen Zeitalter ist interdisziplinär – das lernten nicht nur die Studierenden in den letzten Monaten.

Zwischen Blogs/Twitter und dem ‚offline‘ Seminar entstand eine Lücke, die nicht alle Seminarteilnehmer*innen in dem Zeitraum des Semesters schließen konnten und das ist absolut verständlich. Chancen aufzeigen ist das eine, aber in wenigen Wochen nicht nur über literarische Themen sprechen, sondern gleichsam auch einer Gruppe (junger) Menschen diese Online-Welt erklären und nahebringen, ist eine doppelte Belastung für alle Beteiligten.

Zumal die Studierenden auf eine Wand trafen, die erst langsam abgebaut werden musste. Eigene Zurückhaltung und die generelle Überforderung (durch die schnelle Natur der Online-Wissenschaftler*innen bedingt) kombinierten sich und viele blieben still, was schade ist, aber nachvollziehbar. Es ist schon schwer genug die inneren Kreise aufzubrechen, wenn man seit Monaten dabei ist. Als Neuling auf einen so große Anzahl an Menschen zu treffen, die sich alle (lose) kennen und wie gewohnt ihre Projekte/Gedanken vorstellen und diskutieren, ist – mir fällt kein besseres Wort ein – krass. Zumal man nebenbei noch die Ansprüche des Seminars erfüllen möchte und man nur wenige Wochen Zeit hat, um in diese ‚Blase‘ einzudringen.

Die Grenzen des Twitter-Seminars

Trotz all des Lobs ist das Projekt nicht perfekt und es stechen negative Aspekte hervor, über die man sprechen muss, wenn man diese Art von Projekten weiterführen möchte: die Überforderung, der Arbeitsaufwand, der nicht immer als solcher gesehen wird, weil wir soziale Medien eigentlich als Pause betrachten und die etablierten Strukturen, die nicht immer Platz für Neulinge bieten, um nur einige zu nennen.

Eine Sache, dir mir auffiel, ist, dass Dozierende oft nicht die Grenze ziehen, zwischen Seminar und sozialen Medien. Das Ziel ist es unter anderem, beides zu verbinden, aber das geht nicht immer. Seminarsitzungen enden regulär nach ein paar Stunden, Twitter endet nicht. Die Diskussion wird weitergeführt, ob man da ist oder nicht. Das ist auf Dauer sehr anstrengend, wenn einem gewisse Softskills fehlen. Einschätzen, wo man ‚erwünscht‘ ist, wo man Pausen einlegen kann, den Zwang dahinter abbauen – Universität mit einer Freizeitaktivität verbinden geht nicht ohne Weiteres. Vor allem, da die Dozierenden zwischen intellektuellen Tweets und – ich sage mal ~anderen~ Tweets (wie Insider und unsinnige/spaßigen Tweets) – hin und herwechselten, wie sie es gewohnt sind – ohne daran zu denken, dass Menschen, die neu auf Twitter und eigentlich nur für die Uni dort sind, dem nicht direkt folgen können/wollen und sich dadurch vielleicht auch ausgeschlossen fühlen. Die Softskills, die es braucht um zwischen Spaß und Uni auf einer Plattform wie Twitter fließend zu wechseln, muss man sich aufbauen. Das ist nicht bei allen vorausgesetzt. Ich spreche hier über neurodiverse Menschen, aber auch über Studierende in frühen Semestern, die nicht zwingend bereit sind, ihre Dozierenden so privat und nah kennenzulernen.

Eine weitere Beobachtung ist, dass oft oberflächlich inklusiv gesprochen und gehandelt wird – alle können mitmachen, jede Stimme ist erwünscht – aber die Strukturen dahinter nicht so offen sind, wie man es online gewohnt ist. Feminismus, Anti-Rassismus, Anti-Faschismus – soziale Medien sind politisch. Seminare an der Universität können nicht immer politisch sein und widersprechen aufgrund von alten Strukturen oft diesen Prinzipien. Man spricht auf Twitter über Sexismus oder die Vermeidung von Slurs, wie dem N-Wort oder den problematischen Bezeichnungen für Sinti und Roma – und dann liest man an der Uni Werke/Sekundärliteratur, die diese Wörter beinhalten oder sexistisch sind, weil die Literatur an Universitäten (schon alleine aufgrund ihres häufig fortgeschrittenen Alters) in fast allen Fällen nicht politisch korrekt ist und es den Anspruch auf Kritik daran nicht in jedem Seminar gibt.

Für die Seminarleitenden ist es zusätzliche Arbeitslast, diese beiden Entwicklungen parallel zu behandeln, das anzusprechen und da kritisch genug für Twitter zu sein. Auch weil Kritik an Strukturen der Uni selbst sowie an den Büchern und Aufsätzen von wichtigen Wissenschaftler*innen und Kolleg*innen nicht immer möglich ist. Das macht man in der Universität nicht – auf Twitter hingegen schon. Diese Plattform, bekannt dafür, dass man Probleme ankreidet und offenlegt, lässt sich nicht mit den Regeln der Universität vereinen.

Für wen ist das Ganze eigentlich?

Am Ende des Experiments steht für mich die Frage im Raum, wer daran eigentlich profitiert. Natürlich haben die Studierenden etwas dabei gelernt, zumindest nehmen wir das jetzt einfach mal an – sei es nun über die Seminarinhalte oder im Bezug auf Uni-Twitter. Aber die, die wirklich etwas aus dem Experiment ziehen, sind doch die Lehrenden, oder?

Die Meinung von Kolleg*innen ist mehr wert, als die von Studierenden – das ist normal. Und dieses Projekt bot eine Plattform, um sich online für alle Kolleg*innen sichtbar zu profilieren; sich einen Namen zu machen, in dem man Grenzen überschreitet und zu testen, inwiefern man die etablierten Strukturen auf Twitter zur Lehre nutzen kann. Ich sage nicht, dass das schlecht ist – aber dass ich mir da mehr Transparenz wünschen würde. Was sich Dozierende an diesen Seminaren erhoffen, interessiert sicher nicht nur mich und das man sich als Nachwuchswissenschaftler*in profilieren und herausstellen will/muss ist allen klar.

Genderbias und Privilegien – die Chancen und Probleme der ‚Twitter-Seminare‘

Zu den positiven Auswirkungen und Chancen zählt, dass sich eine große Gruppe an Menschen online bildet und austauscht und Studierende da mehr mitmischen sollten. So werden die elitären Gruppierungen aufgebrochen und es bleibt inklusiver für alle Beteiligten, auch die ohne Doktortitel. Dazu passt auch, dass es vor allem junge Menschen auf diese Plattform zieht und sich so Studierende mit jungen Wissenschaftler*innen austauschen – es herrscht eine gemeinsame Basis. Man muss nicht lange über den Nutzen von sozialen Medien diskutieren, weil beide Parteien diese bereits für sich entdeckt haben. Man kann also einen Stufe weiter oben ansetzen und das tut, gerade wenn man an den Unis viel im ‚für-mich-lohnt-sich-das-nicht-mehr‘-Ton über soziale Medien spricht, einfach gut.

Durch die Gruppen an Menschen, die oben genannt wurden, werden Studierende mit Personen konfrontiert, die andere Fächer studieren und lehren, ausgestiegen sind, später eingestiegen sind, etc. Der Pool der Erfahrungen und Themen ist groß, die Grenzen der Uni-Hierarchie werden abgebaut und vor allem sehen sie, was man alles werden kann, wenn man eine Geisteswissenschaft studiert. Jede*r hat eine andere Werdensgeschichte und man wird nicht so schnell entmutigt, wenn man mal eine schlechte Note hat oder ein Ziel nicht erreicht. Es gibt immer jemanden, der einen ähnlichen Weg hat(te) und einen versteht und stützen kann.

Das wohl wichtigste Argument für mich ist aber, dass Twitter die alteingesessenen Akedemiker*innenfamilien-Strukturen aufrüttelt. Durch akademischen Austausch auf sozialen Medien kann jede*r Kontakte knüpfen, die sonst einer elitären Schicht vorbehalten waren. Berufs- und Bildungschancen, Mentor*innen, Praktikumsstellen – der Austausch führt zu einer Annäherung an Chancengleichheit zwischen Arbeiter- und Akademiker*innenfamilen. Es gibt selbstredend viele weitere Privilegien, die Arbeiter*innenkinder an Unis nicht haben, aber Twitter öffnet das System zumindest an dieser Stelle ein wenig.

Einer der negativen Aspekte an diesem Experiment ist – ironischerweise – die ständige Öffentlichkeit. ‚Unnötige‘ Fragen und Missverständnisse, wie sie bei Studierenden auftauchen dürfen, werden online auf eine Bühne gestellt, die nicht nur einschüchtert, sondern auch verhindert, dass diese Fehltritte verschwinden. Sie sind auch nach der Seminarsitzung noch da und werden nicht so schnell vergessen, wie mündliche Sprechbeiträge. Gerade wenn man auf Twitter mit ‚ausgewachsenen‘ Wissenschaftler*innen schreibt, traut man sich nicht, Fragen zu stellen oder offen Unwissen zuzugeben, weil man sich nicht bloßstellen will. Das heißt aber auch, dass man eine Lern-Gelegenheit verpasst. Seminare sind, gerade in frühen Semestern, eine kleine Safespace, in der man scheitern darf – sogar muss – und gemeinsam lernt. Auf Twitter kann es passieren, dass man die einzige Person in der Unterhaltung ist, die etwas nicht weiß. Man ist als Studierende*r teilweise alleine und das ist sehr einschüchternd.

Die Hierarchie, die man aus der Uni kennt, verschwindet zudem auch auf Twitter nie ganz. Man steht noch immer irgendwie außen vor, weil die Dozierenden sich alle kennen und gemeinsam twittern und das ist normal – es ist immerhin ein soziales Netzwerk – aber das macht es nicht weniger deprimierend, weil man weiß, dass man nicht wirklich dazugehört. Zumindest geht es mir so und ich bin schon lange dabei. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man komplett neu dazukommt und diese Mechanismen noch nicht kennt. Die Grenze zwischen Freundschaft und Hierarchie verschwimmt und man muss aufpassen, dass man keine Linie überschreitet, die man als Student*in nicht passieren darf. Twitter ist offen für alle, das stimmt, aber es bilden sich Freundschaften, aus denen man ausgeschlossen wird, wenn man als Student*in den eigenen Dozierenden gegenüber steht. Es ist schwer, manchmal nicht enttäuscht zu sein, wenn man realisiert, dass man eben doch in der Rolle der Studierenden festsitzt.

Das zieht sich in Bereiche, in denen man über das Privatleben schreiben will, über eine schlechte Note, eine Enttäuschung, etwas außerhalb der Uni – Dinge, für die soziale Netzwerke eigentlich herhalten – und dann realisiert man, dass die Dozierenden mitlesen. Diese Uni-Struktur auf Twitter macht die Safespace jener kaputt, die es neben dem Unikram auch zum Zeitvertreib nutzen. Man möchte nicht, dass die eigene Uni (Dozierende und Kommiliton*innen) das sehen. Die Grundprämisse sozialer Medien wird dadurch dezimiert.

Schließlich sind soziale Medien generell gut für die Inklusion, bringen aber neue Problematiken mit sich. Frauen und weiblich Gelesene können auf Twitter beispielsweise nicht immer so offen schreiben, wie Männer. Viele soziale Netzwerke haben einen Genderbias, der auch in der Uni vorkommt und so bedingen sich diese beiden Mechanismen sehr gut. Als Dozierende*r muss man ein Auge darauf haben, was wieder zusätzlichen Arbeitsaufwand bedeutet.

‚Fazit‘

Ich will kein wirkliches Fazit schreiben, weil ich nicht direkt bei dem Projekt mitgemacht habe. Ich bin lediglich eine Studentin, die seit einigen Monaten diese Twitter-Entwicklung beobachtet und mitgestaltet (zumindest rede ich mir das ein). Ich weiß auch ehrlich nicht, was überwiegt – das Positive oder das Negative. Uni-Twitter hat sehr gute Auswirkungen auf mich, schlägt aber auch schnell das Selbstbewusstsein an und treibt einen in den Zweitaccount, weil man ein Outlet benötigt, aber vor den ganzen schlauen Menschen nicht zugeben will, dass es einem schlecht geht.

Meine Hoffnung ist es, dass dieser Artikel zukünftige Seminare in eine Richtung beeinflusst, die es Studierenden einfacher macht, in die Uni-Twitter-Welt einzusteigen. Ich will hiermit aber vor allem auch eine kritische Stimme bilden, die, bei all dem Lob, auch die Problematiken der letzten Monate aufgreift und hervorhebt.

Jungfräulichkeit in der westlichen Kultur

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Jungfräulichkeit in der westlichen Kultur


TW: Sexuell explizite Bilder, sexuell explizite Sprache, sexualisierte Gewalt, Rassismus, Sklaverei (nur Nennung), Heteronormativität, Transmisia, Antisemitismus, Gadje-Rassismus, Nationalsozialismus, Genitalverstümmelung (nur Nennung).


Dieser Blogtext wird euch kostenfrei zur Verfügung gestellt, falls ihr mich und meine Arbeit unterstützen wollt, könnt ihr das hier: Paypal.


Disclaimer: Im folgenden Text soll das Phänomen der Jungfräulichkeit in der westlichen Medienlandschaft und (Pop)Kultur diskutiert werden, dafür muss sich leider an einigen Stellen auf heteronormative und transexkludierende Sprache/Forschung berufen werden. Es wird sich bemüht, diese als problematisch zu kennzeichnen und – wenn irgendwie möglich – auf sie zu verzichten. Leider ist die Forschung und die Sprache in diesem Bereich nicht weit genug, um zu 100% auf solche menschenfeindlichen Darstellungen und Sprachmuster zu verzichten. Dafür entschuldige ich mich im Voraus.


Gibt es eine historische Jungfräulichkeit?

Denkt man an Jungfräulichkeit, so ist die erste Assoziation (zumindest aus kunsthistorischer Sicht) die Jungfrau Maria und ihre unbefleckte Empfängnis. Maria, die dafür bekannt ist, als Jungfrau ein Kind bekommen zu haben. Jungfräulichkeit wird im christlichen Glauben (und damit auch in der stark von ihm beeinflussten westlichen Kultur) spätestens seit Maria mit Reinheit und Erhabenheit gleichgesetzt. Doch Jungfräulichkeit als Motiv ist sehr viel älter als Maria und historisch heteronormativ.

ggIn der Frühantike gab es das Statuenmotiv der ‚tiefgegurteten Nymphe‘, das in der hellenistischen Hochphase der Antike weiter bearbeitet und ausgebaut wurde. Diese Abbildung weist auf eine Art Jungfrauengürtel hin, der für die Keuschheit der jeweiligen Frauen steht. Der Begriff ‚Nymphe‘ bezeichnet sowohl Halbgöttinnen als auch junge Frauen ab der Pubertät bis zu ihrer Hochzeit und noch spezifischer eine Braut an ihrem Hochzeitstag. Mit dem (halb)göttlichen Part wird vor allem Fruchtbarkeit assoziiert, die auf die jungen Frauen übertragen wird, die ab der Pubertät Reproduktionsfähigkeit besitzen. Bei einer Hochzeit wurde der Nymphe als Hochzeitsgöttin etwas geopfert – in der Zeit davor werden die jungen Frauen und Nymphen generell tiefgegürtet dargestellt. Der Gürtel symbolisiert ihre Reinheit, Unschuld und – am wichtigsten von allem – ihren Glauben. Auch die Tempeldienerinnen waren jungfräulich und ihre ‚Verunreinung‘ durch lüsterne Götter macht mehrere Kapitel in der griechischen und römischen Mythologie aus. Religion fungierte über Jahrhunderte hinweg aber auch als Schutz für Frauen, wie Elizabeth Castelli in Virginity and Its Meaning for Women’s Sexuality in Early Christianity schreibt. Wie effektiv dieser Schutz war/ist, ist jedoch in Frage zu stellen, wie sich an den jüngeren Skandalen in der katholischen Kirche zeigt.

Jungfräulichkeit und Religion stehen seit Jahrtausenden in direkter Korrelation. Diese religiös-motivierte Ambivalenz zwischen gut und böse, rein und unrein, jungfräulich und sexuell aktiv besitzt einen Genderbias, der an dieser Stelle nicht außen vor gelassen werden darf. Der erste große Hinweis auf ein geschlechterbasiertes Ungleichgewicht ist das Wort ‚Jungfrau‘, beziehungsweise ‚Jungfräulichkeit‘ – beides Begriffe, die wir im modernen Kontext auch für Männer/männlich Gelesene verwenden, obwohl sie sich historisch und sprachlich auf ‚junge Frauen‘ beziehen. Von Männern wird (je nach Zeit/Kultur/Stand) erwartet, bereits vor der Ehe sexuell aktiv zu werden – beziehungsweise wird es mindestens nicht sanktioniert oder zwingend auf ihre Mangel an Religion und Charakter zurückgeführt. Die Frage ist: Wenn von jungen Frauen erwartet wird bis zur Ehe zu warten, wo sollen junge Männer dann eine Partnerin finden? Dieses System setzt sexualisierte Gewalt, Untreue und/oder Sexarbeit voraus, wobei es jedoch den weiblichen Part in dieser Gleichung automatisch abwertet. Weibliche Sexualität muss existieren, um die Anforderungen an Männer zu erfüllen, wird gleichsam jedoch als unmoralisch und unrein konnotiert.

Sexuelle Inaktivität wird, in ihren Wurzeln, schon immer auf Frauen/weiblich Gelesene reduziert und zugeschnitten. Wann immer (im historischen Kontext) auf eine sexuell inaktive Person hingewiesen wird, geschieht dies mit Verweis auf deren weiblich konnotierte Geschlechtsmerkmale. Auch, wenn die Person männlich ist/gelesen wird. Ist ein Mann sexuell (noch) nicht aktiv, so ist er eine ‚Pussy‘ oder ein ‚Mädchen‘ oder wird mit ähnlichen weiblich konnotierten Beleidigungen konfrontiert. Dies beginnt bereits im Mittelalter, bei Werken wie der mittelhochdeutschen Versnovelle Helmbrecht von Wernher dem Gärtner (zwischen 1250 und 1280). Aber auch aktive Sexualität wird von weiblich konnotierten Geschlechtsmerkmalen und Reifemerkmalen abhängig gemacht. So ist Sexualität immer von dem Eintritt der Periode bestimmt, erst dann kann historisch gesprochen geheiratet werden, denn erst dann ist es möglich Kinder zu zeugen. Das Alter und die Reife des Mannes sind nicht wirklich entscheidend. Jungfräulichkeit wird an das Hymen geknüpft, was nur in weiblich gelesenen Körper existiert und weibliche Sexualität darf in historischem Kontext nur dann existieren, wenn daraus Kinder entstehen können, alle anderen Formen sind tabuisiert.


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Lilith, John Collier (1892)


Blut und Schmerzen – ein toxischer Mythos

Jungfräulichkeit als Konzept tritt in vielen Muster auf. Besieht man sich die weibliche Entjungferung, so trifft man auf Bilder und Informationen, die Angst hervorrufen und Sexualität als etwas Schmerzhaftes konnotieren. Diese Motive haben einen gemeinsamen Nenner: das Hymen, auch Jungfernhäutchen genannt.

Die Vorstellung vieler (gerade junger) Menschen ist, dass diese ‚Haut‘ bei der ersten Penetration einreißt und dabei Schmerzen verursacht, die die Person mit Vagina ertragen muss, da dies eben ’natürlich‘ und ’normal‘ sei. Doch ist man sich in der Forschung seit Jahrzehnten bewusst, dass dies ein gefährlicher Mythos ist:

Abundant myths exist in different cultures portraying hymen as the icon of spotlessness obligatory to be cracked at the first night of marriage but the reality discloses it as a very subtle mucosal tissue lining the vaginal opening procuring different shapes and may be thin, elastic, thicker and less stretchy. […]

Some [people with hymens] contemplate that this tissue must break at the first penile penetration but this ‚first time‘ belief is a myth. […] In some […] a small amount of this tissue may break out but this may not necessarily happen for the very first time. Sexual intercourse must occur when [the person with the hymen] is aroused, relaxed, lubricated where the penetration must be done slowly if it is the first time as in such cases question of bleeding can be ignored. Forceful penetration may upshot in bleeding however, some women bleed due to non-flexible nature of their hymen.

(Dr. Navodita Maurice, Hymen and Virginity: A Social Humiliation, 2015)

Bevor man sich mit der Umsetzung in Medien und Kultur beschäftigt, muss man zunächst diese Mythen adressieren und widerlegen. Denn was Dr. Navodita Maurice schreibt, ist leider nicht so bekannt, wie es sein sollte. Hymen sind keine magischen Vagina-Siegel, die bei dem ersten sexuellen Kontakt automatisch brechen. Sie sind dehnbar und reißen oft gar nicht oder durch Aktivitäten, die nichts mit Sex zu tun haben, wie bei generellem Sport, Reiten, Fahrradfahren, etc. – ein Grund, warum Frauen in manchen Zeitabschnitten verboten wurde, diese Aktivitäten auszuüben.

Der Mythos einer schmerzhaften Entjungferung ist etwas, was bis heute als Allgemeinwissen gilt. Heteronormativer Sex muss für Menschen mit Vagina, zumindest die ersten paar Mal, wehtun – so heißt es. Das ‚erste Mal‘ wird von Medien, populärer Kultur und über Generationen weitergegebenes Halbwissen so spezifisch als unangenehm und schmerzhaft definiert, dass viele es erst später in ihrem Leben hinterfragen. Die Schmerzen kommen, wie Maurice in ihrem Rechercheartikel festhält, von erzwungener Penetration oder fehlender Vorbereitung. Die Idee, dass Sex etwas ist, was Menschen mit Vagina im jungen Alter nicht mögen können (und dürfen) wird durch Jahrhunderte des Patriarchats gefestigt. In diesem wird die Unterdrückung von weiblicher (bzw. als weiblich gesehener) Sexualität durch ebensolche Mythen erreicht. Hinzu kommt, dass die Schmerzen als Grundlage für die Entjungferung ein Weltbild stützen, in dem die Person mit Vagina gegen ihren Willen entjungfert wird – etwas was besonders in Medien, die an das Mittelalter angelehnt sind, gerne aufgegriffen und als Fakt verkauft wird.

Auch das Bluten bei der Entjungferung ist Teil dieser Darstellung und wird, gerade in der Serie Game of Thrones, deutlicher noch in den Büchern dazu, zu etwas stilisiert, was Grauen und Ekel, aber auch Faszination hervorrufen soll. Dies läuft unter zwei Annahmen:

  1. Wenn die Person nicht blutet, hatte sie schon Sex.
  2. Blut ist ein Anzeichen dafür, dass der Sex nicht einvernehmlich ist.

Die erste ist, wie in diesem Beitrag nun geklärt wurde, nicht wahr. Nicht alle Menschen mit Hymen bluten beim ersten Mal, das Hymen kann beim Sex gar nicht reißen oder bereits zuvor gerissen sein.

Hinter der zweiten Annahme steckt etwas, was nicht einfach als falsch gedeutet werden kann. Denn ja, das generelle Konzept von Schmerzen und Blut bei der Entjungferung kommt aus dem Gedanken, dass Sex für Menschen mit Vagina beim ersten Mal nicht angenehm sein kann/darf und die Person dabei bluten wird. Die automatische Verknüpfung von Gewalt/Schmerzen und Blut ist trotzdem nicht gerechtfertigt, denn auch wenn die sexuelle Handlung angenehm und einvernehmlich ist, kann es, je nach Körper, zu leichten Blutungen kommen. Diese dürfen nicht mit dem gewalttätigen Unterton solcher Szenen gleichgesetzt werden.


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Three Ladies Adorning a Term of Hymen, Joshua Reynolds (1773)


Der westliche Zwiespalt

Die Tatsache, dass wir Jungfräulichkeit an die Existenz eines kleinen Häutchens knüpfen, was nur Menschen mit Vagina haben, ist lächerlich, wenn man genauer darüber nachdenkt. Nicht-westliche Kulturen haben einen traditionell anderen Umgang mit Sexualität und Jungfräulichkeit, der im Zuge der Kolonialisierung an westliche Standards angepasst wurde – eine negative Entwicklung für Menschen mit Vagina in diesen Bereichen der Welt. So schreibt Eric Julian Manalastas über Jungfräulichkeit in den Philippinen, dass junge Frauen für ihre Sexualität bestraft werden, wohingegen junge Männer darin bestätigt werden – dieses Konzept von sexueller Männlichkeit und asexueller Weiblichkeit kommt aus der westlichen Kultur und wurde in die ganze Welt exportiert. Neben der Tatsache, dass es ganze Kulturen beeinflusste und das Bild von weiblicher Sexualität global veränderte sorgt es auch dafür, dass sexualisierte Gewalt normalisiert wird, denn die Frau/Person mit Vagina als passiver Teil und der Mann/die Person mit Penis als aktiver (sich etwas nehmender) Teil kommt genau aus diesem Weltbild.

Respekt und Jungfräulichkeit werden traditionell miteinander verbunden und gerade im westlichen Mittelalter entwickelten sich Strukturen, die jungfräuliche Frauen (und generell Menschen mit Vagina) als besonders rein – und begehrenswert kennzeichneten. Hier wurde die Jungfrau von einem Symbol für Reinheit zu einem Sexsymbol. Der Reiz des frischen, ‚reinen‘ und (noch) nicht eroberten Körper brachte gefährliche Konsequenzen mit sich. Ein Zwiespalt entwickelte sich: Einerseits wurde die sexuell inaktive Frau als Reinheitssymbol der Religion gefeiert, andererseits wurden nun aber alle Frauen, die begehrenswert erschienen, als Jungfrau stilisiert und tatsächliche Jungfrauen zum Sexsymbol erklärt.

Um es deutlich zu sagen: Jungfrauen wurden sexuell begehrt, verloren aber in der Sekunde, in der sie diesem Drang nachgaben (oder dazu gezwungen wurden) ihren Status und ihren Reiz. An dieser Entwicklung wurde ihnen dann selbst die Schuld gegeben.

Die Glorifizierung von Jungfrauen kann anhand von bekannten weiblich gelesenen Persönlichkeiten in der Geschichte verfolgt werden, wie etwa Joan of Arc und Königin Elizabeth I. Ob diese wirklich jungfräulich waren, ist im Endeffekt egal, denn die Menschen ihrer Zeit und alle, die folgten, begannen Zölibat, ‚Asexualität‘ und Verweigerung der Heirat in ihre ‚Marke‘ zu integrieren und es zu einem wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit zu stilisieren, der historisch betrachtet nicht zwingend auf Fakten beruhen muss. Gerade historische Frauenfiguren, die sich Gott verschreiben und auf Sex verzichten, verkaufen sich gut – so schlimm es auch klingt. Schriftsteller*innen, Geschichtsschreiber*innen, Journalist*innen, Regisseur*innen, und weitere Medienproduzent*innen, die unser Bild von Kultur und Geschichte prägen, wissen, was Menschen lesen/hören/sehen wollen. Geschichten von Frauen, die sich widersetzten und rebellierten, sind ohne die sexuelle Komponente einfach nicht interessant genug. Es braucht einen Skandal oder eine Verweigerung, um weiblich gelesene Persönlichkeiten berühmt zu machen.

Dieser westliche Zwiespalt übt(e) sich negativ auf junge (weiße) Frauen aus, aber wie eigentlich immer in unserer Geschichte, traf es andere wesentlich härter. Denn die Reinheitsvorstellungen führten dazu, dass im Zuge des Kolonialismus alle weiblich gelesenen, die nicht weiß waren, automatisch als unrein gesehen wurden; auch der religiöse Schutz fiel weg – sie waren also der sexualisierten Gewalt seitens der Kolonialmächte ausgeliefert, ohne dass jemand dafür bestraft werden konnte. Sie konnten aus dem westlichen Weltbild heraus nicht weiter verunreinigt werden, erhielten keinen Schutz aus der christlichen Religion und waren für Ehen ungeeignet, womit also auch keinem zukünftigen Mann etwas weggenommen wurde. Die Sexualisierung von nicht-weißen Frauen und weiblich Gelesenen spielte ebenfalls in diese Sichtweise hinein und ihre Ausläufer können wir bis heute sehen. Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben, wird eher geglaubt, wenn sie weiß sind und die sexuelle Selbstbestimmung von weißen Frauen gilt als schützenswerter als die von BIWoCs.


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Au Salon de la Rue des Moulins, Henri de Toulouse-Lautrec (1894)


Die Rolle der populären Kultur

In der populären Kultur wird seit dem 18. Jahrhundert ein gewisser Standard evoziert, der Jungfräulichkeit zu einem eigenen Thema macht. Der Keuschheitsgürtel ist ein gutes Beispiel hierfür. Historisch gesehen war der Gürtel ein Schutz vor sexuellen Übergriffen, der nur sehr selten tatsächlich genutzt wurde. Durch mediale Darstellung in der populären Kultur ab etwa 1750 (besonders in der Mittelalterromantik ab 1800) wurde er zu einem Zeichen der Überwachung und des „Auf-die-Ehe-Wartens“. Der strenge Vater, der die Sexualität seiner Tochter kontrolliert und dabei versagt wurde zu einem Symbol im Bürgerlichen Trauerspiel. Die Jungfräulichkeit als Tauschgut, als Wert der jungen Frauen, setzte sich fest in der Gesellschaft ab. Vermutlich noch fester, als wir es vom Mittelalter erwarten. Die Neuzeit war es, die diese Symbolik auf ein neues Level hob.

Diese Vorstellungen wurden in den 20ern teilweise aufgebrochen, als die (weibliche) Avantgarde-Literatur (Marieluise Fleißer) begann, mehr über sexuelle Stigmata zu schreiben und die Schande, die jungen Frauen/weiblich Gelesenen aufgelegt wurde, zu entpacken. Dies wurde nach dem Zweiten Weltkrieg lange verdrängt und erst in den 80ern wieder ausgepackt (Elfriede Jelinek).

Dazwischen begannen öffentliche Medien wieder auf alte Stereotypen zurückzugreifen, wie etwa sexuelles Erwachen bei jungen (unschuldigen) Frauen, die sexuell aktive Frau als böse/verrucht und mehr. In modernen Serien gibt es einen Zwiespalt zwischen altbackenen Mittelalterdarstellungen (wie Game of Thrones) und sexistischen Untertönen in eigentlich diversen Serien (Atypical (Darstellung der Frau als Mittel zum Zweck (Sex)), How to get away with murder (Jungfräulichkeitspackt, „Test“ zur Feststellung von Jungfräulichkeit, Slutshaming)). Selbst Serien wie Black-ish, die eigentlich solche Dinge entpacken, sind nicht immun gegen schlechte Recherche und Slutshaming gegenüber jungen Frauen. Wo der Sohn für sein erstes Mal gefeiert wird, bricht der Vater in Tränen aus, wenn er erfährt, dass seine erwachsene Tochter Sex hat.

Wenn in Serien wie Game of Thrones eine Vergewaltigung dazu führt, dass die Frau keine Jungfrau mehr ist, ihren Wert verliert und als „unrein“ gilt (Sansa Stark), aber einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Sex zwischen zwei Frauen nicht denselben Effekt hat (Margaery Tyrell) sendet das essenziell die Nachricht, dass eine Vergewaltigung eher als sexuelle Handlung akzeptiert wird, als Sex zwischen zwei Frauen.

Populäre Kultur spiegelt heteronormative und veraltet-sexistische Bilder von Sexualität wider und beeinflusst damit unser Denken und unsere Einstellungen – ohne dass wir es aktiv bemerken. Statt die Chance zu nutzen eine diverse Bandbreite von Jungfräulichkeit und Sexualität darzustellen, beruft sich die populäre Kultur auf sexistische, veraltete Standards. Wir haben kein Problem damit die sexuelle Erwachung von einer Vierzehnjährigen darzustellen oder sexualisierte Gewalt zu zeigen, aber Asexualität oder eine gesunde Beziehung von zwei Menschen, die nicht cis-hetero sind, geht zu weit. Wenn es in den Medien mal eine asexuelle Figur gibt, dann ist diese dick und weiblich – alles andere wäre ja „Verschwendung“. Und wenn es mal eine LGBTQ+ Figur gibt, so ist diese nicht geoutet oder wird gemobbt/verfolgt.


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The Flirtation, Eugen de Blaas (1904)


Männliche Jungfräulichkeit

Weiblich Gelesene stehen zwischen den Stühlen, wenn es um ihre Jungfräulichkeit geht; sie können es niemanden wirklich recht machen. Männlich Gelesene hingegen haben nur ein Ziel, wenn man den Medien glaubt: Sex. Die Vorstellung, die wir von jungen Männern haben ist, dass sie möglichst schnell sexuell aktiv werden wollen.

Ihnen wird abgesprochen, dass sie asexuell sein können oder auf die Ehe/richtige Person warten wollen. [Eines der wenigen Positivbeispiele ist Todd aus Bojack Horseman.] Damit schädigen wir nicht nur ihre Sicht auf Sexualität, sondern auch ihre Rolle in der Gesellschaft. Denn wenn wir – heteronormativ gesprochen – jungen Frauen beibringen, dass sie ja keinen Sex haben sollen, junge Männer aber dazu zwingen früh Sex zu haben, bleibt ihnen kaum eine andere Möglichkeit, als den weiblichen Part dazu zu überreden oder – im schlimmsten Fall – zu zwingen.

Männliche Jungfräulichkeit in den Medien dreht sich entweder darum, schnellstmöglich keine Jungfrau mehr zu sein oder – in seltenen Fällen – um religiösen Zölibat. Ansonsten spielt sie keine wirkliche Rolle. Wir nehmen bei jungen, männlich gelesenen Menschen einfach an, dass sie entweder bereits sexuell aktiv sind oder es sein wollen. Dementsprechend gibt es endlos viele Darstellungen von „coolen“ Teenagern, die ihre Freundin dazu überreden Sex mit ihnen zu haben, andere Jungen dafür auslachen noch Jungfrau zu sein oder ihre Freundin betrügen, weil sie „Triebe“ haben und diese sie nicht erfüllen wollte.

Diese „Triebe“ beruhen ebenso auf Pseudobiologie, wie der Umgang mit dem Hymen. Blue Balls wird als Begriff genutzt, um Frauen zu shamen, die einem Mann den Sex verweigern. Sein Sexualtrieb wird über die körperliche Selbstbestimmung der Frau gestellt.

Der Druck auf junge cis Männer möglichst früh sexuell aktiv zu sein schadet ihnen, übt sich jedoch ebenso negativ auf junge cis Frauen aus. Ihnen wird die Rolle des „Mittels zum Zweck“ zugeschrieben. Sie verlieren ihren „Wert“, damit der cis Mann seine Triebe erfüllen kann. Was sie wollen und welche negativen Auswirkungen dies auf sie haben kann rückt dabei in den Hintergrund.

Sex wird als etwas dargestellt, was vom Mann ausgeht. Die Frau erträgt es ihm zuliebe nur. Dabei ist es besonders wichtig, dass wir jungen Menschen zeigen, dass Sex mehr ist als Penetration und dass es immer mindestens zwei Personen benötigt, die es gleichermaßen wollen und sich der Konsequenzen bewusst sind. Verhütung spielt hierbei ebenfalls eine Rolle, denn cis Männer können nicht schwanger werden, was ihnen einen einfachen Ausweg aus der Diskussion um Verhütung ermöglicht. Die Konsequenzen sexueller Handlungen müssen von allen getragen werden, die an der Handlung beteiligt waren. Diese Grundsätze müssen vor allem jungen cis Männern klargemacht werden, bevor sie sexuell aktiv werden.

Wenn wir cis-männliche Jungfräulichkeit entpacken und die toxischen Zwänge ablegen wollen, müssen wir sie mit Verantwortung und Sexualkunde ersetzen, die Sex als etwas definiert, was Konsequenzen hat, nicht zwingend einen Penis beinhalten muss und nur stattfinden kann, wenn sich alle auf Augenhöhe begegnen und bereit sind eventuelle Konsequenzen gemeinsam zu tragen.


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La mort de Socrate, Jacques-Louis David (1787)


Heteronormativität und Jugendkultur

Die heutige populäre Kultur ist sehr sexorientiert. Alle Serien/Filme benötigen irgendeine Form der Sexualität. Dabei haben wir ein sehr definiertes Bild von Sexualität, in dem nicht alles gleichwertig ist. Wir wissen genau wann Sex passiert und warum – alles dreht sich um cis-männliche Triebe.

Bei Game of Thrones reicht eine Vergewaltigung, um einer Frau ihre Jungfräulichkeit zu nehmen. Dabei ist sexualisierte Gewalt nicht dasselbe wie Sex – die Frau muss keinen Sex haben, um als sexuelles, „verdorbenes“ Wesen gesehen zu werden. Wir wissen, dass wenn ein cis Mann Sex will, das auch passiert. Egal ob mit einem anderen cis Mann oder mit einer cis Frau. Der Penis ist der Fokus unseres Sexualitätsverständnis. Gleichgeschlechtlicher Sex zweier Frauen führt nicht dazu, dass sie im Sinne unseres Verständnisses ihre Jungfräulichkeit verlieren. Auch die sexuelle Erwachung von cis Frauen dreht sich in der Regel um einen cis Mann, der ihnen ihre „verruchte/schmutzige“ Seite zeigt. Der cis Mann ist der Held, die cis Frau verliert ihre Unschuld und ist nun ein sexuelles Wesen. Diese Darstellung kennt man aus Filmen, Serien, Büchern, Fanfiktions – sogar aus Videospielen.

Dabei ist Jungfräulichkeit nicht an einen Penis geknüpft! Penetration ist nicht das, was sexuelle Handlungen ausmacht. Ebenso wie das Hymen einer Person mit Vagina nicht bestimmt, ob sie „rein“ oder „unrein“ ist. Diese pseudo-medizinische Ansicht sorgt dafür, dass jedes Jahr mehr und mehr junge Menschen genital verstümmelt werden, um zu verhindern, dass sie ihre Jungfräulichkeit verlieren. Auch „Virginity-Testing“ existiert und hat furchtbare Ausmaße. Die Forscherinnen Benita de Robila und Louise Vincent untersuchen „Virginity-Testing“ in Südafrika und schreiben über die Konsequenzen für junge Menschen mit Vagina, die den Test nicht bestehen.

Sexualität dreht sich so sehr um traditionell männlich gesehene Geschlechtsorgane, dass junge Menschen nicht lernen, was Sex ist und was nicht. Sexualisierte Gewalt ist kein Sex. Sex ohne Penis ist Sex. Niemand muss Sex haben, um einen gewissen „Status“ zu erreichen, aber wenn jemand Sex haben will ist das alleinig die Verantwortung von ihnen den jeweiligen Partner*innen. Dem cis Penis wird in sexuellen Beziehungen alle Macht zugesprochen, dabei geht es um so viel mehr, als nur cis-männliche Befriedigung.

Die Heteronormativität sorgt dafür, dass wir weiblich gelesene Jungfrauen in Gruppen einteilen. Die einen sollen unbedingt Jungfrau bleiben und werden unter grausamen Methoden dazu gezwungen – die anderen sollen unbedingt heteronormativen Sex haben, da nichts anderes sie aus ihrer Rolle der Jungfrau herausheben kann. Es steht uncool aber unschuldig versus cool aber weniger wert.


Jungfräulichkeit wird in der LGBTQA+ Community anders definiert und ist um einiges Komplexer, als der westlich-heteronormative Standard. Hier einige Links zu Jungfräulichkeit/Sex bei trans Personen, Asexuellen und in der restlichen LGBQ+ Community.


Die heutige Jugendkultur ist sehr viel offener gegenüber diverser Sexualität, was oft dazu führt, dass der „neuen“ Generation eine Hypersexualität zugesprochen wird. Dem ist nicht so. Wir sind heute nicht sexueller als Generationen vor uns, wir haben nur die Chance unsere Sexualitäten offen zu leben. Ganz gleich welche Sexualität wir haben und inwiefern wir uns dazu entschließen sexuell aktiv zu werden.


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Punning visually on the lute in this brothel scene, Gerrit van Honthorst (1625)


Pornografie und (früh) Sexualisierung

Ein Grund für diese Öffnung ist Pornografie.

Pornografie wird generell tabuisiert, dabei ist es das einzige Medium, in dem Sex wirklich eine Rolle spielen muss – anders als in Serien/Filmen/Büchern/Videospielen ist die Grundprämisse eine einvernehmlich sexuelle Handlung zwischen zwei erwachsenen Menschen. Selbst wenn die Handlung nicht als solche dargestellt wird – legale Pornografie funktioniert nur, weil die Schauspieler*innen dahinter diese Ansprüche erfüllen.

Der richtige Umgang mit Pornografie kann jungen Menschen viel über Sex beibringen. Die Absprache hinter der Kamera, die Verhütung und vor allem die gemeinsame Grundlage, dass alle mit den geplanten Handlungen einverstanden sein müssen.

Die (berechtigte) Angst vieler Erwachsenen ist, dass Pornografie ein Bild von Sex vermittelt, was nicht der Realität entspricht. Dem ist auch oft so, allerdings werden junge Menschen so oder so mit diesen Bildern konfrontiert. Der Unterschied ist, dass wir die Darstellung von sexualisierter Gewalt in Serien wie Game of Thrones nicht verurteilen, die in Pornografie jedoch schon. Die Frühsexualisierung von Jugendlichen geschieht in der medien-definierten Welt des 21. Jahrhunderts, ob wir es wollen oder nicht. Pornografie hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber Serien/Filmen – sie befasst sich aktiv mit dem Thema, statt es nur als leeren Plot-Device zu nutzen.

Viele Pornodarsteller*innen arbeiten aktiv daran, ein Bild von Sexualität zu entwerfen das zeigt, dass jede Handlung (egal wie sie aussieht) nur okay ist, wenn alle Partner*innen damit einverstanden sind. Ganz gleich, ob es um heteronormativen Sex, nicht-heteronormativen Sex oder Fetische geht. Es gibt Pornografie, die Sexualitäten als Fetisch darstellt und das ist zu verurteilen, aber gleichsam steht hinter jedem legalen pornografischen Inhalt (der nicht gezeichnet ist) ein Team an Menschen, die alle freiwillig und aktiv dabei sind. Durch Pornografie werden alle Arten von Sexualität gezeigt – es gibt Genres für alle Sexualitäten und Präferenzen – ohne Verurteilung. Junge Menschen sehen ihre Sexualität in diesen Medien, nicht die heteronormative Filterung Hollywoods.

Erotische Medien (wie Pornografie, erotische Literatur, etc.) erfüllen eine wichtige Rolle in der Medienlandschaft. Sie umfassen die Themen, die es auch in anderen Medien gibt, und machen sie zum Fokus. Über diese Darstellungen können wir als Gesellschaft aktiv die Bilder steuern, die junge Menschen in dieser Hinsicht prägen. Ein offenes Gespräch über Pornografie und die Hintergründe von legaler (und illegaler) medialer Sexarbeit sind ein wichtiger Grundstock für das Verständnis von Sexualität und Jungfräulichkeit junger Menschen.


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Le déjeuner sur l’herbe, Édouard Manet (1863)


Fazit

Jungfräulichkeit wird in den (westlichen) Medien als ein fast ausschließlich cis-weibliches Thema dargestellt. Die heteronormativen Bilder evozieren ein Verständnis von Sexualität, was seit Jahrhunderten existiert und im 21. Jahrhundert langsam aufgebrochen wird. In der Antike gab es ein teilweise offeneres Verständnis von Homosexualität, was jedoch nicht so modern ist, wie gerne angenommen und spätestens durch das Mittelalter komplett aus der medialen Darstellung verschwand.

Nicht-heteronormativer Sex wurde lange auf cis Frauen beschränkt und galt nicht wirklich als sexuelle Handlung, sondern vielmehr als Fetisch, der besonders cis Männern als Sex-Fantasie diente (und teilweise bis heute dient). Das Verständnis von Sexualität geht so weit, dass sogar sexualisierte Gewalt eher als sexuelle Handlung gilt, als gleichgeschlechtlicher Sex ohne einen Penis.

Junge Menschen werden mit einer Darstellung von Jungfräulichkeit und Sexualität konfrontiert, die im Mediengedächtnis der letzten Jahrhunderte eine feste Form annahm. Diese dreht sich um cis-männliche Befriedigung und Schande für den cis-weiblichen Part. Die Heteronormativität wird im 21. Jahrhundert langsam abgebaut, findet sich jedoch trotzdem noch in den Medien – selbst in eigentlich offenen und diversen Serien/Filmen.

Der gemeinsame Nenner hinter diesen medialen und kulturellen Traditionen ist die primär-westliche Religion, genauer das Christentum. Die Unterdrückung weiblicher Sexualität wird nur von Darstellungen gebrochen, die sexuelle Aktivität als Statussymbol darstellen. Junge, weiblich gelesene Menschen stehen zwischen den Stühlen und müssen sich entscheiden zwischen zwei Rollenvorgaben, die beide positive und negative Konsequenzen mit sich bringen. Männlich Gelesene hingegen werden so aktiv darauf trainiert, sexuelle Aktivität als Lebensziel zu sehen, dass Respekt und Verantwortung dabei vernachlässigt werden. Die LGBTQA+ Community kämpft darum, wahrgenommen zu werden und die pseudobiologischen Annahmen rund um Sexualität und Jungfräulichkeit in den Medien abzubauen.

Wir haben als Gesellschaft noch einen langen Weg vor uns, Sexualität zu enttabuisieren und Jungfräulichkeit als Konzept abzuschaffen. Nur wenn wir es schaffen, das Konzept komplett zu vergessen, wird es für alle Menschen möglich, ihre Sexualität frei von Stigmata und toxischen Vorstellungen auszuleben – ganz gleich, ob sie überhaupt sexuell aktiv sein wollen und wenn ja wann und mit wem.


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Illustration für den Erotikroman ‚Aphrodite‘ von Pierre Louÿs, Maurice Ray (1931)


Linksammlung und Fachliteratur


Nochmals als Disclaimer: Leider schließt fast alle Fachliteratur die Existenz von trans Menschen und der generellen LGBA*-Community aus. Darauf sollte beim weiteren Nachlesen geachtet werden. Die Literatur ist fast ausschließlich auf Englisch, da im internationalen Raum mehr dazu geforscht wird.


  • Dr. Navodita Maurice: Hymen and Virginity: A Social Humiliation. (2015)
  • Dr. Iklim Goksel: Rhetorics of Virginity in Turkish Modernity. (2009)
  • Dr. Corinne Harol: Enlightened Virginity in Eighteenth-Century-Literatury. (2006)
  • Eric Julian Manalastas: Valuation of Women’s Virginity in the Philippines. (2018)
  • Terry P. Humphreys: Cognitive Frameworks of Virginity and First Intercourse. (2013)
  • Miriam Robbins Dexter: Indo-European Reflection of Virginity and Autonomy. (1985)
  • Elizabeth Castelli: Virginity and Its Meaning for Women’s Sexuality in Early Christianity. (1986)
  • Dr. Hannelore Winkler: Zur Jungfräulichkeit in der Antike: Die tiefgegürteten Nymphen. (2014)
  • Benita de Robila: ‚Girls‘ and virginity: Making the Post-Apartheid Nation State. (2009)
  • Louise Vincent:  Virginity testing in South Africa: Re-traditioning the Postcolony. (2006)
  • Jonas Eriksson/Terry P. Humphreys: Development of the Virginity Beliefs Scale. (2014)
  • Paige Averett: Virginity Definitions and Meaning Among the LGBT Community. (2014)

Der Tod als Frau I – Einführung, Europa und Westasien

  Der Tod als Frau I Eine historisch-medienkulturelle Analyse Einführung, Europa und Westasien TW: Tod, Kindstod Disclaimer: Alle Beispiele in diesem Text wurden exemplarisch für die jeweilige Region gewählt, es herrscht keinesfalls ein Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund der teilweise sehr vielen/wenigen Literatur, kann es zu Unstimmigkeiten kommen. Sollte sich ein Fehler einschleichen bitte ich darum […]

 

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Der Tod als Frau I

Eine historisch-medienkulturelle Analyse

Einführung, Europa und Westasien

Teil 2 | Teil 3


TW: Tod, Kindstod


Disclaimer: Alle Beispiele in diesem Text wurden exemplarisch für die jeweilige Region gewählt, es herrscht keinesfalls ein Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund der teilweise sehr vielen/wenigen Literatur, kann es zu Unstimmigkeiten kommen. Sollte sich ein Fehler einschleichen bitte ich darum diesen respektvoll in den Kommentaren anzumerken. Alle Kommentare, die die in diesem Text genannte Kulturen und Religionen angreifen/beleidigen, werden gelöscht.

Im Folgenden wird der Tod als weiblich gelesene Figur diskutiert. Da in der Literatur und den Quellen zu den Kulturen/Religionen generell von ‚Frauen‘ die Rede ist, wird dies hier übernommen. In einzelnen Fällen gibt es geschlechtsfreie/nicht binäre Entitäten, die (sofern dies aus den Quellen abzulesen ist) dementsprechend benannt werden.


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Religion und der weibliche Tod


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Death and the Dancer, Joshua Gleadah (1822)


Möchte man eine Betrachtung des weiblich konnotierten Todes in Medien und Kultur vornehmen, so muss zuvor geklärt werden, woher diese Darstellungen kommen. Ein Großteil (wenn nicht sogar alle) der (weiblichen) Todesfiguren besitzen in irgendeiner Weise religiöse oder religiös-kulturelle Hintergründe. Die meisten davon kann man unter Polytheismus verzeichnen, da ein komplexes Gött*innensystem mehr Platz für weibliche Figuren lässt. In den monotheistischen Darstellungen handelt es sich bei den weiblichen/nicht binären Wesen eher um Zwischenbot*innen oder künstlerisch-frei interpretierten Versionen der nicht zu bestimmenden Gött*innenfigur, die in diesem Fall sowohl für Leben als auch für den Tod zuständig ist.

Die nicht-religiösen Darstellungen drehen sich um Legenden und Figuren, die in einer entfernten Verwandtschaft zur Religion stehen oder zumindest einem kulturellen Volksglauben entspringen. In der Moderne wandelt(e) sich dies, nun kann Tod auch fern von Religion existieren. Aufgrund der Konnotation von Tod und Religion lassen sie sich jedoch nie ganz voneinander trennen.

Außerhalb des Monotheismus stehen die weiblichen/ nicht binären Gött*innen des Todes oft für Erde, Fruchtbarkeit und Mutterschaft, was ihnen eine spezifische Rolle in den Todesdarstellungen einbringt: Das Zurückkehren zur Erde, der friedliche Tod, das Sterben von Kindern/Müttern. Der männliche Part dieser Darstellung steht hingegen für den brutalen Kriegstod oder andere Arten des gewaltvollen Sterbens. Diese beiden Versionen des Todes werden im jeweiligen Glauben/der jeweiligen Kultur oft als Geschwister und/oder Ehepaar vergegenwärtigt. Natürlich gibt es hier Ausnahmen, die im Folgenden als solche markiert werden.


Die süd- und mittel- und nordeuropäische Mythologie


Nordeuropa


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Hel (und ihr Hund Garmr), Johannes Gehrts (1889)


Nordische Mythologie

In der nordischen Mythologie kann man drei große Göttinnen erkennen, die für den Tod in einer jeweils spezifischen Form zuständig sind. Freya ist eine der nordischen Wanengöttinnen und gilt (nach Frigg) als zweite Göttin des Pantheons. Auch wenn Frigg für die Erde und Fruchtbarkeit steht, erfüllt Freyja eine ähnliche Aufgabe: Sie wacht über Fólkvangr, ein Feld auf das eine Hälfte der im Krieg/in der Schlacht Gefallenen Menschen nach ihrem Tod geschickt wird (die andere Hälfte kommt zu Odin nach Valhalla). Die See-Göttin Rán fängt alle Ertrunkenen in ihrem Netz und bietet ihnen darin einen Aufenthaltsort für das Leben nach dem Tod. Hel ist die Göttin des Todes und Königin von Helheim, wo alle anderen Toten, die nicht durch Schlacht oder Ertrinken umkommen die Ewigkeit verbringen.  Neben den Göttinnen gibt es drei Schwestern, Nornen genannt, die das Schicksal der Menschen von Geburt zu Tod spinnen. Besonders Freya ist eine sehr bekannte Göttin, die immer wieder Teil von Sagen und Epen ist. Durch die Neuentdeckung des Paganismus taucht sie ab dem 19. Jahrhundert vermehrt in Darstellungen und Literatur auf.

Finnland

Finnland hat eine eigene Götterwelt innerhalb des Paganismus, in der die Göttin für Tod und Verwesung Kalma heißt. Ihr Name leitet sich lose vom Gestank der Leichen ab und fungiert als Basis für das finnische Wort kalmisto (Friedhof). Als Sagenfigur wird sie oft auf eben diesen dargestellt, wo sie als Rauch/Gestankswolke über die Toten wacht. Sie und ihre Familie leben in Tuonela, der finnischen Unterwelt. Wie auch die entsprechende Göttin der nordischen Mythologie, so hat Kalma eine hundeartige Figur bei sich, die Surma (finn. Tod) heißt. Sie tritt im finnischen Nationalepos Kalevala auf.


Mitteleuropa


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The Death of the Grave Digger, Carlos Schwabe (1895)


Keltische Mythologie

Im irischen Teil der keltischen Mythologie gibt es die Geisterkönigin Morrígan, die aus der Anderswelt stammt und eng verknüpft wird mit Krieg, Kampf und Sexualität. In der Sammlung zu mittelirischen Sagen und Geschichten Lebor Gabála Érenn aus dem (Früh)Mittelalter wird sie als eine von drei Schwestern beschrieben, die unter der Göttin Danu dienen. Sie wird auch mit der Göttin Anu gleichgestellt, die für Mutterschaft steht. Als Todbringerin/Todesfigur dient sie in mehreren Sagen, unter anderem in der Erzählung über die Schlacht von Mag Tuired, wo sie den letzten Fir Bolg-König erschlägt. Sie tritt vermehrt als schöne junge Frau, alte Frau, Aal oder Wölfin auf und soll die Heldenfigur zum Scheitern bringen oder gar töten, wie sich in Táin Bó Cuailnge, der wichtigsten Sage des altirischen Ulster-Zyklus, zeigt.

Auch moderne Medien zeigen Morrígan als Todesfigur, wie etwa in der Kriminalkomödie A Dirty Job (Christopher Moore, 2006), wo sie als eine der drei Harpyien (griechische Göttinnen der Unterwelt) die Personifizierung des Todes darstellt. In der Fantasyreihe The Iron Druid Chronicles (Kevin Hearne, 2013) stellt sie ebenfalls eine Todesgöttin dar, diesmal jedoch auch wirklich innerhalb der irischen Mythologie. Die Serie Sanctuary (2008-2011) benennt eine Gruppe von drei Frauen nach ihr, die mithilfe von übernatürlichen Fähigkeiten ganze Menschenmassen auslöschen können. In Videospielen wird ihr Name genutzt (ein Schiff von Shay Cormac in Assassin’s Creed Rogue (2014)) oder ihr eine Figur gegeben, die düster und als Vorahnung des Todes/Todbringerin fungiert wie in Dragon Age: Inquisition (2014) und Smite (2014).

Christentum

Nicht wirklich mitteleuropäisch, wird das Christentum an dieser Stelle trotzdem hier verortet, damit es nicht zwischen den antiken Mythen der Griechen, Römer und Etrusker untergeht.

Schwierig für die Darstellungen im Christentum ist, wie in der Einleitung bereits angedeutet, die monotheistische Natur des Christentums. Anders als in anderen monotheistischen Religionen (soweit mir dies bekannt ist) gibt es zumindest in der Kunst auch hier Interpretationen des weiblich konnotierten Todes. Das Bild zu Beginn des Kapitels zeigt eine dieser Interpretationen, die sich oft in Engelsfiguren manifestieren. Gott selbst ist ein geschlechtloses Wesen, das oft als männlich gelesen wird; die unter ihm Arbeitenden sind jedoch eine andere Sache. Sie werden in der Kunst je nach Sujet dargestellt: Die Engel in der Bibel sind Krieger und werden ebenfalls männlich gelesen, auch wenn sie geschlechtlos auftreten. Sie stehen für gewaltvolle Tode und Krieg. Weiblich gelesene Engel werden mit Schutz verbunden (auch wenn es hier männlich gelesene Versionen gibt) – sie findet man oft auf Grabsteinen. Durch ihr oft kindliches Aussehen ist es schwer, ihnen ein festes Geschlecht zuzuteilen. Die, die man als weiblich lesen kann, stehen für den Schutz der Toten und hüten besonders Kindergräber.

Wie im Bild oben erkennbar ist, gibt es auch weiblich gelesene Engelsdarstellungen, die aktiv die Rolle des Todes (beziehungsweise die Personifizierung von Gott in dieser Rolle) übernehmen. Auch wenn sie in Süd- West- und Nordeuropa eher selten auftreten, gibt es sie. Diese Darstellung von Tod und Engeln wurde in die Amerikas und andere Teile der Welt importiert.

Moderne Umsetzungen dieser Engelfiguren/Todbringer und Gott als geschlechtslos bzw. weiblich lesbar findet man in Serien wie Supernatural (2005-2020), Lucifer (seit 2016) und der Miniserie Good Omens (2019), beziehungsweise dem dazugehörigen Buch (Neil Gaiman, Terry Pratchett, 1990).


Südeuropa


Vanth

Vanth in a fresco in an Etruscan tomb in Tarquinia (~300 v. Chr.), X


Griechische und römische Mythologie

Aufgrund der enormen Ausmaße der griechischen und römischen Mythologie werden diese Gött*innen etwas kürzer dargestellt. (Fast) Alle dieser Figuren sind sich in römischer und griechischer Darstellung gleich, mit Ausnahme des Namens. Die griechische Mythologie wird besonders in den kyklischen Epen von Homer und den Götterepen Hesiods dargestellt. Sie ist seit der Antike fester Bestandteil vieler Dramen, Erzählungen, Lyrik und anderer künstlerischer Darstellungen. Die römische Seite hingegen wird durch die Erzählungen Ovids festgehalten und ist ebenfalls Teil zahlloser literarischer und künstlerischer Aufarbeitungen.

Zunächst die griechischen Todbringer*innen: Die Erinnyen, Furien und Harpyien sind alle Rachegött*innen, beziehungsweise Dämon*innen der Unterwelt, die typisch weiblich oder geschlechtslos dargestellt werden. Ihr Auftreten bedeutet einen nahenden Tod. Keres bezeichnet eine Gruppe an Göttinnen, die für den gewaltvollen Tod und Kriegstod (also den Tod durch die Hand einer anderen Person) stehen. Die Lampaden sind Nymphen der Unterwelt, die der Göttin Hekate den Weg weisen und sie begleiten. Atropos ist eine der drei Moiren, die für das Schicksal zuständig sind. Sie zerschneidet den Lebensfaden und beendet damit das Leben des jeweiligen Menschen.

Die Göttinnen Lethe und Styx sind für die gleichnamigen zwei der sieben Flüsse in der Unterwelt verantwortlich. Styx steht damit für die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. Die Göttin des Hungertods Limos steht Demeter gegenüber, die die Göttin der Fruchtbarkeit ist. Auch sie steht in gewisser Weise für den Tod, beispielsweise wenn es um Kinder, Pflanzentod und den Selbstmord (junger Frauen) geht. Ebenfalls Limos gegenüber steht Macaria, die Göttin des friedlichen (direkt übersetzt heiligen) Todes. Persephone schließlich ist die wohl bekannteste weibliche Personifikation des Todes in der griechischen Mythologie, sie ist die Tochter der Demeter und Frau des Unterweltherrschers Hades. Da sie die Göttin des Frühlings und des Wachstums ist, steht sie nur passiv (aufgrund ihrer Ehe) für den Tod. In der Mythologie wird beschrieben, dass Demeter und Hades sich Persephone zeitlich aufteilen, was die Jahreszeiten in wachsend und frisch (Frühling und Sommer) und sterbend (Herbst und Winter) aufteilt.

Nun zur römischen Seite: (Dea) Tacita, auch (Dea) Muta genannt, ist die Göttin der Stille und des Todes. Morta ist das Äquivalent der Atropos, in den Parzen (gr. Moiren) erfüllt sie die Rolle des kommenden Todes und zerschneidet den Lebensfaden. Die di inferi fassen geschlechtlose Gött*innen und Seelenerscheinungen zusammen, die alle für die Unterwelt stehen oder in Erzählungen zur Unterwelt auftauchen. Lemuren und Manes sind beides die Untoten, die Lemuren stehen spezifisch für die ruhelosen, rachevollen Toten. Beide Gruppen sind geschlechtslos. Libitina, Mania und (Dea) Nenia teilen sich ansonsten die Titel der Todesgöttinnen. Libitina ist für Beerdigungen und Gräber an sich verantwortlich, ihr Abbild wird oft an den Wänden großer Gräber gefunden. Mania ist die Göttin des Todes, die neben Tactia für den Tod an sich steht. Nenia steht ebenfalls für Beerdigungen, ist jedoch seltener in Bildform vertreten als Libitina. Proserpina ist die römische Version der Persephone und die Herrscherin der Unterwelt.

Etruskische Mythologie

In der etruskischen Mythologie gibt es viele Überschneidungen zu den römischen und griechischen Gött*innen. Die Dämoninnen Vanth und Culga bieten eine Ausnahme, da es für sie keine Entsprechung in anderen Religionen gibt. Sie sind Teil der etruskischen Unterwelt und bewachen als Statuen oder Wandmalereien die Toten im ehemals etruskischen Gebiet. Sie findet man dementsprechend besonders häufig in der Grabmalkunst dargestellt, wie etwa bei Grabeingängen oder Sarkophagen ab 400 v. Chr., der Hochzeit für etruskische Kunst. Varth wird bereits vor dieser Zeit in Inschriften genannt, jedoch nicht explizit dargestellt, soweit die aktuelle Forschung dies einschätzen kann.

Auch wenn sie keine direkten Gegenspielerinnen haben, werden sie (besonders in der älteren Forschung) oft mit den griechischen Furien, Harpyien und Erinnyen gleichgesetzt. Seit einigen Jahren ist aus den Inschriften bekannt, dass sie eher hilfreich, als bösartig dargestellt wurden, weshalb die neuere Forschung diesen Vergleich nicht mehr vornimmt. Besonders Vanth ist als Leiterin der Toten bekannt; die in ihrer Ikonografie oft auftretende Fackel, der Schlüssel und/oder die Schriftrolle sollen ihr dabei helfen, die Toten sicher durch die Unterwelt zu führen. Ihre Bekleidung ist die einer Jägerin, mit bloßen Oberkörper, kurzem Chiton, Fellstiefeln und den gekreuzten Lederstriemen über der Brust, die einen Köcher halten.

Sie wird bildlich mit der Schlacht von Troja verknüpft und taucht auch in anderen Darstellungen von Schlachten auf – selten zum Zeitpunkt des tatsächlichen Todes, sondern vielmehr direkt danach, wie sie die Seelen fortführt.

Mania, die Göttin der Toten, regiert mit ihrem Mann Mantus die etruskische Unterwelt. Sie gilt als Mutter der Geister, Untoten und Dämon*innen. Unter ihr Leben die geschlechtlosen Mani, die Geister Verstorbener. Anders als in der griechischen Mythologie steht sie nicht für Wahnsinn und Insania, sondern für dämonische Macht und Chaos. Sie wird in der Forschung als Ergebnis einiger antiker Gelehrter (wie Marcus Terentius Varro) betrachtet, da die Überlieferungen und tatsächlichen Inschriften sehr selten und die wenigen, die es gibt, umstritten sind.

Statt einer ‚realen‘ Figur in der Mythologie wird sie als Personifizierung eines Festbrauches der Compitalien gesehen, bei dem eine kleine Puppe aus Wolle namens Maniae für die Lares und Manes an den Wegkreuzungen aufgehängt wurde. Diese Puppen sollten (so Macrobius) die Menschenopfer des letzten römischen Königs Tarquinius Superbus ersetzen. Das Orakel von Delphi forderte das Opfer von (kindlichen) ‚Häuptern‘, die durch den ersten römischen Konsul Lucius Iunius Brutus durch Knoblauchknollen, Mohnköpfe und eben diesen Puppen ersetzt wurden. Sie wurden auch zur Abwehr von Bösem über Türen gehängt. Ihre Figur steht also vielmehr für den Ersatz von Tod. Durch das unheimliche Aussehen der Puppen etablierte sich der Begriff Maniae auch als Bezeichnung für Schreckgespenster.


Der weibliche Tod in Osteuropa und Westasien


Osteuropa


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Nāve (Tod), Janis Rozentāls (1897)


In Osteuropa gibt es zahlreiche paganische Dämon*innen und Gött*innen, die für den Tod stehen und/oder ihn bringen. Im Folgenden können nicht alle aufgezählt werden, da jedes Land mehrere hat, die sich teilweise überschneiden und durch christlichen Einfluss weiterentwickelt wurden.

Lettland 

Die Göttin Māra ist die wichtigste Göttin der lettischen Mythologie. Sie steht für Mutter Erde und nimmt die Körper (nicht die Seelen) der Verstorbenen nach ihrem Tod. Andere lettische Göttinnen werden zu alternativen Versionen von ihr stilisiert oder als ihre Assistentinnen dargestellt. Sie ist die Schutzgöttin der Frauen und ihrer traditionellen Aufgaben (wie Kinder bekommen/aufziehen und Kühe umsorgen), sowie aller essbaren ökonomischen Erzeugnisse (Brot, Milch, etc.) und des Geldes und des Markts. Nach der Christianisierung von Lettland wurde sie mit Maria gleichgesetzt.

Litauen

Giltinė ist die Göttin des Todes und dafür verantwortlich die Seelen von Verstorbenen (Vėlės) einzusammeln. Einer der vielen anderen Namen für sie ist Maras, was so viel bedeutet wie schwarzer Tod oder Pest. Sie wird als Schwester/Gegensatz von Laima, der Göttin des Glücks, dargestellt.

Dalia ist die Göttin des Schicksals und des Webens. Sie ersetzt zusammen mit einigen anderen Göttinnen die Moiren/Parzen aus der röm./gr. Mythologie, die im litauischen Deivės Valdytojos heißen. Sie fertigen Gewänder aus den Leben der Menschen und sind insgesamt nicht drei, sondern sieben Schwestern. Mit ihnen verbunden wird Laima, die neben der Göttin des Glücks auch die Schutzpatronin der schwangeren Frauen ist und für den Tod dieser Frauen und/oder ihrer Kinder verantwortlich ist. Ihr zur Hilfe steht Ragana, eine alte Frau die oft als Hexe bezeichnet wird. Ihr wird nachgesagt, dass sie in Wäldern lebt und dort Tränke und Kräuterheilmittel braut, die besonders werdende Mütter vor Unheil schützen.

Überschneidungen und Dopplungen

Fast alle der oben genannten Dämon*innen und Gött*innen gibt es auch im Russischen, Rumänischen, Polnischen, Tschechischen, Ungarischen, Estischen und allen anderen slavischen Ländern. Sie decken sich ebenfalls mit vielen persischen, türkischen und hindu Erscheinungen und Gött*innen, jeweils unter anderen Namen und mit kleinsten Variationen. Ein Beispiel ist die Göttin Marzanna (Polnisch, Marena (Russ.), Morana (Tschech./Bulgar./Sloven./Serbo-Kroat.), Morena/Kyselica (Slovak.), Morena (Mazedon.), Mara (Belar./Ukrain.), Maržena (Lit./Rumän.))

Marzanna ist eine slavische Göttin, die für den Winter, die Kälte, den Tod und die Neugeburt steht. Sie stirbt in slavischen Mythen am Ende des Winters und wird im Frühling als Göttin des Frühjahrs (Kostroma/Lada/Vesna) wiedergeboren.

In modernen Ritualen hat sie ihren heiligen Charakter verloren; ihre Legende wird in manchen (oft kleineren) Orten genutzt, um ein Frühlingsfest zu veranstalten. Eine Puppe von Marzanna oder Marzanoik (ihrem männlichen Gegenpart) wird von den Bewohnern zum nächsten Teich, See oder Fluss gebracht und dort in das Wasser getaucht. Manchmal wird sie davor auch angezündet. Die Menschen feiern mit dem symbolischen Tod der Marzanna das Ende des Winters.

Andere allgemein-slavische Göttinnen die den Tod darstellen und/oder ihn bringen sind die Jägergöttin Ciza, die Göttin der Fruchtbarkeit und der Zwillinge Lada, die Göttin der Zeit Chislobog, die Göttin der Beerdigungen Karna, die Göttin des Feuers und des Herzens Matergabia und die geschlechtslose Gottheit Veliona, die allgemein für Tod und Sterben steht und die Seelen der Ahnen hütet.


Westasien


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Queen of the Night Relief (~1792-1750 v. Chr.)


In der Türkei und anderen Teilen (Nord)Westasiens sind die primären Gottheiten des Todes männlich konnotiert – die Mythen überschneiden sich jedoch großflächig mit denen Osteuropas.

Mesopotamien

Die Göttin Ereshkigal regiert in der mesopotamischen Mythologie Kur, das Reich der Toten. Sie stammt vermutlich aus dem sumerischen Glauben. In späteren semitischen Mythologien wird sie Irkalla genannt, passend zu dem Land Irkalla, was sie mit ihrem Mann Nergal regiert. Im oben gezeigten Burney Relief (auch Königin der Nacht genannt, ~1792-1750 v. Chr.) sieht man, was oft als Ikonografie der Ereshkigal gesehen wird – sicher kann man sich jedoch nicht sein. Forscher interpretieren das Relief auch als Bildniss ihrer Schwester Inanna oder des Dämons Lilith.

In manchen Versionen des Glaubens regiert sie alleine, ohne einen Mann an ihrer Seite. Passend dazu ist sie generell auch die einzige Göttin in der Mythologie, die Schuld vergeben und erlassen kann. Es gibt einige sumerische Gedichte, wie etwa Inanna’s Descent to the Underworld (~1900-1600 v. Chr.), in denen ihre Rolle als Inannas große Schwester und Göttin der Unterwelt beschrieben wird. Mehr Informationen zum Gedicht und anderen Nennungen findet ihr hier (engl.) – diese Zivilisation gehört zu den ältesten der Menschheit und die Göttin steht im Zentrum davon. Es lohnt sich also sehr, mehr über sie zu erfahren.

Kaukasien

Die Forschung ist sich unsicher, inwiefern es einmal eine gesamt-kaukasische Religion gab. Daher sind die Gottheiten bislang in die Mythen der Osseten und Nakh unterteilt. Die Namen und Aufgaben der Göttinnen sind sich jedoch sehr ähnlich, so ist Satana bei den Osseten und Sata bei den Nakhs jeweils die Muttergöttin, die das Volk schuf und auch für ihren Tod verantwortlich ist. Sie ist zudem für weibliche Arbeit, Schwangerschaft und Kinder verantwortlich. Die Nakhs kennen zudem noch die Fruchtbarkeitsgöttin Tusholi. Es wird in der Forschung untersucht, ob zwischen beiden Mythologien eine gemeinsame Jagdgöttin existiert, die für den Tod der Tiere steht.


Literatur

Raymond Ian Page: Nordische Mythen: Eine Einführung. (2018)

Leea Virtanen/Thomas Andrew DuBois: Finnish folklore. (2000)

Elfriede Paschinger: Die etruskische Todesgöttin Vanth. (1992)

Wolfgang Fauth: Römische Religion im Spiegel der ‚Fasti‘ des Ovid. (1978)

Ernst Tabeling: Mater Larum. Zum Wesen der Larenreligion. (1975)

Jeremy Black/Anthony Green: Gods, Demons and Symbols of Ancient Mesopotamia. (2004)

Anna Chaudhri: The Causcasian hunting-divinity, male and female: traces of the hunting-goddess in Ossetic folklore. (1996)

 

Westliche Weiblichkeit – Ein Blick auf Ideale und Kolonialismus

Kopie von Jungfräulichkeit in der westlichen Kultur

Westliche Weiblichkeit

Ein Blick auf Ideale und Kolonialismus


TW: Sexualisierte Gewalt, Rassismus/Sklaverei, mentale Gesundheit, problematische Wortwahl zur Veranschaulichung von sexistischen und rassistischen Problematiken (keine Slurs)


Disclaimer: Wenn weiße cis Frauen über Weiblichkeit sprechen fällt die historische Komponente, die uns als Mittäterinnen entlarvt, oft weg. Die Links in diesem Beitrag und am Ende führen zu passenden Beiträgen von BIPoCs, die ich versuche in einen historischen und kulturellen Kontext einzuordnen, der besonders das westliche Bild von Weiblichkeit kritisiert und offenlegt.


Wie die (westliche) Gesellschaft Weiblichkeit definiert ist seit etwa einem Jahrzehnt im Wandel. Jahrhundertealte Muster werden aufgebrochen und das ist etwas Gutes. Dabei wird oft von weißen cis Frauen darüber gesprochen, wie sie diese Ideale wahrnehmen – die Resonanz eines weißen westlichen Ideals in der weißen westlichen Welt wird in den Mittelpunkt gerückt. Das Problem ist, dass (wie auch bei umgekehrtem Rassismus oder Sexismus gegen cis Männer) die im Zentrum stehen, die eigentlich die Wurzel des Problems bilden. Weiße cis Frauen sind das, woran Ideale seit der Antike festgemacht werden. Wenn nur sie darüber sprechen (dürfen) wird ein Bild gezeichnet, in dem nicht nur BIPoCs, sondern auch trans Frauen und nichtbinäre Menschen, sowie inter Menschen und die restliche LGBQA*-Community fehlen.

Das soll nicht heißen, dass weiße cis Frauen nicht trotzdem negative Auswirkungen dieser Ideale erleben. Aber normschöne, weiblich gelesene, weiße, gebährfähige hetero-cis-allo Frauen stehen im Fokus, obschon sie nur die Oberfläche dieser Auswirkungen spüren.

Weiblichkeitsideale in der westlichen Geschichte

Um diese Problematik näher untersuchen zu können, muss man einen Blick auf die Ursprünge der westlichen Ideale werfen. ‚Unser‘ Bild von Frauen und Weiblichkeit kommt – wie so vieles in der westlichen Kultur – aus der Antike. In der griechischen Mythologie steht Weiblichkeit für Weichheit, Intelligenz und nur in seltenen Fällen für Stärke. Die weiblichen Figuren der Mythen wählen den Freitod, verwandeln sich in leblose Objekte, nehmen ihr Schicksal an oder verschwinden einfach, wenn sie nicht mehr wichtig für die Handlung sind. Einzelne Frauenfiguren wie die Göttin Artemis stehen zwar für ‚männlich‘ konnotierte Dinge wie die Jagd, sind dabei jedoch oft grausam in den Geschichten und werden (zumindest äußerlich) als grobschlächtig, muskulös und eben ’nicht weiblich‘ beschrieben. Hera, Athene, Gaia und Aphrodite stellen die Frauenfiguren da, die man als ‚ideal‘ sieht: Heimelig, weise, warm, vergebend, wunderschön und doch – werden sie betrogen, so sind sie Monster. Hera und Athene sind beide dafür bekannt die Frau, mit der sie betrogen wurden, grausam zu bestrafen, statt den Mann dafür verantwortlich zu machen. Verführung wird der Weiblichkeit zugesprochen und dementsprechend liegen die Konsequenzen. Dies ist nicht nur in der hellenistischen Antike der Fall. Im christlichen Glauben wird daraus die Geschichte von Eva und Adam, bei der die Frau den Mann dazu verführt den Apfel zu nehmen. Im Jüdischen gibt es Lilith, die nicht nur im Osten, sondern auch in der westlichen Welt als verführerischer Dämon bekannt wurde. Auch im alten Ägypten, der nordischen Mythologie, bei den Römern und in anderen germanischen Völkern gibt es dieses Bild der Weiblichkeit.

Die Vorstellung, dass gerade im Norden die Frauen als stark und gleichwertig gesehen wurden, ist ein netter ‚Funfact‘, der besonders in feministischen Diskussionen gerne zur Sprache gebracht wird. Tatsächlich gab es dort Kriegerinnen und die überzogenen weiblichen Stereotype, wie wir sie mit Griechenland verknüpfen, treffen weniger offensichtlich zu. Aber dies wird davon überschattet, dass es nirgendwo eine (protowestliche) Kultur gab, in der der weibliche Part nicht immer der weichen Mutterrolle entspricht und die zugeschriebene Intelligenz entweder einsetzt, um ihrer Familie zu helfen oder Männer zu verführen und grausige Rachepläne zu verfolgen. Weiblichkeit ist seit Jahrtausenden mit festen Rollenbildern verknüpft, die nur in wenigen Fällen, die oft interessante Geschichtsanekdoten abgeben, ausgehebelt wurden.


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La Folie, Wladislaw Podkowinski (1894)


Kolonialismus, Blackfishing, Sklaverei – die düstere Seite moderner Frauenideale

Es hat seine Gründe, warum die eigentlich westlichen Ideale in der ganzen Welt zu finden sind. Zahlreiche Europäer*innen der letzten Jahrhunderte verbrachten ihr Leben damit, die Ideale, die sich für ‚zivilisiert‘ hielten, auf dem ganzen Globus zu verteilen. Die Konsequenzen sind düster, denn gerade in Bereichen der Welt, in der weiße Menschen die Minderheit darstellen, sind Weiblichkeitsideale, die auf heller Haut und westlichen Schönheitsidealen basieren, tödlich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Kontroverse skin bleaching treatments (Behandlungen um den Hautton permanent zu ändern) sind bis heute im Trend und vergiften besonders Frauen auf täglicher Basis, wie eine Untersuchung von Refinery29 zeigt. In großen Teilen Süd-Ost-Asiens sind die Chancen auf ein besseres Leben, einen guten Job und mehr Gehalt größer, wenn die Haut heller ist. Dabei geht es nicht zwingend darum europäisch auszusehen. Der internalisierte Hass auf dunkle Haut ist ein Überbleibsel des Kolonialismus, der in seinen Grundzügen ganze Gesellschaften permanent vergiftet hat.

Wie eine Frau heute auszusehen hat, ist in großen Teilen der Welt von der westlichen Sicht beeinflusst und das bedeutet Heteronormativität, radikale Einteilung von Menschen und ihrer Kleidung nach Geschlechterstereotypen, dünne, kleine Körper ohne viele Muskeln, lange, glatte Haare, helle Augen und helle Haut.

Es ist schwer dieses Bild wirklich anzuerkennen, wenn man sich in westlichen Ländern umsieht. Denn in diesen Teilen der Welt ist das Ideal nicht zwingend aktuell. Hier tragen weiße Menschen Dreads und Bindis und Braids – kulturelle Symbole, die lange dafür sorgten, dass ganzen Kulturen ihre Menschlichkeit und Weiblichkeit abgesprochen wurde. Gerade in der afroamerikanischen Kultur waren diese nun modischen Merkmale lange ein Anzeichen dafür, dass man rebelliert. Statt sich anzupassen, nahmen Frauen aus diesen Kulturkreisen nicht die Zeit und das Geld in die Hand, um möglichst ‚konform‘ auszusehen, sondern trugen ihre ‚provokanten‘ Haare und ihr Kulturerbe mit Stolz.

Die Tatsache, dass weiße Menschen diese spezifischen Kulturmarker nun nehmen, sich zu eigen machen und profitieren ist ein Problem bekannt als cultural appropriation (Kulturelle Aneignung) und verdient seinen eigenen Artikel von einer Person, die davon aktiv betroffen ist. Hier geht es darum, was dieses Phänomen mit dem Weiblichkeitsideal im Westen macht. Die weiße Popkultur stiehlt seit Jahrzehnten von der schwarzen, us-amerikanischen Kultur – sei es nun R&B, Rap, Gospel, Blues, Jazz oder Rock and roll, aber auch andere, bildende und literarische Kunst ist betroffen, sowie die Film-, Tattoo-, Haar- und Essenskultur. Es handelt sich nicht zwingend um einen Austausch, sondern um ein gezieltes Assimilieren von afroamerikanischen Errungenschaften durch die weiße westliche Kultur. Dieser Prozess kam vor einigen Jahren nun auch bei dem weiblichen Körper an und an dieser Stelle kommen wir zurück zum Kernpunkt dieses Artikels: Weiblichkeit ist jetzt ‚exotisch‘.

Weiße Frauen und weiblich Gelesene (aber besonders cis Frauen) definieren ihre (äußere) Weiblichkeit nun durch Kurven, große Lippen, dunkle Haut, krauses Haar und einen gewissen Slang, den sie als typisch afroamerikanisch kennenlernten und der ihrer Stimme etwas tiefes, ‚exotisches‘ geben soll. Diese Exotisierung von BIWoCs, die man bei Ariana Grande und den Kardashians besonders gut beobachten kann, führt dazu, dass immer mehr junge weiße Frauen diesem Beispiel folgen. Die eigentlich weißen Frauen in der Popkultur sammeln eine breitere Fanbase, da sie in ihrem neuen Look nun eher von BIPoCs unterstützt werden und stilisieren sich gleichsam als sexuell und ‚wild‘.

Es ist nun sexy so auszusehen, als wäre man mixed race, latinx oder lightskin black – alles Identifikationsmarker, die weiße Frauen von ihrem nun negativen Bild als ‚einfach weiß‘ zu etwas Besonderem machen. Und dies ohne wirklich die Konsequenzen zu spüren. Ariana Grande kann in ihrem 7 Rings Video so tun, als wäre sie schwarz und am Ende des Tages wäscht sie den Selbstbräuner ab und ist wieder das nette, weiße Mädchen von nebenan. Entschuldigt wird dies oft dadurch, dass man sagt, sie wäre Südländerin, wie etwa aus Italien – eine Ausrede die nicht zieht, wenn man sich an die europäischen Ideale aus eben diesen Bereichen der Welt erinnert, die seit der Antike unser Bild von Weiblichkeit definieren. Frauen wie Ariana Grande wachen nicht eines Tages auf und haben dunklere Haut – sie treffen eine Geschäftsentscheidung.

Auch (Instagram-)Model springen auf diesen Zug auf und profitieren mit einer Hautfarbe, die nicht ihre ist und die nicht nur jahrhundertelang unterdrückt und entweiblicht wurde, sondern bis heute negative Auswirkungen mit sich bringt. Die Verschiebung von dem Ideal der Weiblichkeit hin zu einer sexy hellhäutigen WoC ist kein Zufall und auch gar nicht so ideal, wie man jetzt vielleicht denkt.

Zunächst zu der Geschichte dieses Ideals. Blackfishing, wie das oben definierte Verhalten genannt wird, kommt aus einer dunklen Ecke der Geschichte: der Sklaverei. Selten wird von weiblicher Sklaverei gesprochen, dabei war sie ein sehr großer Teil des Ganzen. Sklavinnen arbeiteten oft im Haus und dienten den weißen Menschen direkt. Die hellhäutigen Kinder, die die Sklavinnen bald darauf hatten, waren ein direktes Anzeichen dafür, dass die weißen Männer nicht treu waren und wurden dementsprechend von weißen Frauen gestraft und gehasst. Später wurden gezielt diese hellhäutigen Frauen in den Hausdienst eingeteilt, um diese ‚Schande‘ zu verdecken. Sexualisierte Gewalt an schwarzen Frauen brachte hellhäutige schwarze Frauen in die Welt, die gezielt sexualisiert wurden. [In Australien wurden Frauen mit dunkler Haut mit weißen Männern verheiratet, um die Hautfarbe der Kinder zu erhellen und auch in Südafrika und Indien gibt es ähnliche Geschichten.] Aber die Sexualisierung stoppte nicht, als Sklaverei endlich endete. Schwarze Frauen, besonders die mit hellerer Haut, werden in den Medien bis heute verstärkt sexualisiert dargestellt und erleben weitaus mehr sexualisierte Gewalt als andere Gruppen. Basierend auf einem fürchterlichen Exotismus, der sie als sexuell offen darstellt, weil sie ja dunklere Haut haben und damit nicht die braven, netten Ideale treffen, die wir in der Antike für weiße Frauen festsetzten. Sich heute fälschlich als mixed race zu präsentieren, um sich als sexuell, wild und offen für alles zu zeigen, schafft weißen Frauen ein Alter Ego, in dem sie für ein paar Stunden am Tag zu sexuellen Objekten werden können, die nichts anderes, als ein Stereotyp von hellhäutigen schwarzen Frauen sind. Für Frauen, die tatsächlich diesen Hautton haben, endet die Farce jedoch nicht, sie bleiben ein sexuelles Objekt für den Rest ihres Lebens. Weiße Frauen können im Zweifelsfall wieder zu netten, unschuldigen Frauen werden, um der Sexualisierung zu entgehen. Moderne Weiblichkeitsideale im Westen sorgen dafür, dass endlos viele Frauen mit dunkler Haut zum sexuellen Objekt erklärt werden.

Am Ende des Tages ist diese Sexualisierung nicht nur gefährlich, sondern beeinflusst unser Ideal weniger, als wir oft glauben. Denn nicht genug, dass in weiten Teilen der Welt die europäischen Ideale der letzten Jahrhunderte noch immer aktiv sind, nein, auch hier hat sich das eigentlich nicht geändert. Klar ist es jetzt gerade ’sexy‘ und ‚im Trend‘ leicht dunklere Haut zu haben – aber nur als visueller Reiz in den Medien. Die, die noch immer bevorzugt werden, sind die weißen cis Frauen, die sich nicht ‚exotisch‘ oder ‚ghetto‘ geben, sondern das Privileg haben diese Marker aktiv zu wählen und auch wieder abzulegen.

Wir berauben schwarze Frauen also ihrer Identität, stilisieren sie als Sexobjekte, verdienen daran und am Ende sind wir trotzdem weiterhin das Ideal. Verführung wird seit der Antike der Weiblichkeit zugesprochen und die Konsequenzen für Betrug und sexualisierte Gewalt lagen deshalb früher bei Frauen allgemein, nun liegen sie besonders bei BIWoCs, da weiße Frauen seit dem 18. Jahrhundert als unschuldig und rein gesehen werden.


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Ogo


Die Frau in den Medien – eine konstruierte Identität

In der neueren Geschichte ist die weiße cis Frau eine irrationale Gestalt, deren Intelligenz eine emotionale Natur hat und die für alle ‚richtigen‘ Entscheidungen die Hilfe eines Mannes benötigt. Diese Ansicht wurde lange medizinisch mit der Hysterie bestärkt und auch Menstruation spielt eine Rolle in der Unterdrückung der Weiblichkeit in der Gesellschaft. Aber, und diesen Fakt darf man nicht vergessen, es sind nicht nur Männer, die diese Rollenbilder lebten und verbreiteten. So hart das Leben als weiße cis Frau auch war – alle anderen Frauen wurden ihrer Identität beraubt, um ihr Leben noch schlechter zu gestalten. Liebe, nette, treue, junge, weiße cis Frauen, die im Idealfall  auch noch gläubige Mütter waren, rückten sich in den Mittelpunkt der Weiblichkeit – alle die nicht in diese Sparte passten, wurden ihrer Weiblichkeit und damit ihrer Identität beraubt.

Schließlich traf es auch weiße queere, dicke und alte Frauen. Sie waren theoretisch Teil des eurozentrische Ideals und deshalb für eine lange Zeit schwerer zu entweiblichen als Frauen, die automatisch aufgrund ihrer Hautfarbe entfremdet wurden. Die sozialen Gepflogenheiten mussten neu angepasst werden, um sie gezielt auszuschließen. Hollywood spielte darin eine entscheidende Rolle. Dank Massenmedien war es plötzlich sehr leicht ein neues Ideal zu schaffen, was nicht nur auf weiße cis Frauen zugeschnitten war, sondern auf weiße cis Frauen die genau so aussehen und sich verhalten, wie man es von ihnen verlangte. Alte Frauen wurden aus den visuellen Medien verbannt, dicken Frauen wurde anhand von 1000 Telecommercials für Abnehmpillen und Home-Workout-Tapes gezeigt, was man von ihnen hielt, queere Frauen als Menschen, die eigentlich Männer sein wollen, stilisiert. Es traf diese Frauen spät, aber es traf sie.

Die bereits zuvor stark artifizielle Natur der Identität weißer Frauen wurde durch das neue Zeitalter weiter zugeschnitten. Es wurde schwerer und schwerer in den Typus zu passen und so begannen auch weiße cis Frauen zu verstehen, wie toxisch diese Ideale sind.


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Woman in front of mirror, Clementina Maude (ca. 1860)


Internalisierte Misogynie, Heteronormativität und Opferrollen

Man sollte meinen, dass nun, da auch weißen Frauen ihre Weiblichkeit abgesprochen wird, alle zusammenkommen würden, um das Ideal ein für alle Mal abzuschaffen. Dem ist nicht so. Rassismus und LGBTQA*-Feindlichkeit werden von weißen cis Frauen weiterhin systematisch genutzt, um sich über andere Frauen zu stellen. Die Opferrolle der weißen cis Frau dominiert die Medien bei jeder Diskussion über Weiblichkeit.

Und ja, es gibt Wege, wie weißen cis Frauen ihre Weiblichkeit abgesprochen werden kann. Aber die, die sprechen, sind fast immer normschön, weiblich gelesen, gebildet, haben lange Haare, einen funktionierenden Uterus, oft sogar Kinder und sind in einer heteronormativen Beziehung. Das, was sie als Raub ihrer Weiblichkeit sehen, sind lediglich Kommentare. Diese definieren manche Frauen als weniger weiblich, weil sie den Stereotypen nicht entsprechen und tun natürlich weh und schaden unserem Bild von Weiblichkeit. Aber weiße cis Frauen sind dennoch das Ideal. Wenn es uns schon so geht, wie geht es dann wohl den Frauen, die wir aktiv in den Hintergrund drängen, um unser Leidensnarrativ zu bestärken?

Leider haben weiße (cis) Frauen dann auch noch den Reflex, direkt in die internalisierte Misogynie zu fallen. Wenn (cis) Männer uns die Weiblichkeit absprechen, ist es besonders bei Jugendlichen eine automatische Reaktion, alles weiblich Konnotierte abzuwerten. Ich war auch mal ein ‚Gamergirl‘ und habe stereotypisch-weiblichere Frauen niedergemacht, damit man mir sagt, dass ich nicht so wie andere Frauen bin. Sondern besser, ‚chill‘ eben und nicht so viel Drama. Wir kennen alle diese Sprüche und das ist nicht die Lösung.

Frauen und weiblich Gelesene, die sich an diesem ‚Kampf‘ beteiligen wollen, müssen mehr aufeinander hören und gemeinsam an einem Strang ziehen. Dazu gehört auch, als weiße cis Frau, die alle (oder viele) Marker der Weiblichkeitsideale trifft, einfach mal leise zu sein. Weiße cis Frauen, egal ob dick oder dünn, jung oder alt, hetero oder nicht müssen realisieren, dass wir nicht der Mittelpunkt dieses Problems sind. Wir sind zu großen Teilen immer noch das Ideal und unsere Probleme sind real, aber nur ein Bruchteil von allem, was seit Jahrhunderten in diesem Sektor passiert. Wir haben diese Spaltung lange aktiv angetrieben und tun es noch heute, wie die weißen cis Frauen in der us-amerikanischen Politik, die es für arme (oft schwarze) Menschen mit Uterus schwerer machen, sicheren Zugang zu Abtreibungen zu erhalten.

Wir sind das Ideal, haben es mit aufgebaut und doch sind wir die, die öffentlich dazu sprechen und uns oft als reine Opfer darstellen. Wenn wir so weitermachen, wird diese Diskussion nie wirklich etwas verändern.


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Große Neeberger Figur, Wieland Förster (1971)

(Foto von Ben Kaden (2017))


Weitere Links

Über die Karikatur der schwarzen Frau (engl./Video)

Zu kulturellem Diebstahl in der weißen, westlichen Kultur (engl./Podcast)

Eine Buchdiskussion zum Thema Musikdiebstahl (engl)

Ein Videoessay zu Ariana Grande und den Kardashians (engl./Video)

Ein Videoessay über Blackfishing (engl./Video)

Ein Artikel über Blackfishing (deutsch)

 

Sexuelle Gewalt im Mediengedächtnis

 

Tragische Vorgeschichten (1)

Sexuelle Gewalt im Mediengedächtnis und als tragische Vorgeschichte


TW: Sexuelle Gewalt, Cissexismus, Sexismus, Bild eines abgetrennten Medusakopfes, Bilder, die sexuell anzüglich sind, historische Darstellungen von sexueller Gewalt.


Dieser Blogtext wird euch kostenfrei zur Verfügung gestellt, falls ihr mich und meine Arbeit unterstützen wollt, könnt ihr das hier: Paypal.


Disclaimer: In diesem Artikel ist von (nicht zwingend cis) weiblichen und männlichen Opfern/Täter*innen die Rede, da nicht binären Menschen und die generelle LGBTQA+ Community ein besonderes Verhältnis zu sexueller Gewalt haben, dass zu tief geht, um es gebührend einzubringen. Am Ende des Beitrags wird ein Artikel zum Thema verlinkt.


Eine gut geplante Hintergrundgeschichte ist ausschlaggebend, um Figuren in Büchern, Serien, Filmen und anderen Medien mehr Leben einzuhauchen. Ohne sie wirkt alles platt und lieblos entworfen. Dabei spielt die tragische Vorgeschichte eine wichtige Rolle, besonders, wenn es um Frauen geht. In diesem Beitrag werden die Fragen beantwortet, warum sexuelle Gewalt dazu oft als billiges Stilmittel genutzt wird und woher die Faszination an „der leidenden Frau“ kommt. Er stellt den persönlichen, medienbasierten Versuch einer Analyse des Stilmittels dar und ist dementsprechend als reiner Meinungsartikel zu lesen.


Das Bild der leidenden Frau

In den Medien sind wir von der Manifestation sexueller Gewalt umzingelt: dem Bild der leidenden Frau. Sie ist überall. In manchen Fällen scheint es, als wäre das Leiden die einzige Aufgabe der Frau. Dabei muss man sich als Rezipient*in und Produzent*in klar machen, was da als Stilmittel verwendet wird: nämlich die Geschichten realer Opfer.

Es ist leicht, in die Fußstapfen von Medienproduzent*innen zu steigen, die sexuelle Gewalt als simples Mittel zur Definition einer mittlerweile klassischen Frauenrolle nutzten. So geht die Faszination an leidenden Frauen im 21. Jahrhundert in die nächste Runde. Ein Fetischrelikt aus der Zeit, in der nur Männer die Filme drehten und (Dreh)Bücher schrieben, der Zeit des male gaze. Anders als diese Männer starb die mediale Aufregung um sexuelle Gewalt jedoch nicht in den 90ern an Alkoholkonsum und Kokain.

Heute finden sich in jeder Krimiserie ermordete Frauen und wenn Figuren eine Hintergrundgeschichte brauchen, die tragisch und abschreckend sein soll, greifen Autor*innen automatisch zur sexuellen Gewalt. Kaum etwas ist im medialen Gedächtnis so stark verankert, wie Vergewaltigungsdarstellungen. Dass uns das noch immer beschäftigt, zeigte sich 2018 an der Kontroverse um die sogenannte „Butterszene“ aus Der letzte Tango in Paris. Die Rollenverteilung ist klar: Die hilflose Frau wird vom Bösewicht erobert, der zwar generell „negativ“ dargestellt wird, aber halt doch irgendwie ein cooler Stecher und badass ist. Die Schauspielerin wird von der Szene überrascht für eine „bessere Reaktion“. Hierbei wird die Frage danach, was Kunst darf, über das Leben einer Frau gestellt. Sie stellt die Rolle der leidenden Frau nicht nur dar, sondern wird zu ihr, verschmilzt mit ihr, um die Kunst realer zu machen.

Wir schaffen es bis heute nicht, moralische Grenzen zu setzen, wenn es um das Leiden der Frauen geht. Die tote Prostituierte in Criminal Minds hat es halt doch ein bisschen verdient, wenn der Täter schwarz ist, hat man schon die ganze Zeit geahnt, dass er das war, der hämische Polizist, der dem Opfer nicht glaubt, ist eben noch vom alten Schlag und wenn die Figur des Vergewaltigenden nicht männlich, generell angsteinflößend und böse ist, gibt es dutzende Ausreden und Verteidigungen. Aus einer Straftat wird eine Kontroverse. Wie sympathisch darf ein*r Täter*in sein? Wie weit vom Stereotyp entfernt man sich? Was darf man darstellen und wie?

Wenn es dann auch mal um das Trauma von Männern geht, die missbraucht werden, landen wir bei Büchern/Filmen wie 50 Shades of Grey, in denen die männliche Hauptfigur seine Vergangenheit versteckt, sich schämt und permanent „es gefiel ihm ja irgendwie doch“ im Hintergrund mitschwingt. Zudem wird es als Ausrede für sein Fehlverhalten (Stalking, sexuelle Gewalt, Kontrolle einer Frau) gebraucht. Männer dürfen nicht leiden, Frauen müssen es.


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James Sant, Contemplation


Westliche Geschichte als Vorbild

Diese Darstellungen kommen nicht (nur) aus der Zeit, in der jeder zweite mediokre cis Mann mit einer Kamera tragische Filme über leidende Frauen drehte. Das Medienphänomen der sexuellen Gewalt ist so alt wie die (westliche) Kultur. Das Paradebeispiel für grausige Geschichten, mehr Vergewaltigungen, als man zählen kann (und möchte) und dem typischen Bild der leidenden, schwachen Frau ist die (griechische/westliche) Mythologie. Damit findet sie sich in Erzählungen überall um uns herum.

Wie etwa in der Geschichte hinter dem Sprichwort „mit Argusaugen beobachten“. In der Mythologie wird eine junge Frau namens Io von Zeus bedrängt und vergewaltigt. Hera verwandelt sie zur Strafe in eine Kuh, die dann von dem Riesen Argus bewacht wird. Auch der Raub der Europa ist eine Geschichte über sexuelle Gewalt, die uns tagtäglich begleitet und die Erzählungen um den Gott Pan sind schlichtweg grauenvoll. Unser Kulturgut ist voller sexueller Gewalt. Ist es da ein Wunder, dass sie uns bis heute in allen Medien begleitet?

Medusas Geschichte ist der Prototyp der tragischen Hintergrundgeschichte; inklusive sexueller Gewalt, Rache der Gattin des Täters (was die Frage nach dem Ursprung internalisierter Misogynie weckt) und Distanzierung zwischen Tat und Opfer. Durch die Mythisierung des Gewaltakts wird dieser zur reinen Gräueltat und das Opfer wird in den Hintergrund geschoben. Er dient zur bloßen Abschreckung, statt zur Reflexion. Moralische Linien werden zugunsten einer gut zu erzählenden Geschichte verbogen.

Das begegnet uns auch im Mittelalter wieder. Dort wurde sexuelle Gewalt so stilisiert, dass die Menschen bis heute historische Korrektheit schreien, um in ihren Mittelalterromanen, Filmen, Serien und Spielen möglichst viele Vergewaltigungen einzubauen. Auch hier natürlich nur an Frauen. Denn die Realität ist nicht das, an was wir uns erinnern. Wir haben nur die Darstellungen seit der Antike vor Augen; die Männer als Täter und Frauen als Opfer. In diesen Medien wird nicht nur die Perspektive der männlichen Opfer komplett ausgeklammert, auch die weiblichen kommen nicht zu Wort. Denn die, die Sprechen, sind nie Opfer. Man sieht die leidenden Frauen immer passiv. Ihr Leiden und ihre Reaktion wird von Menschen nacherzählt, die keine Ahnung haben, wie es wirklich war.

Es ist fester Bestandteil unserer Kultur, unseres Mediengedächtnisses und unseres Alltags, dass sexuelle Gewalt etwas „Normales“, ja fast „Natürliches“ ist, das festen Regeln folgt. Die leidende Frau ist also mehr als nur ein Stilmittel, sie ist allgegenwärtige Realität, die tief in unserem Verständnis von (westlicher) Geschichte und Literatur verankert ist. Das fällt zu Teilen in das, was man rape culture nennt. Wir werden mit diesem Wissen sozialisiert und nutzen es, um sexuelle Gewalt zu rechtfertigen, kleinzureden – und sie uns anzueignen.


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o. A., Head of Medusa


Das Problem mit tragischen Vorgeschichten

Diese Aneignung ist es, die tragische Vorgeschichten, die aus sexueller Gewalt bestehen, schwierig macht. Wir sind so umgeben von dieser Art der Gewalt, dass es leicht fällt zu ignorieren, dass es tatsächliche Betroffene gibt, deren Erfahrungen man sich zu eigen macht. Deren Geschichten sind es, die als dramatisches Stilmittel genutzt werden. Das ist etwas, was sich niemand anmaßen darf. Aber wir sind daran gewöhnt, weil wir in unserem Kulturgut nie etwas anderes kennenlernten.

Nichtbetroffenen steht es nicht zu, zu raten, wie jemand wohl reagiert und dann davon ausgehend ihre Protagonist*innen als „stark“ oder „schwach“ zu betiteln. Dazu ist das Thema zu divers und zu real. Es gibt nicht eine Art von Opfern/Überlebenden. Das Leiden vor die Person zu stellen, reale Opfer damit zu stigmatisieren und sich daran selbst zu bereichern (oder es zu nutzen, um sich als kontrovers darzustellen) ist nicht akzeptabel.

Trigger und falsch dargestelltes Trauma sind kein Witz/simples Stilmittel. Wir führen die Tradition der leidenden Frauen weiter, statt sie endlich aus unserem Mediengedächtnis zu streichen. Frauen brauchen immer eine tragische Hintergrundgeschichte und wenn man sie schreibt, dann das volle Programm. Inklusive bösen Träumen, Konfrontation mit dem (natürlich cis männlichen) Täter und unrealistischen Therapiesitzungen. Am Ende kann die Frau endlich wieder vertrauen, weil sie den einen Mann gefunden hat, der sie all ihr Trauma vergessen lässt. So funktioniert das im echten Leben nicht und Menschen, die diese Themen unreflektiert behandeln, müssen endlich Konsequenzen sehen.

Wir haben als Gesellschaft eine Verantwortung, uns darauf zu einigen, wo wir moralische Grenzen setzen und wo wir die Diskussionen und Kontroversen beiseitelegen, um im Konsens zu sagen: Das geht zu weit. Keine lange Medienausschlachtung, die das Buch/den Film/die Serie noch bekannter macht. Ein kollektives Im-Keim-Ersticken der Werke, die es 2019 noch immer nicht begriffen haben. Dazu gehören bekannte Titel wie 50 Shades of Grey und Kingdom Come: Deliverance, aber auch Indietitel, Bücher von Selfpublishern und underdog Netflixserien.


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Peter Paul Rubens, The Rape of Proserpina


Klischees und sexuelle Symbolik

Das Problem an Szenen, die sexuelle Gewalt zeigen, ist oft ihre Umsetzung und der Grund, warum sie existieren. Sexuell aufgeladene Waffen wie das Messer werden genutzt, ohne das man sich der Bedeutung bewusst ist.


[Messer sind eine sexuell aufgeladene Waffe, da sie den Akt des Eindringens symbolisieren. Dies wird so oft in Darstellungen von sexuellem Sadismus genutzt, dass viele die Assoziation zwischen sexueller Gewalt und Messern haben, ohne zu verstehen, woher sie kommt. Die wenigsten Vergewaltigungen geschehen jedoch aus sexuellem Sadismus heraus, was die Verknüpfung der generellen Tat mit dem Messer problematisch macht. Meistens wird sexuelle Gewalt von psychologischer und verbaler Gewalt begleitet, nicht von physischer. Das Problem hierbei ist also, dass Menschen Waffen und sexuelle Gewalt so sehr miteinander verbinden, dass es ihnen schwer fällt, Opfern, die nicht von einer Waffe bedroht wurden, zu glauben.]


Die sexuelle Gewalt wird eingebaut, weil man ein Schockelement braucht. Dabei machen sich die wenigstens bewusst, dass es mehr als nur das ist. Weitere Probleme, die es in der Darstellung von sexueller Gewalt gibt:

  • Victim blaming (besonders bei Sexarbeiter*innen).
  • „Klassische“ Geschlechterrollen und eine binäre Sichtweise.
  • Das Aufkommen des Traumas nur dann, wenn es für den Plot passend ist.
  • Die Bezeichnung einer Vergewaltigung als „harter/unfreiwilliger Sex“. (Eine Vergewaltigung ist kein Sex, sondern ein Gewaltakt!)
  • Das Ausblenden der Tatsache, dass Täter*innen zumeist nahe Bekannte oder sogar Familienmitglieder sind, die man nur schwer als solche wahrnehmen kann/will.
  • Das Niedermachen männlicher Opfer (z. B. durch Seifen- und Gefängniswitze).
  • Die Darstellung von Trauma, wie man es sich als Außenstehende vorstellt, statt wie es tatsächlich ist.
  • Das Weglassen der Machtstrukturen, die hinter sexueller Gewalt stehen. (Diese ist immer ein Machtakt, nie ein Sexakt. Es geht nicht um die Erfüllung sexueller Bedürfnisse, sondern um das Stärken von Machtpositionen. Ausnahmen sind extrem selten und bedeutet viel Recherche über die psychologischen Auslöser.)

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Nikko Russano, The Male Gaze


Warum sexuelle Gewalt?

Die Frage, die man sich als Autor*in oder Medienproduzent*in immer stellen sollte ist: Warum muss hier eine Vergewaltigung hin?

Das Thema an sich kann gut und mit Mehrwert vermittelt werden. Aber sexuelle Gewalt, insbesondere Gewalt an Frauen, wird in fast jedem Medium gezeigt und ausgeschlachtet. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es unmöglich ist, den Fernseher anzumachen oder ein Buch aufzuschlagen, ohne auf sexuelle Gewalt oder den Mord an einer Frau zu treffen. Dabei sind diese Vorkommnisse im echten Leben bereits zu real, zu viel und zu belastend. Es ist ein unfassbarer Druck, immer und überall mit toten oder geschändeten Frauen konfrontiert zu werden. Die Rechtfertigung, dass jemand eine Hintergrundgeschichte brauchte, wirkt wie ein schlechter Scherz. Denn besonders für die LGBTQA+ Community, Sexarbeiter*innen, Opfer jeden Geschlechts und Angehörige ist es kein lapidares Thema, was man als Hintergrundgeschichte verkleiden kann, sondern ein grausiger Alltag aus den Nachrichten und dem Freundeskreis.

Ohne triftigen Grund, gute Recherche und sensiblen Schreibstil sollte man nicht noch ein Medium liefern, in dem jemand vergewaltigt wird. Das braucht weder die Film- und Serienlandschaft, noch die Buchwelt. Die Realität der Opfer ist kein Stoff, aus dem Nichtbetroffene sich eine tragische Vorgeschichte für ihre Figuren erdichten können. Das ist einfach respektlos und zeugt von schlechtem Stil.


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o. A., Perithoos Hippodameia


Fazit

Sexuelle Gewalt steckt in der (westlichen) Kultur, Geschichte und Medienlandschaft. Wir alle werden mit Stereotypen und problematischem Grundwissen sozialisiert und wachsen in der Annahme auf, dass sexuelle Gewalt normal ist, dazu gehört und dass es immer irgendjemanden treffen muss; dass es Vermeidbar ist, in dem man gewissen Regeln folgt. Dabei ist sexuelle Gewalt nicht nur eine Tat von Fremden und die Lösung ist nicht, einen Rock anzuziehen, der länger ist, als der der Frau neben uns, damit es sie trifft und nicht uns.

Unser Mediengedächtnis ist so voll von Variationen der leidenden Frau, dass es uns natürlich erscheint, als Nichtbetroffene über sexuelle Gewalt zu schreiben. Weil man das Gefühl hat, man wüsste, wie das ist; weil es ja „allgemeines Wissen“ ist. Immerhin gibt es überall Darstellungen davon. Die moralischen Grenzen sind so schwammig gesetzt, dass es als Kontroverse gilt, wenn jemand, der in Serien/Filmen/Büchern unschuldig wäre, als Täter*in dasteht. Kann man dem Opfer glauben, wo uns doch jahrtausendelang eingetrichtert wurde, wie sexuelle Gewalt, ihre Opfer und die Täter*innen auszusehen haben?

Es wird Zeit uns davon loszusagen, was in den Medien als Realität gezeigt wird. Die Aneignung von Erfahrungen ist nicht akzeptabel, um eine „interessante“ und „grausige“ Hintergrundgeschichte zu erfinden. Ebenso, wie es nicht akzeptabel ist, die vom male gaze der Filme des 20. Jahrhunderts und den Mythen und Geschichten der (westlichen) Kultur geprägten Bilder über sexuelle Gewalt und leidende Frauen weiterhin bedingungslos zu verbreiten.


Weiterführende Literatur

Vergewaltigung als TV-Trope (Englisch)

Der Medusamythos und weibliche Wut (Englisch)

Über das Phänomen des „literary rape“ (Englisch)

Klischees in der Darstellung von sexueller Gewalt (Englisch)

Sexuelle Gewalt und die LGBTQA+ Community (Englisch)

Mythen über sexuelle Gewalt (Englisch)

Buchrückblicke für Wir lesen Frauen

 

Buchrückblicke für Wir lesen Frauen


In diesem Artikel geht es um die Challenge ein Jahr lang Bücher von Frauen/weiblich Gelesenen zu lesen, die von Eva-Maria Obermann ins Leben gerufen wurde. Mehr zur Challenge findet ihr in diesem Beitrag: Wir lesen Frauen – Gedanken und Literaturtipps zur Challenge.

Was ich bisher gelesen habe

1. Lest ein Sachbuch zum Thema Feminismus

Ich habe mich für „Rebellische Frauen – Women in Battle: 150 Jahre Kampf für Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit“ von Marta Breen und Jenny Jordahl entschieden. Die Norwegerinnen haben in der Graphic Novel die letzten 150 Jahre feministische Kämpfe beschrieben. Dabei liegt der Fokus auf der ganzen Welt, nicht nur im Westen – was ich toll fand. Trotzdem war viel in Buch mainstream, das heißt weiße, westliche Geschichte. Das fand ich sehr schade, da die Repräsentation der B_PoCs im Buch generell gut umgesetzt war. Es war nur zu wenig.

2. Lest ein Buch aus einer Autorinnenvereinigung

3. Lest ein Buch einer Woman of Color

Diese Aufgabe habe ich noch nicht abgeschlossen, ich arbeite jedoch daran. „Mãn“ von Kim Thúy ist, wie der Rest ihrer Bücher auch, bisher absolut großartig, bewegend und eines der wenigen Bücher, das ich auf Französisch lese. Dadurch brauche ich sehr lange, bisher ist es das aber absolut wert.

4. Lest einen Essayband einer Autorin

5. Lest das Buch einer deutschen Autorin

6. Lest das Buch einer nicht-europäischen und nicht-amerikanischen Autorin

Isabel Allendes „Paula“ half mir letzten Monat dabei, mein Spanisch wieder zu verbessern, nachdem ich es vor einiger Zeit auf Englisch schon einmal las. Das Buch ist immer wieder eine Leseempfehlung von mir. Egal auf welcher Sprache.

7. Lest ein Sachbuch von einer Autorin

Diesen Punkt verdanke ich der Abschlussarbeit. „Familie als Drama“ von Ursula Hassel beschreibt die Darstellung von Familien in Dramen.

8. Lest ein preisgekröntes Buch, das eine Frau geschrieben hat

9. Lest das Buch einer SP-Autorin

10. Lest einen Klassiker aus der Feder einer Autorin

Im Rahmen der Lesechallenge von 54 Books las ich „Kallocain“ von Karin Boyle.

11. Lest einen Gegenwartsroman einer Autorin

12. Lest die Geschichte einer trans Frau, geschrieben von einer (trans) Frau

Respekt zwischen Autor*innen in Sozialen Medien

Respekt zwischen Autor_innen in den Sozialen Medien

Respekt zwischen Autor*innen in Sozialen Medien



Tw: Antifeminismus, Kraftausdrücke


Disclaimer: Dieser Artikel wurde bereits 2017 veröffentlicht, Mitte 2018 auf dem neuen Blog veröffentlicht und nun überarbeitet und erneut veröffentlicht. Mit diesem Artikel sollen keine einzelnen Autor*innen angegriffen werden, es handelt sich um einen reinen Meinungstext zu Onlinekultur und Kritikfähigkeit.



Marketing in den sozialen Medien: Von Autor*innen – Für Autor*innen

Im 21. Jahrhundert ist das Marketing für Autor*innen abhängig von sozialen Medien. Vernetzung findet über Facebook, Blogs und Webseiten wie der Schreibnacht, Wattpad, etc. statt. Dabei nimmt Twitter zunehmend einen zentralen Punkt ein. Denn Twitter ermöglicht es Autor*innen unter anderem mithilfe von Hashtags ihre Fortschritte zu teilen – mit Kolleg*innen, Fans, Leser*innen und komplett Außenstehenden.

Kommunikation ist ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg.

Der Umgang zwischen Autor*innen auf diesen Seiten ist in der Regel freundlich, meistens kollegial und bestenfalls unterstützend. Veröffentlichungen und Gewinnspiele werden geteilt, man tauscht sich über Ideen, verrückte Lektoratsmomente und den Stress des Schreibens neben dem Alltag aus. Respekt und Höflichkeit sollten hier gegeben sein.

Schwarze Schafe

Wie das im Internet nun aber leider üblich ist, gibt es schwarze Schafe. Also Menschen, die den Umgang mit anderen Autor*innen und die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, nicht wertschätzen können/wollen. Das man es (gerade als Frau) oftmals mit Trollen zu tun hat, darauf stellt man sich ein, wenn man Twitter beitritt. Irgendwie gehört das ja zur gesamten Erfahrung von „Mensch im Internet“ dazu. Wenn die Respektlosigkeit und die Kommentare jedoch aus den eigenen Reihen kommen, dann beginnt man sich als Autor*in seltsam zu fühlen.

Kein Mensch ist perfekt. Jede*r macht mal Fehler, verhält sich falsch und/oder legt sich mit anderen an. Da stelle ich selbst keine Ausnahme da. Doch wenn beide Parteien erwachsen handeln, ihren Konflikt lösen und sich die „schuldige“ Person entschuldigt, um auf eine friedliche Basis zurückzukehren oder man sich fortan einfach aus dem Weg geht, ist das alles ertragbar. Das Problem liegt bei Wiederholungstäter*innen und Menschen, die ihre Fehler nicht einsehen wollen.

Respekt und Community

Ob man nun auf Webseiten respektlos gegen andere Mitglieder der Community vorgeht, beleidigende Blogeinträge über Bücher oder andere Autor*innen verfasst oder auf Twitter seine Kolleg*innen verreißt – man verhält sich falsch. Streits, die man in die sozialen Medien zieht, sagen einiges über die Person aus, die den Schritt in die Öffentlichkeit macht.

Unsicherheit und fehlende Reife zeigen sich durch Beiträge wie: „Schaut her! Diese Person/diese Feministin/diese Bitch hat mich blockiert, haha! Wie lächerlich!“ oder „Schaut her! Ich habe ein privates Gespräch mit dieser Person und teile das mit euch (ohne Zustimmung der Person), um sie ins Lächerliche zu ziehen und Zustimmung von euch zu bekommen!“ – Solches Verhalten irritiert vor allem die Menschen auf der anderen Seite, aber auch andere Kolleg*innen außerhalb.


Damit meine ich keine (!) generellen Callouts, sondern Kolleg*innen, die sich gegenseitig ihrer Bubble zum Fraß vorwerfen. Das passiert oft nach einem Callout und soll diesen nachahmen, was den Menschen jedoch kaum gelingt.


Natürlich kann man je nach Ausmaß rechtlich gegen solche Leute vorgehen, aber es geht um mehr als das. Es geht um Respekt. Um menschlichen Umgang miteinander. Besonders im Öffentlichen.

Was man darf und was man soll

Natürlich darf man die Meinung sagen. Man darf sich auch öffentlich über andere lustig machen oder einfach alle kritischen Stimmen wegblocken. Man darf so einiges.

Aber sollte man das als Autor*in ausnutzen? Die Antwort auf diese Frage kann man sich eigentlich denken. Kaum eine Berufsgruppe ist so auf die eigene Reputation und die Kolleg*innen in den Sozialen Medien angewiesen, wie Autor*innen. Erlaubt man sich deshalb einen Fehler, so ist die Reaktion, wenn man darauf angesprochen wird, entscheidend für die eigene Karriere.

„Alle sind gegen mich und verschwören sich/drohen mir damit, meine Bücher nicht mit zu promoten“ ist eine sehr schwache Reaktion auf die eigenen Fehler. Denn natürlich wird niemand mehr Marketingtweets der Person verbreiten, die sich in der Autor*innenenwelt einen gewissen Ruf erarbeitet hat. Natürlich möchte niemand mehr mit so jemandem zusammenarbeiten.

Man ist auf sich gestellt und erfährt am eigenen Leib, dass es kaum Wichtigeres gibt, als andere Autor*innen, für das Marketing auf Twitter, Facebook und co. Dabei geht es nicht um eine persönliche Vendetta sondern darum, dass niemand mit der Person verknüpft werden will, die Kolleg*innen bloßstellt und respektlos um sich schlägt.

Folgen derer man sich bewusst sein muss

Man kann als Autor*in also Kolleg*innen beleidigen, sich über sie lustig machen, Informationen ohne Zustimmung der Menschen verbreiten und öffentlich gegen Werte eintreten, die von vielen Autor*innen vertreten werden. Man kann versuchen Aufmerksamkeit durch blanke Provokation zu erreichen. Man kann seinen Kolleg*innen permanent aufstoßen und passiv-aggressiv auf alles reagieren.

Will man als Autor*in jedoch jemals eine richtige Plattform in den sozialen Medien aufbauen und von anderen unterstützt und respektiert werden, so sollte man anfangen die Schuld bei sich selbst, statt bei anderen zu suchen. Dazu gehört es auch, sich richtig zu entschuldigen, die kritischen Stimmen zu entblocken und hoffen, dass all die Menschen, die man im Zuge seiner Fehler verletzt und getroffen hat, willig sind, einem eine zweite Chance zu geben.

Von der Aufklärung zur Moderne – Eine kleine Literaturgeschichte I

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Von der Aufklärung zur Moderne – Eine kleine Literaturgeschichte I

1720 – 1790


Einleitung – Die Bedeutung eines neuen Zeitalters

Um sich der literarischen Strömungen der letzten Jahrhunderte bewusst zu werden, muss man über das rein literaturwissenschaftliche hinausschauen. Das 18. Jahrhundert bietet einen Ausgangspunkt, um den Übergang zwischen der Frühen Neuzeit und der Moderne festzumachen. Ein Knick in der Art, wie Menschen die Welt sehen und dies in der Literatur niederschreiben.

Grundsätzlich wird die Zäsur zwischen Früher Neuzeit und Moderne bei der Französischen Revolution, also gegen Ende des 18. Jahrhunderts, gesetzt. Die zehn langen, teils grausamen Jahre zwischen 1789 und 1799 formten Literatur und Zeitgeist maßgeblich. Zu Beginn des 18. Jahrhundert, in der sich anbahnenden Endphase des Absolutismus, begann etwas. Es führte nicht nur zu diesem Bruch – knappe 100 Jahre später –  sondern beeinflusst unser Denken und Handeln bis heute.

Die Rede ist von der Aufklärung.

Generell zwischen 1700/1720 und 1780/1800 angesiedelt, umfasst die historische Epoche der Aufklärung etwa 100 Jahre. In dieser Zeit geschah der Wandel von einer mittlerweile eher angestaubten Denkweise, hin zu etwas komplett Neuem. Vernunft wurde erforscht und gefordert, Stilarten entwickelten sich, literarische Gattungen erblühten und die alten Werte verschwanden, um Platz für neue Traditionen und moderne Sichtweisen und Studien zu machen. Die Psychologie als Studienfach entwickelte sich und übte große Einfluss auf das Schreiben und Leben der Menschen aus. Ebenso wie die Kritik an der Kirche, der zunehmende Individualismus und die Fokusverlegung von einem Leben nach dem Tod, zu einem Leben im hier und jetzt.

100 Jahre im Detail – der Anfang der Aufklärung

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren die Dichter*innen und Denker*innen rund um Deutschland herum schon lange dabei, sich nach der Aufklärung auszurichten. In England florierte die Idee eines Umbruchs, aber es war Frankreich, welches Deutschland über die nächsten 100 Jahre hinweg konsequent beeinflussen sollte. Aufklärerische Schriften und Tendenzen kamen über die Ländergrenze und nahmen Halt von den bis dahin noch nachhinkenden deutschen Literat*innen.

Die Aufklärung ist mehr, als nur eine literaturhistorische Epoche. Das steht außer Frage. Es ändert jedoch nichts daran, dass die Literatur schnell auf den Zug aufsprang und sich als modern, frisch und vor allem vernünftig profilierte.

Dies liegt daran, dass fast alle deutschen Vordenker der Aufklärung LiteratInnen waren. Als die Aufklärung in Begleitung der Empfindsamkeit (1740-1790) nach Deutschland schwappte, erweiterte sich das übliche Lesepublikum enorm. Denn die Empfindsamkeit brachte immer mehr Frauen zum Lesen und Schreiben. Das bislang verpönte ‚überschwängliche Gefühl‘ wurde in der Empfindsamkeit Sittlich und Ideal. Autor*innen wie Friedrich Gottlieb Klopstock und Sophie von La Roche, die Autorin des ersten deutschsprachigen Briefromans, prägten die Literaturlandschaft so wirksam, dass sich ihre Sichtweisen noch im Sturm und Drang zeigten.

Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten sich Theorien und Schriften zum Thema wurden ausformuliert. Immanuel Kant formte mit seinen Schriften zur (reinen) Vernunft und dem Erhabenen nicht nur die Psychologie, sondern auch die Art, wie Literatur und Kunst wahrgenommen wurden. Ästhetik und Empfinden wurden als Gesprächsthema populär, was nicht zuletzt auch am Einfluss der Ästhetik des Rokoko lag.

Es formten sich mehrere Stränge, die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Epochen und Literaturströmungen auffindbar sind. Die eine Seite entwickelte sich zum Moralischen hin. Der vermutlich meistgelesene Autor seiner Zeit, Christian Fürchtegott Gellert war es, der die Fabel und ihre Fähigkeit, eine Lehre einfach aber effektiv zu vermitteln, popularisierte. Dichter wie Gotthold Ephraim Lessing und Johann Christoph Gottsched hingegen orientierten sich am französischen Vorbild und formten die Literatur neu. Zumindest versuchten sie es. Dramentheorien wurden aufgestellt, die sich zu dem frischen Ästhetikverständnis ausrichteten. Prosawerke erlangten bislang ungekannte Aufmerksamkeit und reihenweise französische Schriften wurden übersetzt und ergänzt. Etwas, an dem sich auch Friedrich Schiller beteiligte (Übersetzung von Boileaus Theoretischen Gedanken) oder Johann Wolfgang von Goethe, spät im Jahrhundert, mit seinen Interpretationen von Voltaires Schriften.

Nicht alles hatte immer die gewünschte Auswirkung. Gottsched trieb die Aufklärung stark an, scheiterte jedoch darin, sein Werk Der sterbende Cato (1732) zu einem Regeldrama zu machen. Dafür kann die Aufklärung einen großen Sieg für sich verbuchen: die deutsche Sprache. Es war Gottsched, natürlich in Begleitung anderer, der sich von Anfang an für eine Normierung des Deutschen einsetzte. Er und seine Zeitgenossen setzten den Grundstein für die ersten Wörterbücher, wie sie die Brüder Grimm Mitte des 19. Jahrhunderts herausgaben. Ohne das Engagement der Aufklärer, hätte dieser Schritt in Richtung einer einheitlichen, modernen Sprache sich wohl noch mehr in die Länge gezogen.

Die andere Seite des 18. Jahrhunderts – der Sturm und Drang und andere Rebellen

Neben den moralisierten Literaturvorstellungen Gellerts und den Ideen zur Weiterentwicklung deutscher Literatur, wie man sie bei Lessing findet, gab es noch eine dritte Seite. Bevor es aber um die Rebellen gehen soll, muss man einen Autor ansprechen, der Mitte des 18. Jahrhunderts zwischen all den Umbrüchen etwas anderes fand. Johann Joachim Winckelmann war ein Archäologe und Kunsthistoriker, der in der Masse der übersetzten französischen Schriften eine aktuelle Debatte fand.

Der Absolutismus schien für Zeitgenossen Winckelmanns, obschon es aus heutiger Sicht klar ist, dass er dem Untergang geweiht war, nach außen hin funktional. Unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. wurden vigoroso Steuern eingetrieben, um die zahlreichen Kriege, aber auch die Künstlerstipendien und die teure (Barock)Architektur des späten 17. Jahrhunderts zu finanzieren. Ein System, welches Frankreich immer weiter an den Rand des Kollapses trieb, den es ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Sonnenkönigs erreichte.

Trotz dieser, für uns deutlichen, Zeichen, wurde die zeitgenössische Literatur Frankreichs unter dem Absolutismus als modern und fortschrittlich betrachtet. AutorInnen wie Madeleine de Scudéry profitierten von der Salonkultur in der Literaturhauptstadt Paris und reflektierten über Tradition, Architektur, den König und die eigene Geschichte in einer leichten, frischen Art. Sie beriefen sich zu Teilen noch auf antike Vorbilder, folgten ihnen aber nicht mehr. Die Freiheiten, die französische AutorInnen ab dem späten 17. Jahrhundert hatte, machten es möglich, sich immer mehr von diesen Regelungen zu entfernen und sie durch neue Leitlinien zu ersetzen.

Aus dieser Entwicklung entsprang die Querelle des Anciens et des Modernes. 1687 begannen sich Literat*innen zu fragen, inwiefern die Antike noch als Vorbild dienen sollte/durfte. Moderne Literatur stand dem jahrhundertelang gepflegtem Erbe der Antike entgegen. Winckelmann brachte diese Diskussion 1756 nach Deutschland. In seinem Werk Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst sprach er sich für die Antike als Vorbild aus und gründete damit den deutschen Klassizismus.

Fast zeitgleich, 1765 um genau zu sein, entwickelten eine Handvoll rebellischer, männlicher Autoren in ihren 20ern, aus den Grundsätzen der Empfindsamkeit und einem antiautoritärem Geist, den Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder, Jakob Michael Reinhold Lenz, Friedrich Maxim Klinger und Friedrich Schiller, um nur einige zu nennen, waren Stellvertreter für eine neue Generation. Die Autoren des Sturm und Drang waren (bis auf 2-3 Ausnahmen) in den späten 1740ern oder frühen 1750ern geboren. Sie wuchsen auf mit dem Ideal der Aufklärung, die Literatur als etwas definierte, was moralisch bildend und erhellend sein sollte.

Mitte des Jahrhunderts war die Aufklärung in Deutschland voll angekommen und begünstigte Schriftformen, mit denen sich vornehmlich Lehren verbreiten ließen. Eine geregelte Literatur, mit gebändigter Sprache wurde von aufstrebenden Literat*innen gefordert.

Empfindsamkeitsvertreter*innen wie La Roche und Klopstock kritisierten früh, dass diese Art der Regelpoetik zu eng gefasst war. Die junge Generation sprang auf diesen Zug auf und rückte statt der ratio, die emotio in den Fokus der Literatur. Für 10-15 Jahre schrieben die meisten aus der Gruppe Dramen und Lyrik, beeinflusst von der Empfindsamkeit und einem freieren Verständnis von Literatur. Ausläufer des Sturm und Drang finden sich bis 1790, auch wenn die meisten der Jungautoren aus dem ‚inneren Kreis‘ des Sturm und Drang dann schon lange weitergezogen waren.

Der Sturm und Drang war eine kurze, emotional aufgeladene Phase, die schnell ausbrannte, aber als Befreiungsstoß gegen Tradition und Autoritäten wirkte. Aus dieser Miniatur-Epoche heraus entwickelten sich neue Literaturkonzepte, die den Funken der Aufklärung zu einem Feuer machten. Das Feuer, aus dem sich der Umbruch in die Moderne entwickeln solle. Sie formte zudem die, die später in anderen Epochen, besonders in der Weimarer Klassik und Frühromantik, Erfolg haben würden.

Ausblick – Winckelmanns Einfluss, die Weimarer Klassik und der endgültige Umbruch zur Moderne

Im zweiten Teil der kleinen Literaturgeschichte, wird es um all das gehen, was die Aufklärung und das 18. Jahrhundert auslöste. Ende des Jahrhunderts entwickelte sich eine eigene kleine Epoche aus den Untersuchungen Winckelmanns, bevor die Romantik das Ruder an sich riss und Literatur eine ganz neue (und durchaus problematische) Richtung gab.

Die Französische Revolution, Napoleon, die Julirevolution, die Novemberrevolution, das Hambacher Fest und der drohende Pauperismus formten die Stränge in der Literatur, die sich schon im 18. Jahrhundert gebildet hatte, weiter aus: Moral und Tradition – Neue Ordnung – Rebellion. In diesem Chaos finden sich Autor*innen, die zwischen den Stühlen stehen und nicht wissen, zu welcher Richtung sie gehören und wo sie sich selbst einordnen sollen.


Teil II: Umbrüche, neue Identitäten und Revolutionen – Eine kleine Literaturgeschichte II

Elitäre Gruppenbildung in den Online-Geisteswissenschaften

Elitäre Gruppenbildung in den Online-Geisteswissenschaften

Elitäre Gruppenbildung in den Online-Geisteswissenschaften


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Twitter als Online-Raum für geisteswissenschaftlichen Austausch ist aktuell wohl eines der häufigsten Themen in meiner Timeline. Dabei fühle ich mich als Studierende oft nicht mitgemeint, wenn beispielsweise über Literatur gesprochen wird.

Da mich die Chancen von Twitter als offener Raum für Bildung und (literatur)wissenschaftliche Diskussionen interessieren und ich bisher noch keine studentische Sichtweise auf das Ganze entdecken konnte, habe ich mich zu einer kleinen, persönlichen (!) Betrachtung der Lage entschlossen.

Die Ausgangssituation als Studierende

In den letzten Monaten bin ich zunehmend in die Literaturwissenschaftliche-Twitterblase abgerutscht. Ursprünglich war ich als Autorin im Internet unterwegs, dann begannen sich Leute für meine Zusammenfassungen von Uni-Seminaren und Hausarbeiten zu interessieren. Irgendwann wurden aus den ursprünglichen Leser*innen (sprich anderen Studierenden, Autorenkolleg*innen und Freund*innen von mir) Wissenschaftler*innen. Meine Timeline änderte sich. Jetzt bin ich Teil einer regen Gruppe an Literaturwissenschaftler*innen und genieße das sehr.

Man fühlt sich als noch Studierende/r, beziehungsweise Laie/Laiin besonders, wenn man mit Doktorand*innen, Dozierenden und Professor*innen über Themen diskutiert, die alle gleich spannend finden und wo jede Stimme (theoretisch) gehört wird.

Dafür ist mein eigenes Profil jedoch wesentlich leerer geworden und das ist Leuten aufgefallen. Wo früher Threads zu Burgen oder über meine Hass-Liebe (mehr Hass als Liebe) zu Brecht standen, finden sich jetzt nur noch Retweets zur Diskussion anderer. Und das stört mich. Ebenso wie es mir erklärt, warum ich so wenig andere Studierende in den Diskussionen entdecke.

Viel zu oft passiert es, dass Menschen aus Diskussionen ausgeschlossen werden, weil ihnen die nötige (Fach)Sprache oder das absurd große, aber eben geforderte Wissen fehlt.

Mein Blog ist sehr still (und fast leer), weil die bloße Idee zwischen all diesen gebildeten Menschen einen pseudo-wissenschaftlichen, beziehungsweise „minderwertigen“ Bericht über etwas zu veröffentlichen, mir Bauchschmerzen bereitet.

Seit ich (mehrfach) darauf angesprochen wurde, frage ich mich, ob diese ganze Entwicklung wirklich so gut ist, wie ich dachte. Ich hatte mal Spaß daran, Leuten auf lockere Art und Weise von den Inhalten meines Studiums zu berichten. Nun traue ich mich kaum, über Literatur zu schreiben. Weil in meiner Timeline jeden Tag Diskussionen über die Literaturszene stattfinden und Menschen, die ihr Studium lange hinter sich gelassen haben und nun Forschung betreiben und lehren, die Unterhaltung führen.

Woher kommt das und wie kann man entgegensteuern?

Mein Problem als Studierende

Ich bin ehrlich, ich trage zu dieser Spaltung bei. Ich traue mich nicht mehr, einfache Dinge zu schreiben, weil ich Angst habe, Leute, die sich wirklich auskennen, zu nerven oder als „ungebildet“ dazustehen.

Das Ziel (für mich) ist es demnach, mich durch Wissensdefizite nicht an literaturwissenschaftlichen Diskussionen hindern zu lassen und wieder mehr Platz für „laienhafte“ Artikel und Tweets zu schaffen. Nicht alles wissen, Dinge vereinfachen – und sich nicht dafür schämen, weil auf der Timeline gerade wieder mit Begriffen und Namen um sich geworfen wird, von denen man noch nie gehört hat.

Wo zwischen Laiin und Literaturwissenschaftlerin habe ich als Studierende meinen Platz? Wo darf ich mitreden, wo ist es unerwünscht, weil Dozierende und Forscher*innen unter sich sein wollen? Welchen Sinn haben kleine Berichte aus meiner wesentlich ungebildeteren Perspektive? Wie mache ich mich nicht lächerlich, wenn ich so etwas schreibe?

Diese Fragen halten mich davon ab, weiterhin über mein Studium zu schreiben.

Und ein großer Teil davon liegt an der Sprache. Hier wird die Sache größer. Sie betrifft nicht mehr nur mich und meine Probleme mit der aktuellen Lage.

Die Sprache als Trennwand

Literaturwissenschaftler*innen, mit denen ich mich austausche, versichern mir gerne, dass auf Twitter die Hierarchien der Universitäten heruntergebrochen werden. Und das stimmt auch, so lange man als Studierende/r oder Laie/Laiin mithalten kann.

Aber es sind dieselben Menschen, die tagtäglich in einem unfassbar anspruchsvollen, bildungssprachlichem Wortschatz schreiben, die mir versichern, dass ich ja gerne mitdiskutieren darf.

Wenn ich mal ehrlich bin, muss ich sagen: Ich traue mich nicht.

Studierende und solche, die nach dem Studium nicht in die Forschung gingen, sind von der Konversation ausgeschlossen. Nicht nur, weil wir uns nicht trauen, sondern weil wir von der Ausdrucksweise innerhalb der bestehenden Gruppen direkt ausgeschlossen werden. Ganz zu schweigen von Außenstehenden, die außer ehrlichem Interesse keinerlei Qualifikationen vorzuweisen haben.

Das ist per se nicht schlimm. Diskussionen im eigenen Fachgebieten bringen grundlegend eine elitäre Grundstimmung mit sich. Jene, die sich nicht auskennen, können nicht mithalten. Das ist zu einem gewissen Grad normal.

Aber Twitter wird gerade von Geisteswissenschaftler*innen als Plattform oft dafür gelobt, dass man wissenschaftliche Diskussionen öffentlich und erreichbar für alle führen kann.

Ich frage mich nun, ob das wirklich so gewünscht wird. Oder ob die Diskussionen nicht doch eher denen gleichen, die Dozierende an der Universität über die Köpfe ihrer Studierenden hinweg führen.

Ein gutes Beispiel sind Unterhaltungen über Studierende selbst. Wo kann ich, als „Betroffene“ sozusagen, mich einschalten, wenn über die Art, wie man mich und meine Kommiliton*innen am besten für Literatur begeistert, diskutiert wird?

Ebenso mit fachlichen Gesprächen über Texte, die in einer Sprache geführt werden, die an ein gedrucktes Buch erinnert. Ich werde zu diesen Diskussionen eingeladen, kann jedoch höchstens am Rand stehen und beobachten. Denn zwischen mir und dem Rest stehen die Mauern, die Twitter doch eigentlich herunterbrechen sollte.

Wie kann man einen Mittelweg finden, zwischen Diskussionen von und für Dozierende/Forschende und Diskussionen, an denen sich auch andere beteiligen können, ohne jedes zweite Wort und jeden dritten Namen nachschlagen zu müssen.

Das Problem liegt in der Geisteswissenschaft, nicht bei Twitter

Elitäre Gruppenbildung als Teil der Geisteswissenschaften

Twitter bietet als Plattform eine ideale Grundlage, um die Unterhaltung über Literatur zu öffnen. Um diese elitäre Gruppenbildung zu zerschlagen und jedem die Chance zu geben, sich zu äußern.

Das Problem liegt in den Geistenwissenschaften.

Elitäre Sprache und Abgrenzung von Außenstehenden sind Krankheiten der Literaturwissenschaft, die es seit Jahrzehnten für alle unnötig schwer machen, die von außen dazukommen. Arbeiterkinder die Zuhause nicht über Geisteswissenschaften sprechen (können), Menschen die einen (direkten) Migrationshintergrund und/oder eine Einschränkung haben – Geisteswissenschaften schließen alle aus, die länger brauchen, um ihre Defizite in Literaturwissen und Fachsprache aufzuholen.

Das hat (leider) auch Twitter erreicht. Interesse als gemeinsamer Faktor bringt Menschen, die mitsprechen wollen, nur so weit, wie ihr Fachwissen reicht. Und das ist oft einfach nicht weit genug.

Es wirkt zu Teilen fast so, als würden auch junge und moderne Lehrende/Forschende auf Twitter ihre Sprache gezielt einsetzen, um Studierende und jene, die nicht seit über 10 Jahren im Fachgebiet tätig sind, auszuschließen.

Auf einer Plattform wie Twitter entspricht dies einem enormen verschenkten Potential. Denn auch wenn Menschen wie ich nicht immer alles verstehen, wäre es schön, mitangesprochen zu werden. Zumindest wenn über uns gesprochen wird.

Warum muss man dieses Problem der Geisteswissenschaften auf ein neues, frisches Medium wie Twitter übertragen, statt die Chance zu nutzen, die Diskussion zu öffnen?

Diskussion statt Anklage

Diese Betrachtung soll mehr als ein Unterhaltungsstarter dienen, statt als „Anklageschrift“ für/gegen geisteswissenschaftliche Diskussionen auf Twitter. Die Sicht der Studierenden und Außenstehenden ist etwas, was meiner Meinung nach in der Debatte um Online-Geisteswissenschaften fehlt.

Gerade als Studierende nehme ich mich nämlich nicht aus, wenn ich über elitäre Sprache und Inhalte spreche. Es macht Spaß einfach mal zu fachsimpeln oder sich als gebildeter Mensch in einem Bereich zu profilieren. Aber die langfristige Motivation für eine Diskussion geht mir verloren, wenn ich aktiv von etwas ausgeschlossen werde, von dem ich wirklich gerne Teil wäre.

Habe ich das Fachwort hier richtig verstanden? Darf ich mich hier überhaupt einschalten oder wollen die „Profis“ unter sich bleiben? Nerve ich?

Zwischen Insiderwitzen, Ironisierungen von Diskursen und Fachwörtern, dem (vermutlich unterbewussten) Abschätzen von Studierenden (ich rede hier beispielsweise von der Diskussion: was müssen Studierende können) und mehr, fühlt man sich als noch studierende Person am falschen Platz.

Ich frage mich fast zu oft, ob ich unerwünscht bin. Ob ich die Timeline nicht lieber meiden sollte, weil meine studentische Meinung eh niemanden so wirklich interessiert. Davon kommt viel aus der eigenen Unsicherheit, dass will ich gar nicht bestreiten. Aber der Einstieg in bestehende Gruppen, die Sprache nutzen, um sich zu profilieren und abzugrenzen, ist wahnsinnig schwer. Ich frage mich, ob das so sein muss.

Die verschwindend geringe Anzahl der mitschreibenden Studierenden scheint nicht aufzufallen. Ebenso die Bemerkungen, die teils fallen. Die Zwinkersmileys, wenn sich jemand mit weniger Expertise beteiligen möchte. Die Entmutigung.

Ich habe viele Geisteswissenschaftler*innen auf Twitter als offene, liebe Menschen kennengelernt, die gerne ihre Diskussion öffnen wollen – die Umsetzung scheitert jedoch zu oft.

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