Jungfräulichkeit in der westlichen Kultur

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Jungfräulichkeit in der westlichen Kultur


TW: Sexuell explizite Bilder, sexuell explizite Sprache, sexualisierte Gewalt, Rassismus, Sklaverei (nur Nennung), Heteronormativität, Transmisia, Antisemitismus, Gadje-Rassismus, Nationalsozialismus, Genitalverstümmelung (nur Nennung).


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Disclaimer: Im folgenden Text soll das Phänomen der Jungfräulichkeit in der westlichen Medienlandschaft und (Pop)Kultur diskutiert werden, dafür muss sich leider an einigen Stellen auf heteronormative und transexkludierende Sprache/Forschung berufen werden. Es wird sich bemüht, diese als problematisch zu kennzeichnen und – wenn irgendwie möglich – auf sie zu verzichten. Leider ist die Forschung und die Sprache in diesem Bereich nicht weit genug, um zu 100% auf solche menschenfeindlichen Darstellungen und Sprachmuster zu verzichten. Dafür entschuldige ich mich im Voraus.


Gibt es eine historische Jungfräulichkeit?

Denkt man an Jungfräulichkeit, so ist die erste Assoziation (zumindest aus kunsthistorischer Sicht) die Jungfrau Maria und ihre unbefleckte Empfängnis. Maria, die dafür bekannt ist, als Jungfrau ein Kind bekommen zu haben. Jungfräulichkeit wird im christlichen Glauben (und damit auch in der stark von ihm beeinflussten westlichen Kultur) spätestens seit Maria mit Reinheit und Erhabenheit gleichgesetzt. Doch Jungfräulichkeit als Motiv ist sehr viel älter als Maria und historisch heteronormativ.

ggIn der Frühantike gab es das Statuenmotiv der ‚tiefgegurteten Nymphe‘, das in der hellenistischen Hochphase der Antike weiter bearbeitet und ausgebaut wurde. Diese Abbildung weist auf eine Art Jungfrauengürtel hin, der für die Keuschheit der jeweiligen Frauen steht. Der Begriff ‚Nymphe‘ bezeichnet sowohl Halbgöttinnen als auch junge Frauen ab der Pubertät bis zu ihrer Hochzeit und noch spezifischer eine Braut an ihrem Hochzeitstag. Mit dem (halb)göttlichen Part wird vor allem Fruchtbarkeit assoziiert, die auf die jungen Frauen übertragen wird, die ab der Pubertät Reproduktionsfähigkeit besitzen. Bei einer Hochzeit wurde der Nymphe als Hochzeitsgöttin etwas geopfert – in der Zeit davor werden die jungen Frauen und Nymphen generell tiefgegürtet dargestellt. Der Gürtel symbolisiert ihre Reinheit, Unschuld und – am wichtigsten von allem – ihren Glauben. Auch die Tempeldienerinnen waren jungfräulich und ihre ‚Verunreinung‘ durch lüsterne Götter macht mehrere Kapitel in der griechischen und römischen Mythologie aus. Religion fungierte über Jahrhunderte hinweg aber auch als Schutz für Frauen, wie Elizabeth Castelli in Virginity and Its Meaning for Women’s Sexuality in Early Christianity schreibt. Wie effektiv dieser Schutz war/ist, ist jedoch in Frage zu stellen, wie sich an den jüngeren Skandalen in der katholischen Kirche zeigt.

Jungfräulichkeit und Religion stehen seit Jahrtausenden in direkter Korrelation. Diese religiös-motivierte Ambivalenz zwischen gut und böse, rein und unrein, jungfräulich und sexuell aktiv besitzt einen Genderbias, der an dieser Stelle nicht außen vor gelassen werden darf. Der erste große Hinweis auf ein geschlechterbasiertes Ungleichgewicht ist das Wort ‚Jungfrau‘, beziehungsweise ‚Jungfräulichkeit‘ – beides Begriffe, die wir im modernen Kontext auch für Männer/männlich Gelesene verwenden, obwohl sie sich historisch und sprachlich auf ‚junge Frauen‘ beziehen. Von Männern wird (je nach Zeit/Kultur/Stand) erwartet, bereits vor der Ehe sexuell aktiv zu werden – beziehungsweise wird es mindestens nicht sanktioniert oder zwingend auf ihre Mangel an Religion und Charakter zurückgeführt. Die Frage ist: Wenn von jungen Frauen erwartet wird bis zur Ehe zu warten, wo sollen junge Männer dann eine Partnerin finden? Dieses System setzt sexualisierte Gewalt, Untreue und/oder Sexarbeit voraus, wobei es jedoch den weiblichen Part in dieser Gleichung automatisch abwertet. Weibliche Sexualität muss existieren, um die Anforderungen an Männer zu erfüllen, wird gleichsam jedoch als unmoralisch und unrein konnotiert.

Sexuelle Inaktivität wird, in ihren Wurzeln, schon immer auf Frauen/weiblich Gelesene reduziert und zugeschnitten. Wann immer (im historischen Kontext) auf eine sexuell inaktive Person hingewiesen wird, geschieht dies mit Verweis auf deren weiblich konnotierte Geschlechtsmerkmale. Auch, wenn die Person männlich ist/gelesen wird. Ist ein Mann sexuell (noch) nicht aktiv, so ist er eine ‚Pussy‘ oder ein ‚Mädchen‘ oder wird mit ähnlichen weiblich konnotierten Beleidigungen konfrontiert. Dies beginnt bereits im Mittelalter, bei Werken wie der mittelhochdeutschen Versnovelle Helmbrecht von Wernher dem Gärtner (zwischen 1250 und 1280). Aber auch aktive Sexualität wird von weiblich konnotierten Geschlechtsmerkmalen und Reifemerkmalen abhängig gemacht. So ist Sexualität immer von dem Eintritt der Periode bestimmt, erst dann kann historisch gesprochen geheiratet werden, denn erst dann ist es möglich Kinder zu zeugen. Das Alter und die Reife des Mannes sind nicht wirklich entscheidend. Jungfräulichkeit wird an das Hymen geknüpft, was nur in weiblich gelesenen Körper existiert und weibliche Sexualität darf in historischem Kontext nur dann existieren, wenn daraus Kinder entstehen können, alle anderen Formen sind tabuisiert.


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Lilith, John Collier (1892)


Blut und Schmerzen – ein toxischer Mythos

Jungfräulichkeit als Konzept tritt in vielen Muster auf. Besieht man sich die weibliche Entjungferung, so trifft man auf Bilder und Informationen, die Angst hervorrufen und Sexualität als etwas Schmerzhaftes konnotieren. Diese Motive haben einen gemeinsamen Nenner: das Hymen, auch Jungfernhäutchen genannt.

Die Vorstellung vieler (gerade junger) Menschen ist, dass diese ‚Haut‘ bei der ersten Penetration einreißt und dabei Schmerzen verursacht, die die Person mit Vagina ertragen muss, da dies eben ’natürlich‘ und ’normal‘ sei. Doch ist man sich in der Forschung seit Jahrzehnten bewusst, dass dies ein gefährlicher Mythos ist:

Abundant myths exist in different cultures portraying hymen as the icon of spotlessness obligatory to be cracked at the first night of marriage but the reality discloses it as a very subtle mucosal tissue lining the vaginal opening procuring different shapes and may be thin, elastic, thicker and less stretchy. […]

Some [people with hymens] contemplate that this tissue must break at the first penile penetration but this ‚first time‘ belief is a myth. […] In some […] a small amount of this tissue may break out but this may not necessarily happen for the very first time. Sexual intercourse must occur when [the person with the hymen] is aroused, relaxed, lubricated where the penetration must be done slowly if it is the first time as in such cases question of bleeding can be ignored. Forceful penetration may upshot in bleeding however, some women bleed due to non-flexible nature of their hymen.

(Dr. Navodita Maurice, Hymen and Virginity: A Social Humiliation, 2015)

Bevor man sich mit der Umsetzung in Medien und Kultur beschäftigt, muss man zunächst diese Mythen adressieren und widerlegen. Denn was Dr. Navodita Maurice schreibt, ist leider nicht so bekannt, wie es sein sollte. Hymen sind keine magischen Vagina-Siegel, die bei dem ersten sexuellen Kontakt automatisch brechen. Sie sind dehnbar und reißen oft gar nicht oder durch Aktivitäten, die nichts mit Sex zu tun haben, wie bei generellem Sport, Reiten, Fahrradfahren, etc. – ein Grund, warum Frauen in manchen Zeitabschnitten verboten wurde, diese Aktivitäten auszuüben.

Der Mythos einer schmerzhaften Entjungferung ist etwas, was bis heute als Allgemeinwissen gilt. Heteronormativer Sex muss für Menschen mit Vagina, zumindest die ersten paar Mal, wehtun – so heißt es. Das ‚erste Mal‘ wird von Medien, populärer Kultur und über Generationen weitergegebenes Halbwissen so spezifisch als unangenehm und schmerzhaft definiert, dass viele es erst später in ihrem Leben hinterfragen. Die Schmerzen kommen, wie Maurice in ihrem Rechercheartikel festhält, von erzwungener Penetration oder fehlender Vorbereitung. Die Idee, dass Sex etwas ist, was Menschen mit Vagina im jungen Alter nicht mögen können (und dürfen) wird durch Jahrhunderte des Patriarchats gefestigt. In diesem wird die Unterdrückung von weiblicher (bzw. als weiblich gesehener) Sexualität durch ebensolche Mythen erreicht. Hinzu kommt, dass die Schmerzen als Grundlage für die Entjungferung ein Weltbild stützen, in dem die Person mit Vagina gegen ihren Willen entjungfert wird – etwas was besonders in Medien, die an das Mittelalter angelehnt sind, gerne aufgegriffen und als Fakt verkauft wird.

Auch das Bluten bei der Entjungferung ist Teil dieser Darstellung und wird, gerade in der Serie Game of Thrones, deutlicher noch in den Büchern dazu, zu etwas stilisiert, was Grauen und Ekel, aber auch Faszination hervorrufen soll. Dies läuft unter zwei Annahmen:

  1. Wenn die Person nicht blutet, hatte sie schon Sex.
  2. Blut ist ein Anzeichen dafür, dass der Sex nicht einvernehmlich ist.

Die erste ist, wie in diesem Beitrag nun geklärt wurde, nicht wahr. Nicht alle Menschen mit Hymen bluten beim ersten Mal, das Hymen kann beim Sex gar nicht reißen oder bereits zuvor gerissen sein.

Hinter der zweiten Annahme steckt etwas, was nicht einfach als falsch gedeutet werden kann. Denn ja, das generelle Konzept von Schmerzen und Blut bei der Entjungferung kommt aus dem Gedanken, dass Sex für Menschen mit Vagina beim ersten Mal nicht angenehm sein kann/darf und die Person dabei bluten wird. Die automatische Verknüpfung von Gewalt/Schmerzen und Blut ist trotzdem nicht gerechtfertigt, denn auch wenn die sexuelle Handlung angenehm und einvernehmlich ist, kann es, je nach Körper, zu leichten Blutungen kommen. Diese dürfen nicht mit dem gewalttätigen Unterton solcher Szenen gleichgesetzt werden.


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Three Ladies Adorning a Term of Hymen, Joshua Reynolds (1773)


Der westliche Zwiespalt

Die Tatsache, dass wir Jungfräulichkeit an die Existenz eines kleinen Häutchens knüpfen, was nur Menschen mit Vagina haben, ist lächerlich, wenn man genauer darüber nachdenkt. Nicht-westliche Kulturen haben einen traditionell anderen Umgang mit Sexualität und Jungfräulichkeit, der im Zuge der Kolonialisierung an westliche Standards angepasst wurde – eine negative Entwicklung für Menschen mit Vagina in diesen Bereichen der Welt. So schreibt Eric Julian Manalastas über Jungfräulichkeit in den Philippinen, dass junge Frauen für ihre Sexualität bestraft werden, wohingegen junge Männer darin bestätigt werden – dieses Konzept von sexueller Männlichkeit und asexueller Weiblichkeit kommt aus der westlichen Kultur und wurde in die ganze Welt exportiert. Neben der Tatsache, dass es ganze Kulturen beeinflusste und das Bild von weiblicher Sexualität global veränderte sorgt es auch dafür, dass sexualisierte Gewalt normalisiert wird, denn die Frau/Person mit Vagina als passiver Teil und der Mann/die Person mit Penis als aktiver (sich etwas nehmender) Teil kommt genau aus diesem Weltbild.

Respekt und Jungfräulichkeit werden traditionell miteinander verbunden und gerade im westlichen Mittelalter entwickelten sich Strukturen, die jungfräuliche Frauen (und generell Menschen mit Vagina) als besonders rein – und begehrenswert kennzeichneten. Hier wurde die Jungfrau von einem Symbol für Reinheit zu einem Sexsymbol. Der Reiz des frischen, ‚reinen‘ und (noch) nicht eroberten Körper brachte gefährliche Konsequenzen mit sich. Ein Zwiespalt entwickelte sich: Einerseits wurde die sexuell inaktive Frau als Reinheitssymbol der Religion gefeiert, andererseits wurden nun aber alle Frauen, die begehrenswert erschienen, als Jungfrau stilisiert und tatsächliche Jungfrauen zum Sexsymbol erklärt.

Um es deutlich zu sagen: Jungfrauen wurden sexuell begehrt, verloren aber in der Sekunde, in der sie diesem Drang nachgaben (oder dazu gezwungen wurden) ihren Status und ihren Reiz. An dieser Entwicklung wurde ihnen dann selbst die Schuld gegeben.

Die Glorifizierung von Jungfrauen kann anhand von bekannten weiblich gelesenen Persönlichkeiten in der Geschichte verfolgt werden, wie etwa Joan of Arc und Königin Elizabeth I. Ob diese wirklich jungfräulich waren, ist im Endeffekt egal, denn die Menschen ihrer Zeit und alle, die folgten, begannen Zölibat, ‚Asexualität‘ und Verweigerung der Heirat in ihre ‚Marke‘ zu integrieren und es zu einem wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit zu stilisieren, der historisch betrachtet nicht zwingend auf Fakten beruhen muss. Gerade historische Frauenfiguren, die sich Gott verschreiben und auf Sex verzichten, verkaufen sich gut – so schlimm es auch klingt. Schriftsteller*innen, Geschichtsschreiber*innen, Journalist*innen, Regisseur*innen, und weitere Medienproduzent*innen, die unser Bild von Kultur und Geschichte prägen, wissen, was Menschen lesen/hören/sehen wollen. Geschichten von Frauen, die sich widersetzten und rebellierten, sind ohne die sexuelle Komponente einfach nicht interessant genug. Es braucht einen Skandal oder eine Verweigerung, um weiblich gelesene Persönlichkeiten berühmt zu machen.

Dieser westliche Zwiespalt übt(e) sich negativ auf junge (weiße) Frauen aus, aber wie eigentlich immer in unserer Geschichte, traf es andere wesentlich härter. Denn die Reinheitsvorstellungen führten dazu, dass im Zuge des Kolonialismus alle weiblich gelesenen, die nicht weiß waren, automatisch als unrein gesehen wurden; auch der religiöse Schutz fiel weg – sie waren also der sexualisierten Gewalt seitens der Kolonialmächte ausgeliefert, ohne dass jemand dafür bestraft werden konnte. Sie konnten aus dem westlichen Weltbild heraus nicht weiter verunreinigt werden, erhielten keinen Schutz aus der christlichen Religion und waren für Ehen ungeeignet, womit also auch keinem zukünftigen Mann etwas weggenommen wurde. Die Sexualisierung von nicht-weißen Frauen und weiblich Gelesenen spielte ebenfalls in diese Sichtweise hinein und ihre Ausläufer können wir bis heute sehen. Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben, wird eher geglaubt, wenn sie weiß sind und die sexuelle Selbstbestimmung von weißen Frauen gilt als schützenswerter als die von BIWoCs.


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Au Salon de la Rue des Moulins, Henri de Toulouse-Lautrec (1894)


Die Rolle der populären Kultur

In der populären Kultur wird seit dem 18. Jahrhundert ein gewisser Standard evoziert, der Jungfräulichkeit zu einem eigenen Thema macht. Der Keuschheitsgürtel ist ein gutes Beispiel hierfür. Historisch gesehen war der Gürtel ein Schutz vor sexuellen Übergriffen, der nur sehr selten tatsächlich genutzt wurde. Durch mediale Darstellung in der populären Kultur ab etwa 1750 (besonders in der Mittelalterromantik ab 1800) wurde er zu einem Zeichen der Überwachung und des „Auf-die-Ehe-Wartens“. Der strenge Vater, der die Sexualität seiner Tochter kontrolliert und dabei versagt wurde zu einem Symbol im Bürgerlichen Trauerspiel. Die Jungfräulichkeit als Tauschgut, als Wert der jungen Frauen, setzte sich fest in der Gesellschaft ab. Vermutlich noch fester, als wir es vom Mittelalter erwarten. Die Neuzeit war es, die diese Symbolik auf ein neues Level hob.

Diese Vorstellungen wurden in den 20ern teilweise aufgebrochen, als die (weibliche) Avantgarde-Literatur (Marieluise Fleißer) begann, mehr über sexuelle Stigmata zu schreiben und die Schande, die jungen Frauen/weiblich Gelesenen aufgelegt wurde, zu entpacken. Dies wurde nach dem Zweiten Weltkrieg lange verdrängt und erst in den 80ern wieder ausgepackt (Elfriede Jelinek).

Dazwischen begannen öffentliche Medien wieder auf alte Stereotypen zurückzugreifen, wie etwa sexuelles Erwachen bei jungen (unschuldigen) Frauen, die sexuell aktive Frau als böse/verrucht und mehr. In modernen Serien gibt es einen Zwiespalt zwischen altbackenen Mittelalterdarstellungen (wie Game of Thrones) und sexistischen Untertönen in eigentlich diversen Serien (Atypical (Darstellung der Frau als Mittel zum Zweck (Sex)), How to get away with murder (Jungfräulichkeitspackt, „Test“ zur Feststellung von Jungfräulichkeit, Slutshaming)). Selbst Serien wie Black-ish, die eigentlich solche Dinge entpacken, sind nicht immun gegen schlechte Recherche und Slutshaming gegenüber jungen Frauen. Wo der Sohn für sein erstes Mal gefeiert wird, bricht der Vater in Tränen aus, wenn er erfährt, dass seine erwachsene Tochter Sex hat.

Wenn in Serien wie Game of Thrones eine Vergewaltigung dazu führt, dass die Frau keine Jungfrau mehr ist, ihren Wert verliert und als „unrein“ gilt (Sansa Stark), aber einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Sex zwischen zwei Frauen nicht denselben Effekt hat (Margaery Tyrell) sendet das essenziell die Nachricht, dass eine Vergewaltigung eher als sexuelle Handlung akzeptiert wird, als Sex zwischen zwei Frauen.

Populäre Kultur spiegelt heteronormative und veraltet-sexistische Bilder von Sexualität wider und beeinflusst damit unser Denken und unsere Einstellungen – ohne dass wir es aktiv bemerken. Statt die Chance zu nutzen eine diverse Bandbreite von Jungfräulichkeit und Sexualität darzustellen, beruft sich die populäre Kultur auf sexistische, veraltete Standards. Wir haben kein Problem damit die sexuelle Erwachung von einer Vierzehnjährigen darzustellen oder sexualisierte Gewalt zu zeigen, aber Asexualität oder eine gesunde Beziehung von zwei Menschen, die nicht cis-hetero sind, geht zu weit. Wenn es in den Medien mal eine asexuelle Figur gibt, dann ist diese dick und weiblich – alles andere wäre ja „Verschwendung“. Und wenn es mal eine LGBTQ+ Figur gibt, so ist diese nicht geoutet oder wird gemobbt/verfolgt.


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The Flirtation, Eugen de Blaas (1904)


Männliche Jungfräulichkeit

Weiblich Gelesene stehen zwischen den Stühlen, wenn es um ihre Jungfräulichkeit geht; sie können es niemanden wirklich recht machen. Männlich Gelesene hingegen haben nur ein Ziel, wenn man den Medien glaubt: Sex. Die Vorstellung, die wir von jungen Männern haben ist, dass sie möglichst schnell sexuell aktiv werden wollen.

Ihnen wird abgesprochen, dass sie asexuell sein können oder auf die Ehe/richtige Person warten wollen. [Eines der wenigen Positivbeispiele ist Todd aus Bojack Horseman.] Damit schädigen wir nicht nur ihre Sicht auf Sexualität, sondern auch ihre Rolle in der Gesellschaft. Denn wenn wir – heteronormativ gesprochen – jungen Frauen beibringen, dass sie ja keinen Sex haben sollen, junge Männer aber dazu zwingen früh Sex zu haben, bleibt ihnen kaum eine andere Möglichkeit, als den weiblichen Part dazu zu überreden oder – im schlimmsten Fall – zu zwingen.

Männliche Jungfräulichkeit in den Medien dreht sich entweder darum, schnellstmöglich keine Jungfrau mehr zu sein oder – in seltenen Fällen – um religiösen Zölibat. Ansonsten spielt sie keine wirkliche Rolle. Wir nehmen bei jungen, männlich gelesenen Menschen einfach an, dass sie entweder bereits sexuell aktiv sind oder es sein wollen. Dementsprechend gibt es endlos viele Darstellungen von „coolen“ Teenagern, die ihre Freundin dazu überreden Sex mit ihnen zu haben, andere Jungen dafür auslachen noch Jungfrau zu sein oder ihre Freundin betrügen, weil sie „Triebe“ haben und diese sie nicht erfüllen wollte.

Diese „Triebe“ beruhen ebenso auf Pseudobiologie, wie der Umgang mit dem Hymen. Blue Balls wird als Begriff genutzt, um Frauen zu shamen, die einem Mann den Sex verweigern. Sein Sexualtrieb wird über die körperliche Selbstbestimmung der Frau gestellt.

Der Druck auf junge cis Männer möglichst früh sexuell aktiv zu sein schadet ihnen, übt sich jedoch ebenso negativ auf junge cis Frauen aus. Ihnen wird die Rolle des „Mittels zum Zweck“ zugeschrieben. Sie verlieren ihren „Wert“, damit der cis Mann seine Triebe erfüllen kann. Was sie wollen und welche negativen Auswirkungen dies auf sie haben kann rückt dabei in den Hintergrund.

Sex wird als etwas dargestellt, was vom Mann ausgeht. Die Frau erträgt es ihm zuliebe nur. Dabei ist es besonders wichtig, dass wir jungen Menschen zeigen, dass Sex mehr ist als Penetration und dass es immer mindestens zwei Personen benötigt, die es gleichermaßen wollen und sich der Konsequenzen bewusst sind. Verhütung spielt hierbei ebenfalls eine Rolle, denn cis Männer können nicht schwanger werden, was ihnen einen einfachen Ausweg aus der Diskussion um Verhütung ermöglicht. Die Konsequenzen sexueller Handlungen müssen von allen getragen werden, die an der Handlung beteiligt waren. Diese Grundsätze müssen vor allem jungen cis Männern klargemacht werden, bevor sie sexuell aktiv werden.

Wenn wir cis-männliche Jungfräulichkeit entpacken und die toxischen Zwänge ablegen wollen, müssen wir sie mit Verantwortung und Sexualkunde ersetzen, die Sex als etwas definiert, was Konsequenzen hat, nicht zwingend einen Penis beinhalten muss und nur stattfinden kann, wenn sich alle auf Augenhöhe begegnen und bereit sind eventuelle Konsequenzen gemeinsam zu tragen.


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La mort de Socrate, Jacques-Louis David (1787)


Heteronormativität und Jugendkultur

Die heutige populäre Kultur ist sehr sexorientiert. Alle Serien/Filme benötigen irgendeine Form der Sexualität. Dabei haben wir ein sehr definiertes Bild von Sexualität, in dem nicht alles gleichwertig ist. Wir wissen genau wann Sex passiert und warum – alles dreht sich um cis-männliche Triebe.

Bei Game of Thrones reicht eine Vergewaltigung, um einer Frau ihre Jungfräulichkeit zu nehmen. Dabei ist sexualisierte Gewalt nicht dasselbe wie Sex – die Frau muss keinen Sex haben, um als sexuelles, „verdorbenes“ Wesen gesehen zu werden. Wir wissen, dass wenn ein cis Mann Sex will, das auch passiert. Egal ob mit einem anderen cis Mann oder mit einer cis Frau. Der Penis ist der Fokus unseres Sexualitätsverständnis. Gleichgeschlechtlicher Sex zweier Frauen führt nicht dazu, dass sie im Sinne unseres Verständnisses ihre Jungfräulichkeit verlieren. Auch die sexuelle Erwachung von cis Frauen dreht sich in der Regel um einen cis Mann, der ihnen ihre „verruchte/schmutzige“ Seite zeigt. Der cis Mann ist der Held, die cis Frau verliert ihre Unschuld und ist nun ein sexuelles Wesen. Diese Darstellung kennt man aus Filmen, Serien, Büchern, Fanfiktions – sogar aus Videospielen.

Dabei ist Jungfräulichkeit nicht an einen Penis geknüpft! Penetration ist nicht das, was sexuelle Handlungen ausmacht. Ebenso wie das Hymen einer Person mit Vagina nicht bestimmt, ob sie „rein“ oder „unrein“ ist. Diese pseudo-medizinische Ansicht sorgt dafür, dass jedes Jahr mehr und mehr junge Menschen genital verstümmelt werden, um zu verhindern, dass sie ihre Jungfräulichkeit verlieren. Auch „Virginity-Testing“ existiert und hat furchtbare Ausmaße. Die Forscherinnen Benita de Robila und Louise Vincent untersuchen „Virginity-Testing“ in Südafrika und schreiben über die Konsequenzen für junge Menschen mit Vagina, die den Test nicht bestehen.

Sexualität dreht sich so sehr um traditionell männlich gesehene Geschlechtsorgane, dass junge Menschen nicht lernen, was Sex ist und was nicht. Sexualisierte Gewalt ist kein Sex. Sex ohne Penis ist Sex. Niemand muss Sex haben, um einen gewissen „Status“ zu erreichen, aber wenn jemand Sex haben will ist das alleinig die Verantwortung von ihnen den jeweiligen Partner*innen. Dem cis Penis wird in sexuellen Beziehungen alle Macht zugesprochen, dabei geht es um so viel mehr, als nur cis-männliche Befriedigung.

Die Heteronormativität sorgt dafür, dass wir weiblich gelesene Jungfrauen in Gruppen einteilen. Die einen sollen unbedingt Jungfrau bleiben und werden unter grausamen Methoden dazu gezwungen – die anderen sollen unbedingt heteronormativen Sex haben, da nichts anderes sie aus ihrer Rolle der Jungfrau herausheben kann. Es steht uncool aber unschuldig versus cool aber weniger wert.


Jungfräulichkeit wird in der LGBTQA+ Community anders definiert und ist um einiges Komplexer, als der westlich-heteronormative Standard. Hier einige Links zu Jungfräulichkeit/Sex bei trans Personen, Asexuellen und in der restlichen LGBQ+ Community.


Die heutige Jugendkultur ist sehr viel offener gegenüber diverser Sexualität, was oft dazu führt, dass der „neuen“ Generation eine Hypersexualität zugesprochen wird. Dem ist nicht so. Wir sind heute nicht sexueller als Generationen vor uns, wir haben nur die Chance unsere Sexualitäten offen zu leben. Ganz gleich welche Sexualität wir haben und inwiefern wir uns dazu entschließen sexuell aktiv zu werden.


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Punning visually on the lute in this brothel scene, Gerrit van Honthorst (1625)


Pornografie und (früh) Sexualisierung

Ein Grund für diese Öffnung ist Pornografie.

Pornografie wird generell tabuisiert, dabei ist es das einzige Medium, in dem Sex wirklich eine Rolle spielen muss – anders als in Serien/Filmen/Büchern/Videospielen ist die Grundprämisse eine einvernehmlich sexuelle Handlung zwischen zwei erwachsenen Menschen. Selbst wenn die Handlung nicht als solche dargestellt wird – legale Pornografie funktioniert nur, weil die Schauspieler*innen dahinter diese Ansprüche erfüllen.

Der richtige Umgang mit Pornografie kann jungen Menschen viel über Sex beibringen. Die Absprache hinter der Kamera, die Verhütung und vor allem die gemeinsame Grundlage, dass alle mit den geplanten Handlungen einverstanden sein müssen.

Die (berechtigte) Angst vieler Erwachsenen ist, dass Pornografie ein Bild von Sex vermittelt, was nicht der Realität entspricht. Dem ist auch oft so, allerdings werden junge Menschen so oder so mit diesen Bildern konfrontiert. Der Unterschied ist, dass wir die Darstellung von sexualisierter Gewalt in Serien wie Game of Thrones nicht verurteilen, die in Pornografie jedoch schon. Die Frühsexualisierung von Jugendlichen geschieht in der medien-definierten Welt des 21. Jahrhunderts, ob wir es wollen oder nicht. Pornografie hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber Serien/Filmen – sie befasst sich aktiv mit dem Thema, statt es nur als leeren Plot-Device zu nutzen.

Viele Pornodarsteller*innen arbeiten aktiv daran, ein Bild von Sexualität zu entwerfen das zeigt, dass jede Handlung (egal wie sie aussieht) nur okay ist, wenn alle Partner*innen damit einverstanden sind. Ganz gleich, ob es um heteronormativen Sex, nicht-heteronormativen Sex oder Fetische geht. Es gibt Pornografie, die Sexualitäten als Fetisch darstellt und das ist zu verurteilen, aber gleichsam steht hinter jedem legalen pornografischen Inhalt (der nicht gezeichnet ist) ein Team an Menschen, die alle freiwillig und aktiv dabei sind. Durch Pornografie werden alle Arten von Sexualität gezeigt – es gibt Genres für alle Sexualitäten und Präferenzen – ohne Verurteilung. Junge Menschen sehen ihre Sexualität in diesen Medien, nicht die heteronormative Filterung Hollywoods.

Erotische Medien (wie Pornografie, erotische Literatur, etc.) erfüllen eine wichtige Rolle in der Medienlandschaft. Sie umfassen die Themen, die es auch in anderen Medien gibt, und machen sie zum Fokus. Über diese Darstellungen können wir als Gesellschaft aktiv die Bilder steuern, die junge Menschen in dieser Hinsicht prägen. Ein offenes Gespräch über Pornografie und die Hintergründe von legaler (und illegaler) medialer Sexarbeit sind ein wichtiger Grundstock für das Verständnis von Sexualität und Jungfräulichkeit junger Menschen.


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Le déjeuner sur l’herbe, Édouard Manet (1863)


Fazit

Jungfräulichkeit wird in den (westlichen) Medien als ein fast ausschließlich cis-weibliches Thema dargestellt. Die heteronormativen Bilder evozieren ein Verständnis von Sexualität, was seit Jahrhunderten existiert und im 21. Jahrhundert langsam aufgebrochen wird. In der Antike gab es ein teilweise offeneres Verständnis von Homosexualität, was jedoch nicht so modern ist, wie gerne angenommen und spätestens durch das Mittelalter komplett aus der medialen Darstellung verschwand.

Nicht-heteronormativer Sex wurde lange auf cis Frauen beschränkt und galt nicht wirklich als sexuelle Handlung, sondern vielmehr als Fetisch, der besonders cis Männern als Sex-Fantasie diente (und teilweise bis heute dient). Das Verständnis von Sexualität geht so weit, dass sogar sexualisierte Gewalt eher als sexuelle Handlung gilt, als gleichgeschlechtlicher Sex ohne einen Penis.

Junge Menschen werden mit einer Darstellung von Jungfräulichkeit und Sexualität konfrontiert, die im Mediengedächtnis der letzten Jahrhunderte eine feste Form annahm. Diese dreht sich um cis-männliche Befriedigung und Schande für den cis-weiblichen Part. Die Heteronormativität wird im 21. Jahrhundert langsam abgebaut, findet sich jedoch trotzdem noch in den Medien – selbst in eigentlich offenen und diversen Serien/Filmen.

Der gemeinsame Nenner hinter diesen medialen und kulturellen Traditionen ist die primär-westliche Religion, genauer das Christentum. Die Unterdrückung weiblicher Sexualität wird nur von Darstellungen gebrochen, die sexuelle Aktivität als Statussymbol darstellen. Junge, weiblich gelesene Menschen stehen zwischen den Stühlen und müssen sich entscheiden zwischen zwei Rollenvorgaben, die beide positive und negative Konsequenzen mit sich bringen. Männlich Gelesene hingegen werden so aktiv darauf trainiert, sexuelle Aktivität als Lebensziel zu sehen, dass Respekt und Verantwortung dabei vernachlässigt werden. Die LGBTQA+ Community kämpft darum, wahrgenommen zu werden und die pseudobiologischen Annahmen rund um Sexualität und Jungfräulichkeit in den Medien abzubauen.

Wir haben als Gesellschaft noch einen langen Weg vor uns, Sexualität zu enttabuisieren und Jungfräulichkeit als Konzept abzuschaffen. Nur wenn wir es schaffen, das Konzept komplett zu vergessen, wird es für alle Menschen möglich, ihre Sexualität frei von Stigmata und toxischen Vorstellungen auszuleben – ganz gleich, ob sie überhaupt sexuell aktiv sein wollen und wenn ja wann und mit wem.


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Illustration für den Erotikroman ‚Aphrodite‘ von Pierre Louÿs, Maurice Ray (1931)


Linksammlung und Fachliteratur


Nochmals als Disclaimer: Leider schließt fast alle Fachliteratur die Existenz von trans Menschen und der generellen LGBA*-Community aus. Darauf sollte beim weiteren Nachlesen geachtet werden. Die Literatur ist fast ausschließlich auf Englisch, da im internationalen Raum mehr dazu geforscht wird.


  • Dr. Navodita Maurice: Hymen and Virginity: A Social Humiliation. (2015)
  • Dr. Iklim Goksel: Rhetorics of Virginity in Turkish Modernity. (2009)
  • Dr. Corinne Harol: Enlightened Virginity in Eighteenth-Century-Literatury. (2006)
  • Eric Julian Manalastas: Valuation of Women’s Virginity in the Philippines. (2018)
  • Terry P. Humphreys: Cognitive Frameworks of Virginity and First Intercourse. (2013)
  • Miriam Robbins Dexter: Indo-European Reflection of Virginity and Autonomy. (1985)
  • Elizabeth Castelli: Virginity and Its Meaning for Women’s Sexuality in Early Christianity. (1986)
  • Dr. Hannelore Winkler: Zur Jungfräulichkeit in der Antike: Die tiefgegürteten Nymphen. (2014)
  • Benita de Robila: ‚Girls‘ and virginity: Making the Post-Apartheid Nation State. (2009)
  • Louise Vincent:  Virginity testing in South Africa: Re-traditioning the Postcolony. (2006)
  • Jonas Eriksson/Terry P. Humphreys: Development of the Virginity Beliefs Scale. (2014)
  • Paige Averett: Virginity Definitions and Meaning Among the LGBT Community. (2014)

Westliche Weiblichkeit – Ein Blick auf Ideale und Kolonialismus

Kopie von Jungfräulichkeit in der westlichen Kultur

Westliche Weiblichkeit

Ein Blick auf Ideale und Kolonialismus


TW: Sexualisierte Gewalt, Rassismus/Sklaverei, mentale Gesundheit, problematische Wortwahl zur Veranschaulichung von sexistischen und rassistischen Problematiken (keine Slurs)


Disclaimer: Wenn weiße cis Frauen über Weiblichkeit sprechen fällt die historische Komponente, die uns als Mittäterinnen entlarvt, oft weg. Die Links in diesem Beitrag und am Ende führen zu passenden Beiträgen von BIPoCs, die ich versuche in einen historischen und kulturellen Kontext einzuordnen, der besonders das westliche Bild von Weiblichkeit kritisiert und offenlegt.


Wie die (westliche) Gesellschaft Weiblichkeit definiert ist seit etwa einem Jahrzehnt im Wandel. Jahrhundertealte Muster werden aufgebrochen und das ist etwas Gutes. Dabei wird oft von weißen cis Frauen darüber gesprochen, wie sie diese Ideale wahrnehmen – die Resonanz eines weißen westlichen Ideals in der weißen westlichen Welt wird in den Mittelpunkt gerückt. Das Problem ist, dass (wie auch bei umgekehrtem Rassismus oder Sexismus gegen cis Männer) die im Zentrum stehen, die eigentlich die Wurzel des Problems bilden. Weiße cis Frauen sind das, woran Ideale seit der Antike festgemacht werden. Wenn nur sie darüber sprechen (dürfen) wird ein Bild gezeichnet, in dem nicht nur BIPoCs, sondern auch trans Frauen und nichtbinäre Menschen, sowie inter Menschen und die restliche LGBQA*-Community fehlen.

Das soll nicht heißen, dass weiße cis Frauen nicht trotzdem negative Auswirkungen dieser Ideale erleben. Aber normschöne, weiblich gelesene, weiße, gebährfähige hetero-cis-allo Frauen stehen im Fokus, obschon sie nur die Oberfläche dieser Auswirkungen spüren.

Weiblichkeitsideale in der westlichen Geschichte

Um diese Problematik näher untersuchen zu können, muss man einen Blick auf die Ursprünge der westlichen Ideale werfen. ‚Unser‘ Bild von Frauen und Weiblichkeit kommt – wie so vieles in der westlichen Kultur – aus der Antike. In der griechischen Mythologie steht Weiblichkeit für Weichheit, Intelligenz und nur in seltenen Fällen für Stärke. Die weiblichen Figuren der Mythen wählen den Freitod, verwandeln sich in leblose Objekte, nehmen ihr Schicksal an oder verschwinden einfach, wenn sie nicht mehr wichtig für die Handlung sind. Einzelne Frauenfiguren wie die Göttin Artemis stehen zwar für ‚männlich‘ konnotierte Dinge wie die Jagd, sind dabei jedoch oft grausam in den Geschichten und werden (zumindest äußerlich) als grobschlächtig, muskulös und eben ’nicht weiblich‘ beschrieben. Hera, Athene, Gaia und Aphrodite stellen die Frauenfiguren da, die man als ‚ideal‘ sieht: Heimelig, weise, warm, vergebend, wunderschön und doch – werden sie betrogen, so sind sie Monster. Hera und Athene sind beide dafür bekannt die Frau, mit der sie betrogen wurden, grausam zu bestrafen, statt den Mann dafür verantwortlich zu machen. Verführung wird der Weiblichkeit zugesprochen und dementsprechend liegen die Konsequenzen. Dies ist nicht nur in der hellenistischen Antike der Fall. Im christlichen Glauben wird daraus die Geschichte von Eva und Adam, bei der die Frau den Mann dazu verführt den Apfel zu nehmen. Im Jüdischen gibt es Lilith, die nicht nur im Osten, sondern auch in der westlichen Welt als verführerischer Dämon bekannt wurde. Auch im alten Ägypten, der nordischen Mythologie, bei den Römern und in anderen germanischen Völkern gibt es dieses Bild der Weiblichkeit.

Die Vorstellung, dass gerade im Norden die Frauen als stark und gleichwertig gesehen wurden, ist ein netter ‚Funfact‘, der besonders in feministischen Diskussionen gerne zur Sprache gebracht wird. Tatsächlich gab es dort Kriegerinnen und die überzogenen weiblichen Stereotype, wie wir sie mit Griechenland verknüpfen, treffen weniger offensichtlich zu. Aber dies wird davon überschattet, dass es nirgendwo eine (protowestliche) Kultur gab, in der der weibliche Part nicht immer der weichen Mutterrolle entspricht und die zugeschriebene Intelligenz entweder einsetzt, um ihrer Familie zu helfen oder Männer zu verführen und grausige Rachepläne zu verfolgen. Weiblichkeit ist seit Jahrtausenden mit festen Rollenbildern verknüpft, die nur in wenigen Fällen, die oft interessante Geschichtsanekdoten abgeben, ausgehebelt wurden.


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La Folie, Wladislaw Podkowinski (1894)


Kolonialismus, Blackfishing, Sklaverei – die düstere Seite moderner Frauenideale

Es hat seine Gründe, warum die eigentlich westlichen Ideale in der ganzen Welt zu finden sind. Zahlreiche Europäer*innen der letzten Jahrhunderte verbrachten ihr Leben damit, die Ideale, die sich für ‚zivilisiert‘ hielten, auf dem ganzen Globus zu verteilen. Die Konsequenzen sind düster, denn gerade in Bereichen der Welt, in der weiße Menschen die Minderheit darstellen, sind Weiblichkeitsideale, die auf heller Haut und westlichen Schönheitsidealen basieren, tödlich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Kontroverse skin bleaching treatments (Behandlungen um den Hautton permanent zu ändern) sind bis heute im Trend und vergiften besonders Frauen auf täglicher Basis, wie eine Untersuchung von Refinery29 zeigt. In großen Teilen Süd-Ost-Asiens sind die Chancen auf ein besseres Leben, einen guten Job und mehr Gehalt größer, wenn die Haut heller ist. Dabei geht es nicht zwingend darum europäisch auszusehen. Der internalisierte Hass auf dunkle Haut ist ein Überbleibsel des Kolonialismus, der in seinen Grundzügen ganze Gesellschaften permanent vergiftet hat.

Wie eine Frau heute auszusehen hat, ist in großen Teilen der Welt von der westlichen Sicht beeinflusst und das bedeutet Heteronormativität, radikale Einteilung von Menschen und ihrer Kleidung nach Geschlechterstereotypen, dünne, kleine Körper ohne viele Muskeln, lange, glatte Haare, helle Augen und helle Haut.

Es ist schwer dieses Bild wirklich anzuerkennen, wenn man sich in westlichen Ländern umsieht. Denn in diesen Teilen der Welt ist das Ideal nicht zwingend aktuell. Hier tragen weiße Menschen Dreads und Bindis und Braids – kulturelle Symbole, die lange dafür sorgten, dass ganzen Kulturen ihre Menschlichkeit und Weiblichkeit abgesprochen wurde. Gerade in der afroamerikanischen Kultur waren diese nun modischen Merkmale lange ein Anzeichen dafür, dass man rebelliert. Statt sich anzupassen, nahmen Frauen aus diesen Kulturkreisen nicht die Zeit und das Geld in die Hand, um möglichst ‚konform‘ auszusehen, sondern trugen ihre ‚provokanten‘ Haare und ihr Kulturerbe mit Stolz.

Die Tatsache, dass weiße Menschen diese spezifischen Kulturmarker nun nehmen, sich zu eigen machen und profitieren ist ein Problem bekannt als cultural appropriation (Kulturelle Aneignung) und verdient seinen eigenen Artikel von einer Person, die davon aktiv betroffen ist. Hier geht es darum, was dieses Phänomen mit dem Weiblichkeitsideal im Westen macht. Die weiße Popkultur stiehlt seit Jahrzehnten von der schwarzen, us-amerikanischen Kultur – sei es nun R&B, Rap, Gospel, Blues, Jazz oder Rock and roll, aber auch andere, bildende und literarische Kunst ist betroffen, sowie die Film-, Tattoo-, Haar- und Essenskultur. Es handelt sich nicht zwingend um einen Austausch, sondern um ein gezieltes Assimilieren von afroamerikanischen Errungenschaften durch die weiße westliche Kultur. Dieser Prozess kam vor einigen Jahren nun auch bei dem weiblichen Körper an und an dieser Stelle kommen wir zurück zum Kernpunkt dieses Artikels: Weiblichkeit ist jetzt ‚exotisch‘.

Weiße Frauen und weiblich Gelesene (aber besonders cis Frauen) definieren ihre (äußere) Weiblichkeit nun durch Kurven, große Lippen, dunkle Haut, krauses Haar und einen gewissen Slang, den sie als typisch afroamerikanisch kennenlernten und der ihrer Stimme etwas tiefes, ‚exotisches‘ geben soll. Diese Exotisierung von BIWoCs, die man bei Ariana Grande und den Kardashians besonders gut beobachten kann, führt dazu, dass immer mehr junge weiße Frauen diesem Beispiel folgen. Die eigentlich weißen Frauen in der Popkultur sammeln eine breitere Fanbase, da sie in ihrem neuen Look nun eher von BIPoCs unterstützt werden und stilisieren sich gleichsam als sexuell und ‚wild‘.

Es ist nun sexy so auszusehen, als wäre man mixed race, latinx oder lightskin black – alles Identifikationsmarker, die weiße Frauen von ihrem nun negativen Bild als ‚einfach weiß‘ zu etwas Besonderem machen. Und dies ohne wirklich die Konsequenzen zu spüren. Ariana Grande kann in ihrem 7 Rings Video so tun, als wäre sie schwarz und am Ende des Tages wäscht sie den Selbstbräuner ab und ist wieder das nette, weiße Mädchen von nebenan. Entschuldigt wird dies oft dadurch, dass man sagt, sie wäre Südländerin, wie etwa aus Italien – eine Ausrede die nicht zieht, wenn man sich an die europäischen Ideale aus eben diesen Bereichen der Welt erinnert, die seit der Antike unser Bild von Weiblichkeit definieren. Frauen wie Ariana Grande wachen nicht eines Tages auf und haben dunklere Haut – sie treffen eine Geschäftsentscheidung.

Auch (Instagram-)Model springen auf diesen Zug auf und profitieren mit einer Hautfarbe, die nicht ihre ist und die nicht nur jahrhundertelang unterdrückt und entweiblicht wurde, sondern bis heute negative Auswirkungen mit sich bringt. Die Verschiebung von dem Ideal der Weiblichkeit hin zu einer sexy hellhäutigen WoC ist kein Zufall und auch gar nicht so ideal, wie man jetzt vielleicht denkt.

Zunächst zu der Geschichte dieses Ideals. Blackfishing, wie das oben definierte Verhalten genannt wird, kommt aus einer dunklen Ecke der Geschichte: der Sklaverei. Selten wird von weiblicher Sklaverei gesprochen, dabei war sie ein sehr großer Teil des Ganzen. Sklavinnen arbeiteten oft im Haus und dienten den weißen Menschen direkt. Die hellhäutigen Kinder, die die Sklavinnen bald darauf hatten, waren ein direktes Anzeichen dafür, dass die weißen Männer nicht treu waren und wurden dementsprechend von weißen Frauen gestraft und gehasst. Später wurden gezielt diese hellhäutigen Frauen in den Hausdienst eingeteilt, um diese ‚Schande‘ zu verdecken. Sexualisierte Gewalt an schwarzen Frauen brachte hellhäutige schwarze Frauen in die Welt, die gezielt sexualisiert wurden. [In Australien wurden Frauen mit dunkler Haut mit weißen Männern verheiratet, um die Hautfarbe der Kinder zu erhellen und auch in Südafrika und Indien gibt es ähnliche Geschichten.] Aber die Sexualisierung stoppte nicht, als Sklaverei endlich endete. Schwarze Frauen, besonders die mit hellerer Haut, werden in den Medien bis heute verstärkt sexualisiert dargestellt und erleben weitaus mehr sexualisierte Gewalt als andere Gruppen. Basierend auf einem fürchterlichen Exotismus, der sie als sexuell offen darstellt, weil sie ja dunklere Haut haben und damit nicht die braven, netten Ideale treffen, die wir in der Antike für weiße Frauen festsetzten. Sich heute fälschlich als mixed race zu präsentieren, um sich als sexuell, wild und offen für alles zu zeigen, schafft weißen Frauen ein Alter Ego, in dem sie für ein paar Stunden am Tag zu sexuellen Objekten werden können, die nichts anderes, als ein Stereotyp von hellhäutigen schwarzen Frauen sind. Für Frauen, die tatsächlich diesen Hautton haben, endet die Farce jedoch nicht, sie bleiben ein sexuelles Objekt für den Rest ihres Lebens. Weiße Frauen können im Zweifelsfall wieder zu netten, unschuldigen Frauen werden, um der Sexualisierung zu entgehen. Moderne Weiblichkeitsideale im Westen sorgen dafür, dass endlos viele Frauen mit dunkler Haut zum sexuellen Objekt erklärt werden.

Am Ende des Tages ist diese Sexualisierung nicht nur gefährlich, sondern beeinflusst unser Ideal weniger, als wir oft glauben. Denn nicht genug, dass in weiten Teilen der Welt die europäischen Ideale der letzten Jahrhunderte noch immer aktiv sind, nein, auch hier hat sich das eigentlich nicht geändert. Klar ist es jetzt gerade ’sexy‘ und ‚im Trend‘ leicht dunklere Haut zu haben – aber nur als visueller Reiz in den Medien. Die, die noch immer bevorzugt werden, sind die weißen cis Frauen, die sich nicht ‚exotisch‘ oder ‚ghetto‘ geben, sondern das Privileg haben diese Marker aktiv zu wählen und auch wieder abzulegen.

Wir berauben schwarze Frauen also ihrer Identität, stilisieren sie als Sexobjekte, verdienen daran und am Ende sind wir trotzdem weiterhin das Ideal. Verführung wird seit der Antike der Weiblichkeit zugesprochen und die Konsequenzen für Betrug und sexualisierte Gewalt lagen deshalb früher bei Frauen allgemein, nun liegen sie besonders bei BIWoCs, da weiße Frauen seit dem 18. Jahrhundert als unschuldig und rein gesehen werden.


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Ogo


Die Frau in den Medien – eine konstruierte Identität

In der neueren Geschichte ist die weiße cis Frau eine irrationale Gestalt, deren Intelligenz eine emotionale Natur hat und die für alle ‚richtigen‘ Entscheidungen die Hilfe eines Mannes benötigt. Diese Ansicht wurde lange medizinisch mit der Hysterie bestärkt und auch Menstruation spielt eine Rolle in der Unterdrückung der Weiblichkeit in der Gesellschaft. Aber, und diesen Fakt darf man nicht vergessen, es sind nicht nur Männer, die diese Rollenbilder lebten und verbreiteten. So hart das Leben als weiße cis Frau auch war – alle anderen Frauen wurden ihrer Identität beraubt, um ihr Leben noch schlechter zu gestalten. Liebe, nette, treue, junge, weiße cis Frauen, die im Idealfall  auch noch gläubige Mütter waren, rückten sich in den Mittelpunkt der Weiblichkeit – alle die nicht in diese Sparte passten, wurden ihrer Weiblichkeit und damit ihrer Identität beraubt.

Schließlich traf es auch weiße queere, dicke und alte Frauen. Sie waren theoretisch Teil des eurozentrische Ideals und deshalb für eine lange Zeit schwerer zu entweiblichen als Frauen, die automatisch aufgrund ihrer Hautfarbe entfremdet wurden. Die sozialen Gepflogenheiten mussten neu angepasst werden, um sie gezielt auszuschließen. Hollywood spielte darin eine entscheidende Rolle. Dank Massenmedien war es plötzlich sehr leicht ein neues Ideal zu schaffen, was nicht nur auf weiße cis Frauen zugeschnitten war, sondern auf weiße cis Frauen die genau so aussehen und sich verhalten, wie man es von ihnen verlangte. Alte Frauen wurden aus den visuellen Medien verbannt, dicken Frauen wurde anhand von 1000 Telecommercials für Abnehmpillen und Home-Workout-Tapes gezeigt, was man von ihnen hielt, queere Frauen als Menschen, die eigentlich Männer sein wollen, stilisiert. Es traf diese Frauen spät, aber es traf sie.

Die bereits zuvor stark artifizielle Natur der Identität weißer Frauen wurde durch das neue Zeitalter weiter zugeschnitten. Es wurde schwerer und schwerer in den Typus zu passen und so begannen auch weiße cis Frauen zu verstehen, wie toxisch diese Ideale sind.


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Woman in front of mirror, Clementina Maude (ca. 1860)


Internalisierte Misogynie, Heteronormativität und Opferrollen

Man sollte meinen, dass nun, da auch weißen Frauen ihre Weiblichkeit abgesprochen wird, alle zusammenkommen würden, um das Ideal ein für alle Mal abzuschaffen. Dem ist nicht so. Rassismus und LGBTQA*-Feindlichkeit werden von weißen cis Frauen weiterhin systematisch genutzt, um sich über andere Frauen zu stellen. Die Opferrolle der weißen cis Frau dominiert die Medien bei jeder Diskussion über Weiblichkeit.

Und ja, es gibt Wege, wie weißen cis Frauen ihre Weiblichkeit abgesprochen werden kann. Aber die, die sprechen, sind fast immer normschön, weiblich gelesen, gebildet, haben lange Haare, einen funktionierenden Uterus, oft sogar Kinder und sind in einer heteronormativen Beziehung. Das, was sie als Raub ihrer Weiblichkeit sehen, sind lediglich Kommentare. Diese definieren manche Frauen als weniger weiblich, weil sie den Stereotypen nicht entsprechen und tun natürlich weh und schaden unserem Bild von Weiblichkeit. Aber weiße cis Frauen sind dennoch das Ideal. Wenn es uns schon so geht, wie geht es dann wohl den Frauen, die wir aktiv in den Hintergrund drängen, um unser Leidensnarrativ zu bestärken?

Leider haben weiße (cis) Frauen dann auch noch den Reflex, direkt in die internalisierte Misogynie zu fallen. Wenn (cis) Männer uns die Weiblichkeit absprechen, ist es besonders bei Jugendlichen eine automatische Reaktion, alles weiblich Konnotierte abzuwerten. Ich war auch mal ein ‚Gamergirl‘ und habe stereotypisch-weiblichere Frauen niedergemacht, damit man mir sagt, dass ich nicht so wie andere Frauen bin. Sondern besser, ‚chill‘ eben und nicht so viel Drama. Wir kennen alle diese Sprüche und das ist nicht die Lösung.

Frauen und weiblich Gelesene, die sich an diesem ‚Kampf‘ beteiligen wollen, müssen mehr aufeinander hören und gemeinsam an einem Strang ziehen. Dazu gehört auch, als weiße cis Frau, die alle (oder viele) Marker der Weiblichkeitsideale trifft, einfach mal leise zu sein. Weiße cis Frauen, egal ob dick oder dünn, jung oder alt, hetero oder nicht müssen realisieren, dass wir nicht der Mittelpunkt dieses Problems sind. Wir sind zu großen Teilen immer noch das Ideal und unsere Probleme sind real, aber nur ein Bruchteil von allem, was seit Jahrhunderten in diesem Sektor passiert. Wir haben diese Spaltung lange aktiv angetrieben und tun es noch heute, wie die weißen cis Frauen in der us-amerikanischen Politik, die es für arme (oft schwarze) Menschen mit Uterus schwerer machen, sicheren Zugang zu Abtreibungen zu erhalten.

Wir sind das Ideal, haben es mit aufgebaut und doch sind wir die, die öffentlich dazu sprechen und uns oft als reine Opfer darstellen. Wenn wir so weitermachen, wird diese Diskussion nie wirklich etwas verändern.


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Große Neeberger Figur, Wieland Förster (1971)

(Foto von Ben Kaden (2017))


Weitere Links

Über die Karikatur der schwarzen Frau (engl./Video)

Zu kulturellem Diebstahl in der weißen, westlichen Kultur (engl./Podcast)

Eine Buchdiskussion zum Thema Musikdiebstahl (engl)

Ein Videoessay zu Ariana Grande und den Kardashians (engl./Video)

Ein Videoessay über Blackfishing (engl./Video)

Ein Artikel über Blackfishing (deutsch)

 

Sexuelle Gewalt im Mediengedächtnis

 

Tragische Vorgeschichten (1)

Sexuelle Gewalt im Mediengedächtnis und als tragische Vorgeschichte


TW: Sexuelle Gewalt, Cissexismus, Sexismus, Bild eines abgetrennten Medusakopfes, Bilder, die sexuell anzüglich sind, historische Darstellungen von sexueller Gewalt.


Dieser Blogtext wird euch kostenfrei zur Verfügung gestellt, falls ihr mich und meine Arbeit unterstützen wollt, könnt ihr das hier: Paypal.


Disclaimer: In diesem Artikel ist von (nicht zwingend cis) weiblichen und männlichen Opfern/Täter*innen die Rede, da nicht binären Menschen und die generelle LGBTQA+ Community ein besonderes Verhältnis zu sexueller Gewalt haben, dass zu tief geht, um es gebührend einzubringen. Am Ende des Beitrags wird ein Artikel zum Thema verlinkt.


Eine gut geplante Hintergrundgeschichte ist ausschlaggebend, um Figuren in Büchern, Serien, Filmen und anderen Medien mehr Leben einzuhauchen. Ohne sie wirkt alles platt und lieblos entworfen. Dabei spielt die tragische Vorgeschichte eine wichtige Rolle, besonders, wenn es um Frauen geht. In diesem Beitrag werden die Fragen beantwortet, warum sexuelle Gewalt dazu oft als billiges Stilmittel genutzt wird und woher die Faszination an „der leidenden Frau“ kommt. Er stellt den persönlichen, medienbasierten Versuch einer Analyse des Stilmittels dar und ist dementsprechend als reiner Meinungsartikel zu lesen.


Das Bild der leidenden Frau

In den Medien sind wir von der Manifestation sexueller Gewalt umzingelt: dem Bild der leidenden Frau. Sie ist überall. In manchen Fällen scheint es, als wäre das Leiden die einzige Aufgabe der Frau. Dabei muss man sich als Rezipient*in und Produzent*in klar machen, was da als Stilmittel verwendet wird: nämlich die Geschichten realer Opfer.

Es ist leicht, in die Fußstapfen von Medienproduzent*innen zu steigen, die sexuelle Gewalt als simples Mittel zur Definition einer mittlerweile klassischen Frauenrolle nutzten. So geht die Faszination an leidenden Frauen im 21. Jahrhundert in die nächste Runde. Ein Fetischrelikt aus der Zeit, in der nur Männer die Filme drehten und (Dreh)Bücher schrieben, der Zeit des male gaze. Anders als diese Männer starb die mediale Aufregung um sexuelle Gewalt jedoch nicht in den 90ern an Alkoholkonsum und Kokain.

Heute finden sich in jeder Krimiserie ermordete Frauen und wenn Figuren eine Hintergrundgeschichte brauchen, die tragisch und abschreckend sein soll, greifen Autor*innen automatisch zur sexuellen Gewalt. Kaum etwas ist im medialen Gedächtnis so stark verankert, wie Vergewaltigungsdarstellungen. Dass uns das noch immer beschäftigt, zeigte sich 2018 an der Kontroverse um die sogenannte „Butterszene“ aus Der letzte Tango in Paris. Die Rollenverteilung ist klar: Die hilflose Frau wird vom Bösewicht erobert, der zwar generell „negativ“ dargestellt wird, aber halt doch irgendwie ein cooler Stecher und badass ist. Die Schauspielerin wird von der Szene überrascht für eine „bessere Reaktion“. Hierbei wird die Frage danach, was Kunst darf, über das Leben einer Frau gestellt. Sie stellt die Rolle der leidenden Frau nicht nur dar, sondern wird zu ihr, verschmilzt mit ihr, um die Kunst realer zu machen.

Wir schaffen es bis heute nicht, moralische Grenzen zu setzen, wenn es um das Leiden der Frauen geht. Die tote Prostituierte in Criminal Minds hat es halt doch ein bisschen verdient, wenn der Täter schwarz ist, hat man schon die ganze Zeit geahnt, dass er das war, der hämische Polizist, der dem Opfer nicht glaubt, ist eben noch vom alten Schlag und wenn die Figur des Vergewaltigenden nicht männlich, generell angsteinflößend und böse ist, gibt es dutzende Ausreden und Verteidigungen. Aus einer Straftat wird eine Kontroverse. Wie sympathisch darf ein*r Täter*in sein? Wie weit vom Stereotyp entfernt man sich? Was darf man darstellen und wie?

Wenn es dann auch mal um das Trauma von Männern geht, die missbraucht werden, landen wir bei Büchern/Filmen wie 50 Shades of Grey, in denen die männliche Hauptfigur seine Vergangenheit versteckt, sich schämt und permanent „es gefiel ihm ja irgendwie doch“ im Hintergrund mitschwingt. Zudem wird es als Ausrede für sein Fehlverhalten (Stalking, sexuelle Gewalt, Kontrolle einer Frau) gebraucht. Männer dürfen nicht leiden, Frauen müssen es.


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James Sant, Contemplation


Westliche Geschichte als Vorbild

Diese Darstellungen kommen nicht (nur) aus der Zeit, in der jeder zweite mediokre cis Mann mit einer Kamera tragische Filme über leidende Frauen drehte. Das Medienphänomen der sexuellen Gewalt ist so alt wie die (westliche) Kultur. Das Paradebeispiel für grausige Geschichten, mehr Vergewaltigungen, als man zählen kann (und möchte) und dem typischen Bild der leidenden, schwachen Frau ist die (griechische/westliche) Mythologie. Damit findet sie sich in Erzählungen überall um uns herum.

Wie etwa in der Geschichte hinter dem Sprichwort „mit Argusaugen beobachten“. In der Mythologie wird eine junge Frau namens Io von Zeus bedrängt und vergewaltigt. Hera verwandelt sie zur Strafe in eine Kuh, die dann von dem Riesen Argus bewacht wird. Auch der Raub der Europa ist eine Geschichte über sexuelle Gewalt, die uns tagtäglich begleitet und die Erzählungen um den Gott Pan sind schlichtweg grauenvoll. Unser Kulturgut ist voller sexueller Gewalt. Ist es da ein Wunder, dass sie uns bis heute in allen Medien begleitet?

Medusas Geschichte ist der Prototyp der tragischen Hintergrundgeschichte; inklusive sexueller Gewalt, Rache der Gattin des Täters (was die Frage nach dem Ursprung internalisierter Misogynie weckt) und Distanzierung zwischen Tat und Opfer. Durch die Mythisierung des Gewaltakts wird dieser zur reinen Gräueltat und das Opfer wird in den Hintergrund geschoben. Er dient zur bloßen Abschreckung, statt zur Reflexion. Moralische Linien werden zugunsten einer gut zu erzählenden Geschichte verbogen.

Das begegnet uns auch im Mittelalter wieder. Dort wurde sexuelle Gewalt so stilisiert, dass die Menschen bis heute historische Korrektheit schreien, um in ihren Mittelalterromanen, Filmen, Serien und Spielen möglichst viele Vergewaltigungen einzubauen. Auch hier natürlich nur an Frauen. Denn die Realität ist nicht das, an was wir uns erinnern. Wir haben nur die Darstellungen seit der Antike vor Augen; die Männer als Täter und Frauen als Opfer. In diesen Medien wird nicht nur die Perspektive der männlichen Opfer komplett ausgeklammert, auch die weiblichen kommen nicht zu Wort. Denn die, die Sprechen, sind nie Opfer. Man sieht die leidenden Frauen immer passiv. Ihr Leiden und ihre Reaktion wird von Menschen nacherzählt, die keine Ahnung haben, wie es wirklich war.

Es ist fester Bestandteil unserer Kultur, unseres Mediengedächtnisses und unseres Alltags, dass sexuelle Gewalt etwas „Normales“, ja fast „Natürliches“ ist, das festen Regeln folgt. Die leidende Frau ist also mehr als nur ein Stilmittel, sie ist allgegenwärtige Realität, die tief in unserem Verständnis von (westlicher) Geschichte und Literatur verankert ist. Das fällt zu Teilen in das, was man rape culture nennt. Wir werden mit diesem Wissen sozialisiert und nutzen es, um sexuelle Gewalt zu rechtfertigen, kleinzureden – und sie uns anzueignen.


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o. A., Head of Medusa


Das Problem mit tragischen Vorgeschichten

Diese Aneignung ist es, die tragische Vorgeschichten, die aus sexueller Gewalt bestehen, schwierig macht. Wir sind so umgeben von dieser Art der Gewalt, dass es leicht fällt zu ignorieren, dass es tatsächliche Betroffene gibt, deren Erfahrungen man sich zu eigen macht. Deren Geschichten sind es, die als dramatisches Stilmittel genutzt werden. Das ist etwas, was sich niemand anmaßen darf. Aber wir sind daran gewöhnt, weil wir in unserem Kulturgut nie etwas anderes kennenlernten.

Nichtbetroffenen steht es nicht zu, zu raten, wie jemand wohl reagiert und dann davon ausgehend ihre Protagonist*innen als „stark“ oder „schwach“ zu betiteln. Dazu ist das Thema zu divers und zu real. Es gibt nicht eine Art von Opfern/Überlebenden. Das Leiden vor die Person zu stellen, reale Opfer damit zu stigmatisieren und sich daran selbst zu bereichern (oder es zu nutzen, um sich als kontrovers darzustellen) ist nicht akzeptabel.

Trigger und falsch dargestelltes Trauma sind kein Witz/simples Stilmittel. Wir führen die Tradition der leidenden Frauen weiter, statt sie endlich aus unserem Mediengedächtnis zu streichen. Frauen brauchen immer eine tragische Hintergrundgeschichte und wenn man sie schreibt, dann das volle Programm. Inklusive bösen Träumen, Konfrontation mit dem (natürlich cis männlichen) Täter und unrealistischen Therapiesitzungen. Am Ende kann die Frau endlich wieder vertrauen, weil sie den einen Mann gefunden hat, der sie all ihr Trauma vergessen lässt. So funktioniert das im echten Leben nicht und Menschen, die diese Themen unreflektiert behandeln, müssen endlich Konsequenzen sehen.

Wir haben als Gesellschaft eine Verantwortung, uns darauf zu einigen, wo wir moralische Grenzen setzen und wo wir die Diskussionen und Kontroversen beiseitelegen, um im Konsens zu sagen: Das geht zu weit. Keine lange Medienausschlachtung, die das Buch/den Film/die Serie noch bekannter macht. Ein kollektives Im-Keim-Ersticken der Werke, die es 2019 noch immer nicht begriffen haben. Dazu gehören bekannte Titel wie 50 Shades of Grey und Kingdom Come: Deliverance, aber auch Indietitel, Bücher von Selfpublishern und underdog Netflixserien.


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Peter Paul Rubens, The Rape of Proserpina


Klischees und sexuelle Symbolik

Das Problem an Szenen, die sexuelle Gewalt zeigen, ist oft ihre Umsetzung und der Grund, warum sie existieren. Sexuell aufgeladene Waffen wie das Messer werden genutzt, ohne das man sich der Bedeutung bewusst ist.


[Messer sind eine sexuell aufgeladene Waffe, da sie den Akt des Eindringens symbolisieren. Dies wird so oft in Darstellungen von sexuellem Sadismus genutzt, dass viele die Assoziation zwischen sexueller Gewalt und Messern haben, ohne zu verstehen, woher sie kommt. Die wenigsten Vergewaltigungen geschehen jedoch aus sexuellem Sadismus heraus, was die Verknüpfung der generellen Tat mit dem Messer problematisch macht. Meistens wird sexuelle Gewalt von psychologischer und verbaler Gewalt begleitet, nicht von physischer. Das Problem hierbei ist also, dass Menschen Waffen und sexuelle Gewalt so sehr miteinander verbinden, dass es ihnen schwer fällt, Opfern, die nicht von einer Waffe bedroht wurden, zu glauben.]


Die sexuelle Gewalt wird eingebaut, weil man ein Schockelement braucht. Dabei machen sich die wenigstens bewusst, dass es mehr als nur das ist. Weitere Probleme, die es in der Darstellung von sexueller Gewalt gibt:

  • Victim blaming (besonders bei Sexarbeiter*innen).
  • „Klassische“ Geschlechterrollen und eine binäre Sichtweise.
  • Das Aufkommen des Traumas nur dann, wenn es für den Plot passend ist.
  • Die Bezeichnung einer Vergewaltigung als „harter/unfreiwilliger Sex“. (Eine Vergewaltigung ist kein Sex, sondern ein Gewaltakt!)
  • Das Ausblenden der Tatsache, dass Täter*innen zumeist nahe Bekannte oder sogar Familienmitglieder sind, die man nur schwer als solche wahrnehmen kann/will.
  • Das Niedermachen männlicher Opfer (z. B. durch Seifen- und Gefängniswitze).
  • Die Darstellung von Trauma, wie man es sich als Außenstehende vorstellt, statt wie es tatsächlich ist.
  • Das Weglassen der Machtstrukturen, die hinter sexueller Gewalt stehen. (Diese ist immer ein Machtakt, nie ein Sexakt. Es geht nicht um die Erfüllung sexueller Bedürfnisse, sondern um das Stärken von Machtpositionen. Ausnahmen sind extrem selten und bedeutet viel Recherche über die psychologischen Auslöser.)

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Nikko Russano, The Male Gaze


Warum sexuelle Gewalt?

Die Frage, die man sich als Autor*in oder Medienproduzent*in immer stellen sollte ist: Warum muss hier eine Vergewaltigung hin?

Das Thema an sich kann gut und mit Mehrwert vermittelt werden. Aber sexuelle Gewalt, insbesondere Gewalt an Frauen, wird in fast jedem Medium gezeigt und ausgeschlachtet. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es unmöglich ist, den Fernseher anzumachen oder ein Buch aufzuschlagen, ohne auf sexuelle Gewalt oder den Mord an einer Frau zu treffen. Dabei sind diese Vorkommnisse im echten Leben bereits zu real, zu viel und zu belastend. Es ist ein unfassbarer Druck, immer und überall mit toten oder geschändeten Frauen konfrontiert zu werden. Die Rechtfertigung, dass jemand eine Hintergrundgeschichte brauchte, wirkt wie ein schlechter Scherz. Denn besonders für die LGBTQA+ Community, Sexarbeiter*innen, Opfer jeden Geschlechts und Angehörige ist es kein lapidares Thema, was man als Hintergrundgeschichte verkleiden kann, sondern ein grausiger Alltag aus den Nachrichten und dem Freundeskreis.

Ohne triftigen Grund, gute Recherche und sensiblen Schreibstil sollte man nicht noch ein Medium liefern, in dem jemand vergewaltigt wird. Das braucht weder die Film- und Serienlandschaft, noch die Buchwelt. Die Realität der Opfer ist kein Stoff, aus dem Nichtbetroffene sich eine tragische Vorgeschichte für ihre Figuren erdichten können. Das ist einfach respektlos und zeugt von schlechtem Stil.


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o. A., Perithoos Hippodameia


Fazit

Sexuelle Gewalt steckt in der (westlichen) Kultur, Geschichte und Medienlandschaft. Wir alle werden mit Stereotypen und problematischem Grundwissen sozialisiert und wachsen in der Annahme auf, dass sexuelle Gewalt normal ist, dazu gehört und dass es immer irgendjemanden treffen muss; dass es Vermeidbar ist, in dem man gewissen Regeln folgt. Dabei ist sexuelle Gewalt nicht nur eine Tat von Fremden und die Lösung ist nicht, einen Rock anzuziehen, der länger ist, als der der Frau neben uns, damit es sie trifft und nicht uns.

Unser Mediengedächtnis ist so voll von Variationen der leidenden Frau, dass es uns natürlich erscheint, als Nichtbetroffene über sexuelle Gewalt zu schreiben. Weil man das Gefühl hat, man wüsste, wie das ist; weil es ja „allgemeines Wissen“ ist. Immerhin gibt es überall Darstellungen davon. Die moralischen Grenzen sind so schwammig gesetzt, dass es als Kontroverse gilt, wenn jemand, der in Serien/Filmen/Büchern unschuldig wäre, als Täter*in dasteht. Kann man dem Opfer glauben, wo uns doch jahrtausendelang eingetrichtert wurde, wie sexuelle Gewalt, ihre Opfer und die Täter*innen auszusehen haben?

Es wird Zeit uns davon loszusagen, was in den Medien als Realität gezeigt wird. Die Aneignung von Erfahrungen ist nicht akzeptabel, um eine „interessante“ und „grausige“ Hintergrundgeschichte zu erfinden. Ebenso, wie es nicht akzeptabel ist, die vom male gaze der Filme des 20. Jahrhunderts und den Mythen und Geschichten der (westlichen) Kultur geprägten Bilder über sexuelle Gewalt und leidende Frauen weiterhin bedingungslos zu verbreiten.


Weiterführende Literatur

Vergewaltigung als TV-Trope (Englisch)

Der Medusamythos und weibliche Wut (Englisch)

Über das Phänomen des „literary rape“ (Englisch)

Klischees in der Darstellung von sexueller Gewalt (Englisch)

Sexuelle Gewalt und die LGBTQA+ Community (Englisch)

Mythen über sexuelle Gewalt (Englisch)

Wir lesen Frauen – Gedanken und Literaturtipps zur Challenge

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Wir lesen Frauen

Gedanken und Literaturtipps zur Challenge


Der Weltfrauentag steht vor der Tür und mit ihm die Realisation, dass wir auch in Deutschland noch viele Probleme haben, die Gleichberechtigung betreffend. Um die Stimmen von Frauen lauter zu machen und etwas zu schaffen, was eben nicht nur für ein paar Tage im Gedächtnis bleibt, hat meine liebe Kollegin Eva-Maria Obermann eine „Challenge“ geschaffen.

„Challenge“ deshalb in Anführungszeichen, weil es zwar wie eine Lesechallenge aufgebaut ist, aber tatsächlich viel mehr als das ist. Denn unter dem Hashtag #WirLesenFrauen tauschen sich ab März Menschen über ihre Lektüre aus. Ihre weibliche Lektüre. Frauen aus allen Teilen der Welt und allen Epochen. Feste Regeln gibt es nicht, aber einen Leitfaden für jeden Monat.

Weil ich die Idee super finde, aber schon oft gelesen habe, dass Leute nicht so ganz wissen, was sie lesen sollen, dachte ich, ich mache ein paar Literaturtipps. Damit nicht nur die selben 10 Autorinnen gelesen werden. Es ist mir außerdem wichtig, hier auch Kritik anzubringen. Die Aufgabenstellung stellt WoC und nicht-europäische Autorinnen explizit heraus was gut ist, weil das betont werden sollte. Das bedeutet aber nicht, dass die anderen Bücher nicht auch von ihnen kommen können/sollten. Bitte lest nicht nur weiße Europäerinnen!

Aufgabe 1: Lest ein Sachbuch zum Thema Feminismus

Zur Geschichte der weiblichen Sexualität hat die schwedische Autorin Liv Strömquist in „Der Ursprung der Welt“ geschrieben.

Selbstbestimmung ist in Judy Norsigians „Our Bodies, Ourselves“ Thema.

Susan Arndt schreibt in „Feminismus im Widerstreit. Afrikanischer Feminismus in Gesellschaft und Literatur“ über den Feminismus in Afrika. [Achtung, sie ist zwar Expertin, aber keine Own Voice!]

Aufgabe 2: Lest ein Buch aus einer Autorinnenvereinigung

Die deutsche Autorinnenvereinigung existiert offiziell seit 2006, das Netzwerk dahinter ist jedoch bereits in den 90ern entstanden. Diese Aufgabe ist eine tolle Gelegenheit, um sich über andere deutsche Netzwerke für Autorinnen schlau zu machen!

Schrifstellerinnen deren Werke für diese Challenge passen, sind beispielsweise Franziska Gerstenberg, Zdenka Becker und Michèle Minelli.

Aufgabe 3: Lest ein Buch einer WoC (Woman of Color)

„So wie ich will. Mein Leben zwischen Moschee und Minirock“ von Melda Akbaş spricht über die Lebenserfahrungen von Deutsch-Türkinnen.

Maria Stewart lebte im 19. Jahrhundert als freie schwarze Frau in den USA und schrieb über den Rassismus und ihre Erfahrungen als Mehrfachmarginalisierte.

Das Buch „Nervous Conditions“ von Tsitsi Dangarembga ist ein ganz besonderer Buchtipp, denn es war 1988 das erste Buch einer schwarzen Frau aus Zimbabwe, was in der englischen Sprache erschien. Es fokussiert sich auf das post-koloniale „Rhodesia“ und die Auswirkungen von Kolonialisierung auf schwarze Frauen. Da wir in Deutschland kaum Afrikanische Geschichte lernen und rezipieren, sollte jede*r dieses Buch gelesen haben.

Aufgabe 4: Lest den Essayband einer Autorin

Enis Macis „Eiscafé Europa“ ist hier meine absolute Empfehlung!

Wer eher einen Klassiker möchte, der kann auch zu Hannah Arendts „Die verborgene Tradition greifen“.

Hochpolitisch und aktuell ist Olga Flors Sammlung „Politik der Emotion“.

Aufgabe 5: Lest das Buch einer deutschsprachigen Autorin

Ulrike Draesner schreibt in „Eine Frau wird älter“ über die Position von älteren Frauen in unserer Gesellschaft.

„Der geteilte Himmel“  von Christa Wolf ist ein wichtiges Buch über die DDR und ihr Werk „Medea: Stimmen“ dreht sich um mythologische starke Frauenfiguren.

Für Romantiker*innen ist Nina Georges „Das Lavendelzimmer“ eine gute Wahl.

Aufgabe 6: Lest das Buch einer nicht-europäischen und nicht-US-Amerikanischen Autorin

Urmila Chaudhary ist eine indische Aktivistin, die ihre grausamen Erfahrungen mit Menschenhandel in „Sklavenkind“ festgehalten hat.

Der Roman „Paula“ von der chilenischen Autorin Isabel Allende ist ebenfalls autobiografisch und diskutiert den Umgang mit einer tödlichen Krankheit. Gleichzeitig wird die Geschichte von Chile erzählt.

„Black Widow Society“ von der Südafrikanischen Autorin Makholwa Angela ist ein Augen-öffnendes Buch über sexuelle Gewalt, das Leben als Frau in Südafrika und die Idee von afrikanischer Freiheit.

Aufgabe 7: Lest das Sachbuch einer Autorin

Hier kommt es immer auf das Fachgebiet an.

Bei Interesse in Astrophysik empfehle ich das neuste Paper von Burçin Mutlu-Pakdil.

Zum Thema (historische) Genderforschung schreibt Claudia Opitz-Belakhal.

Ägyptische Geschichte findet ihr bei Joyce Tyldesley.

Einen Grundriss zum Jahr 1919 hat Birte Förster geschrieben.

Für feministische Theorien empfehle ich Hélène Cixous.

[Empfehlt Bücher aus eurem Fachbereich an Leute aus anderen Bereichen für mehr Austausch, das fände ich sehr toll!]

Aufgabe 8: Lest das preisgekrönte Buch einer Autorin

Kim Thúys „Ru“ ist absolut großartig und ergreifend!

„The Vegetarian“ von Han Kang ist schnell gelesen und ein Meisterwerk.

Ebenfalls sehr verdient preisgekrönt ist „Prawda. Eine amerikanische Reise“ von Felicitas Hoppe.

Aufgabe 9: Lest das Buch einer Selfpublishing-Autorin

Hier finden sich die wahren Schätze in den Nischenkategorien der jeweiligen Genres. Hier möchte ich keine Empfehlungen aussprechen, da ich selbst SP-Autorin bin und nicht aus einer Liste meiner Kolleginnen auswählen möchte.

Aufgabe 10: Lest den Literaturklassiker einer Autorin

Vicky Baum schuf mit „Menschen im Hotel“ einen wahren Klassiker, den jede*r mal gelesen haben sollte.

Für vintage Horror-Gothik Fans ist Daphne du Mauriers „Rebecca“ die ideale Wahl.

Die USA war zur Wende ins 20. Jahrhundert der Zielort vieler Immigrant*innen aus Europa. Eine mitreißende Geschichte dieser Art erzählt Betty Smith in „A Tree grows in Brooklyn“.

Aufgabe 11: Lest den Gegenwartsroman einer Autorin

Leonie Ossowski schreibt in „Die schöne Gegenwart“ von Trennungen und Neuanfängen aus der Sicht einer älteren Frau, die einen lange gestorbenen Traum umsetzen kann.

Wer eher im Genre stöbern möchte, schaut sich am besten mal bei Judith Hermanns Werken um.

Umweltbewusste Gegenwartsliteratur und Wendeliteratur gibt es bei Kathrin Aehnlich.

Aufgabe 12: Lest das Buch einer (trans) Frau über trans Frauen.

Ganz oben auf der Liste ist „Trans. Frau. Sein.“ von Felicia Ewert.

Die Bücher von Andrea James und Julia Serano sind offen Own Voice und spannend. Sie kann man Lesen, wenn man sich aktiv mit Problemen innerhalb der LGBT-Community auseinandersetzen möchte.

Ein Fachliteratur-Tipp ist Céline Grünhagens „Transgender in Thailand. Die religiöse und gesellschaftspolitische Bewertung der Kathoeys“. [Grünhagen schreibt (soweit ich weiß) nicht Own Voice, ist jedoch eine der wenigen Expertinnen für trans Personen in Religionen.]


 

Mehr zu der Aktion findet ihr auf Eva-Marias Blog.

Suizid in den Medien – ein Blick auf den Umgang mit Suizid in der (Pop)Kultur

 

Suizid in den Medien – ein Blick auf den Umgang mit Suizid in der (Pop)Kultur

Suizid in den Medien – ein Blick auf den Umgang mit Suizid in der (Pop)Kultur


TW: Suizid


Kann man durch eine Serie oder ein Buch die Jugend hinreichend zum Thema Suizid sensibilisieren? Das ist die Frage, die den Produzierenden der Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ gestellt wurde. Und tatsächlich ist es fragwürdig, inwiefern die Serie das umsetzt, was sie sich selbst zuschreibt. Statt auf die Folgen von Mobbing hinzuweisen, wird man als Zuschauer*innen mit grausigen Bildern ohne jegliche Warnung (in der ersten Staffel) konfrontiert.


Hallo und herzlich willkommen im Büchnerwald!

Heute möchte ich mit euch über ein wichtiges Thema sprechen: Suizid. Denn heute am 10.09 ist der Welttag der Suizidprävention. Im Rahmen einer größeren Aktion, angestoßen von der lieben Babsi von BlueSiren, haben ich und einige weitere Blogger*innen uns zusammengeschlossen, um euch heute und in den nächsten Tagen passende Beiträge zu liefern.

Mein Artikel dreht sich um den Umgang von Medien mit dem Thema Suizid am Beispiel der/dem problematischen Serie/Buch Tote Mädchen lügen nicht.

Ein Buch für Jugendliche – oder nicht?

2007, als ich im Teenageralter war, kam das Buch heraus, auf dem die Serie basiert. Ich erinnere mich daran, wie ich beim Lesen hin- und hergerissen war. Einerseits verstand ich die Protagonistin zu gut. Auch ich wurde gemobbt und war als Jugendliche lange in psychologischer Behandlung. Wäre dem nicht so gewesen, wäre ich jetzt vermutlich nicht mehr hier. Denn wirkliche Rückendeckung in der Familie fehlte mir und auch Freund*innen hatte ich keine.

Ich erinnere mich gut, wie ich als junges Mädchen dasaß und mir überlegte, wen ich wohl auf meine „13 Gründe warum“-Liste schreiben würde. Dann wurde mir klar, dass man so etwas nicht machen kann. Dass es nicht die Schuld jener wäre, die heute mal nicht nett zu mir waren oder mich einfach nicht mögen. Ebenso wenig, wie es die Schuld meines Vaters wäre, der 10 Stunden am Tag arbeitet, um mir und meinen Geschwistern ein gutes Leben zu ermöglichen.

Aber ich hatte Hilfe. Ich hatte meine Psychologin, die mit einer Engelsgeduld vor mir saß und sich damit abgefunden hatte, dass ich mich an manchen Tagen eine volle Stunde lang über meine Mitschüler*innen echauffierte und an anderen Tagen nicht ein Wort herausbrachte. Hannah, die Protagonistin des Buches und der Serie hat dies nicht. Und ich frage mich bis heute, wieso das als Hauptproblem nicht beim Namen genannt wurde.

Hannah steht nicht komplett alleine da. Sie hat Freund*innen und eine Familie, die ihr Hilfe besorgen könnte. Trotzdem tun Buch und Serie so, als wäre ihr einziger Ausweg der Suizid. Ich kann verstehen, wieso ein Teenager so denken würde. Aber die Erwachsenen hinter dem Ganzen müssen einen weiteren Blick haben und sehen, was sie für eine Nachricht senden. Suizid als notwendiges Übel und danach die Menschen, die die „Schuld“ tragen ankreiden und ihr Leben ruinieren, weil sie ja das eigene ruiniert haben. So funktioniert die Welt nicht. Es graust mir davor, dass Jugendliche abends auf ihrem Bett wütend eine Liste erstellen mit „Schuldigen“ und sich danach großartig fühlen, weil sie es den Betreffenden ja so richtig schön zeigen werden.

Die Serie sagt von sich, dass sie jungen Menschen helfen soll. Aber sie verbreitet ein ekelhaftes Bild von Opfern, statt auf vorbeugende Maßnahmen zu verweisen und zu zeigen, dass Suizid erstens keine Lösung ist und zweitens nur die Schuld der Person, die sich umbringt. Schon in den Anfängen der Serie wird Hannah von einer Jugendlichen, die keinen Ausweg wusste, zur Antagonistin, die die Schuld allen anderen zuschiebt. Und das, obwohl sie eigentlich wirklich Opfer war.

Online wird die Serie als „Teenie Drama“ abgestempelt. Doch dies passt schon lange nicht mehr. Dass das Buch für Jugendliche ist, ist keine Frage. Die Serie jedoch greift weiter um sich und zieht auch Erwachsene in den Bann. Im Internet wird darüber diskutiert, ob sie denn nun hilfreich und wichtig, oder toxisch und gefährlich sei. Besonders Betroffene sprechen sich gegen diese Darstellung von psychischer Krankheit und Suizid aus. Caro von timeandtea hat eine tolle Liste, der Probleme erstellt, Marit Blossey hat für das Online-Magazin Mit Vergnügen einen Artikel über die Gefahren der Serie geschrieben und sogar der Spiegel sieht die dramaturgische und romantisierte Darstellung von Suizid kritisch, so schrieb Marc Pitzke Anfang des Jahres.

Trotzdem wird die Serie angeschaut und erreicht jeden Tag mehr Popularität. Aber warum ist das so? Wieso interessieren wir uns so dafür, einem jungen Mädchen faktisch dabei zuzuschauen, wie ihr Leben zerstört wird?

Die Antwort findet sich in unserer Psyche. Es ist bekannt, dass viele Menschen sich von Grauen angezogen fühlen. Schon im antiken Griechenland wurde Grauen auf der Bühne dargestellt, um den Zuschauer*innen so Erleichterung über ihre ‚niederen‘ Gefühle zu verschaffen. Eine Praxis, die von Schiller 2000 Jahre später noch immer angewendet und verfeinert wurde. Wieso ist es in diesem Fall problematisch, wenn Darstellungen von Grauen und Leid schon seit tausenden von Jahren in der Literaturwelt auftreten und durchaus eine Daseinsberechtigung haben?

Das Problem, das ich auch oben schon angerissen habe, ist, dass auf solche populären und romantisierten Darstellungen der sogenannte Werther-Effekt folgt. Junge Menschen sehen, wie sich ein Mädchen aufgrund von Mobbing umbringt. Ihr Leben wird tragisch und doch vorbildhaft präsentiert, ihr Leiden ausgeschlachtet. Sie verfolgen ihre Reise mit, sehen sich in ihr und ahmen nach. So wie ich auch mal dasaß und mir überlegte, wie meine Liste wohl aussehen würde. In der Serie sucht sich Hannah nie wirklich professionelle Hilfe und so wird dies auch keine Option derer, die zuschauen. Ihre Hilflosigkeit wird zur Hilflosigkeit der Zuschauer*innen.

Ähnliches ließ sich beim Namensgeber, dem Werther aus Goethes Die Leides des jungen Werther (1774), aber auch bei jüngeren Todesfällen wie dem von Kurt Cobain (1994) beobachten.

Dabei muss die Darstellung von Suizid nicht toxisch sein und auch aus einem realen Todesfall, kann mehr als nur Tragödie und Drang zur Nachahmung werden. Das beste Beispiel hierfür bietet Chester Bennington. Der Sänger der Band Linkin Park beging Ende Juli 2017 Suizid. Was folgte, war eine Welle aus Trauer – und Positivität. Fans, Teile seiner Band und andere Bands sowie Leute, die sich nie wirklich für die Musik interessierten, aber dennoch helfen wollten, schlossen sich zusammen gegen Suizid und für Hilfe. Sein Tod wurde nicht romantisiert als Liebesakt, Verzweiflungstat oder krasses Ende einer stressigen Musikkarriere.

Bennington wurde zum Symbol für das Hilfesuchen und offen über Probleme sprechen. So wie es eigentlich sein sollte. Gerade heute, kann man sich dank Internet schnell und anonym jederzeit über Hilfe informieren und in ganz dringenden Fällen auf Seiten wie 7CupsOfTea mit Menschen sprechen. Unter dem Hashtag #MakeChesterProud wird auf Twitter auch heute noch, über ein Jahr nach seinem Tod, für das Hilfesuchen plädiert.

Unser Umgang mit Suizid in den Medien sollte mehr so sein, wie der der Linkin Park Fans. Wir sollten für das Hilfesuchen Werbung machen, statt die verzweifelte Tat einer Jugendlichen unreflektiert auf die Welt loszulassen und uns dafür auf die Schulter zu klopfen.

Heute ist Welttag der Suizidprävention (World Suicide Prevention Day #WSPD). Ich und einige andere Blogger*innen haben uns zusammengeschlossen, um euch heute und in den nächsten Tagen Beiträge zum Thema zu liefern. Organisiert hat das die liebe Babsi von BlueSiren. Eine Sammlung zu allen Beiträgen findet ihr unter diesem Beitrag, ebenso wie auf Babsis Blog.

Bevor ich euch die anderen Links zusammenfasse hier eine Liste mit Hilfestellen. Falls du oder jemand aus deinem Umfeld darüber nachdenkt sich umzubringen, bitte wende dich an eine dieser Hilfestellen. Suizid ist keine Lösung, es gibt Hilfe für jede Lebenslage.

Telefon-Hotline (kostenfrei, 24 h), auch Auskunft über lokale Hilfsdienste:

0800 – 111 0 111

0800 – 111 0 333 (für Kinder / Jugendliche)

Deutsche Gesellschaft für Suizid-Prävention

Weißer Ring – Für Kriminalitätsopfer:

116 006 (kostenfrei, anonym und bundesweit erreichbar)


Andere Beiträge zum Thema findet ihr bei diesen BloggerInnen:

Babsi von BlueSiren

Laura von skepsiswerke

Nadine/Caytoh von Buchstabenmagie

Vivka von A Winter Story

Helen auf ihrem Youtubekanal Helen Fischer

Jenny von colored cube

Anna von Ravenclaw Library

 

Das Literaturcamp Heidelberg 2018 – ein Rückblick

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Das Literaturcamp Heidelberg 2018 – ein Rückblick


Wer mir auf Twitter folgt hat letztes Wochenende (16./17. Juni 2018) mitbekommen, dass ich auf dem diesjährigen Literaturcamp in Heidelberg unterwegs war.

Ich möchte euch natürlich auch ein bisschen berichten, wie es da so war, werde allerdings nicht auf die Sessions direkt eingehen, sondern eher auf das allgemeine Gefühl und die Dinge, die ich, mehr als die Inhalte der Sessions noch, mitgenommen habe.

Hier also der Bericht zum Event aus der Sicht eines Barcamp-Neulings.


Mein erstes Barcamp

Das Ticket hatte ich etwa eine Woche vorher durch Netgalley gewonnen und war dadurch ein wenig überrumpelt. Keine Fahrkarte, keine Unterkunft, kein Plan.

Ich twitterte meine Überrumpelung und hatte keine 30 Minuten später eine Unterkunft bei meiner wundervollen Kollegin Eva-Maria Obermann und eine Verabredung zu einer gemeinsamen Session mit Aurelia. Wir halten fest: das Netzwerk rund um das Litcamp ist einfach wundervoll.

Damit stand es fest, ich fahre aufs #Litcamp18 – mein erstes Barcamp.

Da ich freitags noch anderweitig eingespannt war und meine gute Freundin Sonia dazu überredet hatte, mit mir zum Camp zu fahren, ging es erst Samstagmorgen los – und wie es losging. Nämlich gar nicht, irgendwie.

Der Bus wollte nicht so wie wir und nach einigen Wutausbrüchen und Schimpftiraden gen Busunternehmen hatte Sonia uns schließlich einen anderen Weg organisiert nach Heidelberg zu kommen. Als wir endlich (gegen 11 Uhr morgens) am Dezernat 16 ankamen wurde mir erstmals so richtig bewusst, auf was ich mich da eingelassen hatte.

Überforderung und Einfindung

Ich stand mit Sonia am Rand und sah einen großen Raum mit Rund 200 Leuten darin, von denen ich bisher noch niemanden offline kannte. Es war, um es milde zu sagen, ernüchternd.

In solchen Momenten bin ich sehr froh eher extravertiert zu sein. Ist man schüchtern, kann ich mir gut vorstellen, dass man da Panik bekommen kann.

Zum Glück standen ein paar Camp-Helfer*innen bei der Anmeldung, die uns schnell auf der Liste abhakten und dann konnte es losgehen. Also theoretisch. Praktisch war ich froh, als ich Aurelia in der Schlange zur Sessionplanung entdeckte – sonst wäre ich erst mal still am Rand verweilt. Aber wir wollten ja eine Session halten. Also hallo sagen, kurz umarmen, sicher gehen, dass man auch die richtige Person angesprochen hat und dann warten, bis man dran ist.

Spoiler: Wir standen zu weit hinten. Also kurze Umplanung für eine Nachtsession, um den anderen den Vortritt zu lassen.

Jetzt bereits zu dritt warteten wir die Sessionplanung ab und stürmten dann zusammen mit dem halben Raum zum Planungsboard, um uns den Tagesplan zusammenzustellen.

Niemand kennt mich

Meine erste Session ging dann auch direkt los und so verkrümelte ich mich von meiner frisch gefundenen Gruppe und gesellte mich zu Benjamin Spang, dessen Session ich mir direkt anschauen wollte. Eine weitere ernüchternde Feststellung folgte auf den Fuß – niemand kennt mich. Online relativ bekannt, offline unbekannt und alleine. Ein seltsames Gefühl, vor allem wenn es scheint, als würden alle anderen sich schon seit Jahren kennen.

Egal, da muss ich jetzt durch! Nachdem man mit allen anderen Sessionteilnehmern die Twitternamen austauschte und sich gegenseitig gefolgt war, begann die Session und brachte mich auf andere Gedanken. Nach der Veranstaltung dann endlich ein bekanntes Gesicht, beziehungsweise ein bekannter Twittername, der einen auch erkennt. Danke an dieser Stelle an Claus, der mir das erste Mal Heimatgefühl auf dem Camp verschafft hat, in dem er mich erkannte und von dieser Stelle an immer wieder eine sichere Ansprechperson war, wenn ich mich mal verloren in der Masse fühlte.

Mit mehr Selbstbewusstsein ging es nun also zurück in die Haupthalle und zielstrebig zur nächsten Person, von der ich mir erhoffte, dass sie mich auch kennt.

Und dann ging alles sehr schnell – binnen Minuten wurde ich von einer bekannten Person zur nächsten geleitet, bis mir klar wurde, dass ich jede*n auf diesem Barcamp irgendwoher kannte. Leute fragten über Twitter wo ich denn sei, weil sie mich schon gesucht hätten. Es wurde sehr viel umarmt und geplaudert. Grüße an dieser Stelle vor allem an Nora, Wiebke und Tanja! ♥

Beim Mittagessen wurde lustig miteinander geschwatzt, wonach es zur nächsten Session ging und bevor ich es mir versah, war ich mit einer Gruppe sehr netter Leute unterwegs in der epischen Quest Abendessen zu beschaffen. Danach ging es mit Aurelia zur Nachtsessionplanung.

(Sessionthemen: Twitterfanbase aufbauen, Jugendliche Leserschaft erreichen, Genres, Toxische Beziehungen als Lovetrope, Weltenbau mit Videospielen/PnP)

Worum es geht

Das war für mich der erste wirklich bleibende Eindruck des Litcamps: man findet sich wirklich schnell ein. Was am Anfang nach einer unfassbar großen Menschenmenge aussieht, wird rasch kleiner, bis man seine Onlinefamilie darin wiedererkennt. Man lacht, blödelt herum, knüpft neue Kontakte (meine persönliche Entdeckung des Camps ist ja Bianca, die eine meiner Lieblingssessions zum Thema Genre gehalten hat und ein wundervoller, erfrischender Mensch ist) und geht von Grüppchen zu Grüppchen, wird von jedem angelächelt und aufgenommen.

Der zweite bleibende Eindruck war der Respekt. Nicht nur, dass nichts gestohlen wurde und jede*r von jedem als gleichwertig angesehen wurde – auch die Tatsache, dass ich bei einer schwierigen Session eine Pause brauchte und komplett in Ruhe gelassen wurde. Wer auf dem Litcamp eine Pause braucht, bekommt sie auch.

Gleichzeitig wird man aber auch von der Freundschaftlichkeit übermannt, die in der Luft liegt. Menschen, die man eigentlich nur online kennt stehen auf einmal vor einem und es ist, als wäre man seit Jahren befreundet. Ob es nun die lieben Kolleginnen vom Nornennetz, meine Geschichtsschwestern im Geiste Aurelia und Francis, die großartige Joy und der fantastische Karl-Heinz Zimmer – ich hatte zu allen Zeiten nette, wundervolle Menschen um mich herum.

Zurück zum Thema, bevor ich hier wieder den Litcampblues in mir selber wecke (zu spät, aber egal).

Die Nachtsession

Nachdem wir ein bisschen überrumpelt von dem Interesse an unserer Session waren, bemerkten Aurelia und ich, dass wir dabei gestreamt werden. Na klasse. Wir richteten also unsere Folien, machten uns bereit und dann ging es los.

Ich stotterte die ersten zehn Minuten unprofessionell in die Kamera, während Aurelia seelenruhig neben mir über Jamie Lannister herzog und dann kamen die ersten Lacher aus dem Publikum und alles wurde ganz leicht. Das ist auch ein Teil des Litcamps: zu lernen, dass man keine Angst vor den Menschen im eigenen Publikum haben muss. Sie sind da, weil sie sich für die Session interessieren und man kann eigentlich nicht wirklich was falsch machen. Es ist ein Barcamp – so lange alle Spaß haben, läuft es.

Rund 15 Personen hörten uns anfangs dabei zu, wie wir über das Mittelalter und die Klischees aufregten und unsere Fachgebiete humoristisch gegeneinander ausspielten.

Im Hintergrund gab es Waffeln, was immer mehr Leute dazu bewegte, uns zuzuhören. Am Ende waren es etwa 30 Menschen, die uns applaudierten, bevor wir von Komplimenten quasi erdrückt wurden. Ein komisches Gefühl, was bis heute nicht ganz bei mir angekommen ist. Man erzählt was über Kleidung im 14. Jahrhundert und Leute sind super interessiert, hören zu, stellen fragen und finden das Ganze am Ende gut. Das hat man als Historikerin nicht oft, weswegen der Abend dementsprechend beschwingt endete.

Zuhause bei Eva durfte ich dann Katzen kuschelnd ein paar Stunden Schlaf aufholen, bevor es am nächsten Morgen direkt wieder nach Heidelberg ging.

Der zweite Tag

Nach dem anfänglichen Chaos wurde während dem ersten Sessionspot spontan eine zweite Session von Historikerinnenduo geplant, die wir vorstellten und diesmal in einem kleineren Raum (der dementsprechend voll war) halten durften. Dieses Mal ging es um Burgen und wieder war ich von der positiven Rückmeldung komplett erschlagen.

Besonderen Dank an dieser Stelle an die Menschen, die über uns getwittert haben. Sprüche wie „Ziegen sind Arschlöcher“, „Niederadel war das GZSZ des Mittelalters“ und „Niemand mag Franken“ habe ich heute noch in der Timeline und ich muss jedes Mal darüber lachen.

Ebenfalls ein Highlight war es, als jemand meinte, man komme nicht mehr mit dem twittern hinterher. Ich persönlich sehe das als eines der größten Komplimente, die man auf einem Barcamp während eines humoristischen Vortrages bekommen kann.

(Sessions, die ich am Sonntag besucht habe: Sicherheit für Blogs, Regeln brechen)

Tja und dann war das Litcamp vorbei. Das heißt, irgendwie auch nicht. Denn während die meisten nach der ersten Aufräumwelle gingen, blieb ich mit dem harten Kern der Saubermach-Mannschaft zurück und konnte für zwei weitere Stunden den Spaß, die Gespräche und die komplette Atmosphäre genießen, während wir das Litcamp in Kisten und ein sehr volles Auto packten.

Es ist ein seltsames Gefühl, wenn das Aufräumen fast mehr Spaß macht, als der Rest. Aber dadurch, dass es nun weniger Menschen waren und man im Gegenteil zum restlichen Camp auch mal wirklich längere Zeit mit denselben Leuten verbrachte, war es viel entspannter.

Zum Abschluss ging es mit ein paar sehr großartigen Menschen Pizza essen (hier das obligatorische Beweisfoto), ich wurde zur Haltestelle gebracht und dann war ich auch schon auf dem Heimweg. Im Herzen noch in Heidelberg, in der Realität in einem sehr stickigen Bus.

Fazit

Das Litcamp ist nichts für alle. Ich weiß, dass man das oft hört, aber das Camp kann wirklich sehr erdrückend sein und der schnelle Wechsel zwischen Sessions, Personengruppen und dem allgemeinen Stress hinterlässt Spuren.

Ich persönlich nehme mir fürs nächste Camp vor, mehr bei einer Personengruppe zu bleiben und nicht dauerhaft durch das Gelände zu rennen, um auch ja alle Leute zu treffen. Es sind nur zwei Tage, in denen man schon genug beansprucht wird.

Wenn also jemand nicht hin möchte, kann ich das bestens verstehen. Falls ihr jedoch überlegt, ob es etwas für euch ist und ihr euch entscheidet hinzugehen, erwartet euch ein Wochenende voller netter Menschen, neuer Erfahrung und wirklich sehr gutem Essen.

Ansonsten möchte ich mich bei denen bedanken, bis zum Ende mit aufgeräumt haben. Besonders natürlich bei Teilen des Orgateams, die ich in diesen letzten paar Stunden richtig kennenlernen durfte. Ihr habt mir nochmal gezeigt, dass es nicht nur darum geht alle Leute zu treffen, Selfies zu machen, zu netzwerken und sich von Session zu Session zu jagen.

Es geht beim Litcamp vor allem darum Spaß mit netten Menschen zu haben und sich über Themen zu unterhalten, die einen begeistern. Alles andere kommt von selbst.

Aber das ist, denke ich, etwas, was jede*r beim ersten Barcamp lernt.

 

Psychiatriestigmen in unserer Gesellschaft

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Psychiatriestigmen in unserer Gesellschaft


TW: Mentale Gesundheit, politisch fragwürdige Wortwahl zur Illustration des Problems


Hallo und herzlich willkommen im Büchnerwald. Heute möchte ich mit euch über ein wichtiges Thema sprechen: den Stigmen gegenüber Psychiatrien, die wir auch im Jahr 2018 noch haben.

Was sind die Stigmen?

Wenn wir heute in Büchern, Serien, Filmen oder im Alltag über Psychiatrien sprechen, dominieren oft Horrorvorstellungen. Leblose Menschen in Stühlen, ‚irres‘ Lachen, Gefahr und Schmutz und kalte Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, die die Patient*innen unheimlich finden oder selber böse sind.

Eingewiesene Menschen sind der trockene Witz am Ende. Sie werden entweder als extrem hilfsbedürftig oder als gefährlich betrachtet. Die armen dummen „Irren“, die sich nicht wehren können und die „Gestörten“, von denen man froh ist, dass sie weggesperrt sind.

Woher kommen diese Stigmen?

Gerade wenn man sich die Popkultur ansieht, wird der Appeal of Horror deutlich. Wir wollen abstoßende Geschichten über kranke Personen, wir schauen uns Filme wie Gothika und Serien wie American Horror Story an. Und wir adaptieren die Darstellungen für uns.

Dabei sind diese Vorstellungen schon so in unserem Kopf und werden durch diese Medien bestärkt. Einer flog übers Kuckucksnest, American Psycho, Supernatural, Alice im Wunderland, Psycho, The Shining, Lucius – egal ob Bücher, Musik, Theater, Spiel oder Film/Serie. Unsere Vorstellung von psychischen Krankheiten und Psychiatrien ist – um ehrlich zu sein – extrem verzerrt.

Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich selbst Stereotypen über diese Dinge in der Popkultur konsumiere, ohne sie zu kritisieren. Eben weil Menschen es interessant finden, mit Horror konfrontiert zu werden. Und was ist schon aufregender, abstoßender und interessanter als Horrorgeschichten über Anstalten?

Zumal nicht alle Medien es so schlecht machen. Klar perpetuiert American Horror Story gewisse Stereotypen, es gibt jedoch ein gutes Bild über den Status unseres Gesundheitssystems in den 50er/60ern ab. Wir haben eine ekelhafte Geschichte, wenn es darum geht Menschen wegzusperren.

Homosexualität, körperliche/mentale Einschränkung, die falsche Religion, Hautfarbe, Abstammung oder Einstellung – auch nach dem Nationalsozialismus haben wir nicht aufgehört, Menschen zu Unrecht einzuweisen und sie dann zu ignorieren. Machtausübung der Heime und allgemeines Desinteresse der Öffentlichkeit resultierten in furchtbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Aber wir befinden uns nicht mehr in den 60ern. Unsere dauerhaft rückblickende Sichtweise auf diese Thematik stört uns, die Dinge so zu sehen wie sie heute sind. Menschen, die sich Hilfe suchen brauchen die Unterstützung der Gesellschaft.

Wem schaden die Stigmen?

Und da sind wir schon beim wichtigsten Punkt: Wem schadet das eigentlich? Die Antwort ist einfach und kompliziert zu gleich, denn diese Stereotypen schaden uns allen.

Sich selbst einzugestehen, dass man Hilfe benötigt und die Realisation, dass Therapie etwas Gutes ist, sind wichtige Schritte für viele Menschen. Es gibt noch immer so viel Ableismus und Ageismus in der alltäglichen Sprache. So viele Stigmen, so viel Hass und Unverständnis. Erst wenn wir all das hinter uns lassen erhalten wir eine Gesellschaft, in der man sich nicht dafür schämt, Hilfe zu benötigen. Mobbing und Vorurteile bei Jobinterviews sind alltägliche Vorkommnisse für manche. Aktionen, in denen sich über Kliniken lustig gemacht wird, bestärken das.

Sie verharmlosen aber auch das Leider derer, die früher wirklich gelitten haben. Wenn man heutige Institutionen für mentale Gesundheit mit Anstalten aus den 60ern gleichsetzt, was sagt das dann über die Menschen aus, die früher tatsächlich gegen ihren Willen eingesperrt wurden? Und was sagt man damit über moderne Einrichtungen, die sich darauf konzentrieren Menschen zu helfen? Und über diejenigen, die einen sehr harten Job bewältigen, um anderen zu ermöglichen, ein besseres Leben zu leben.

Haha! Lass dich für eine Nacht in eine Anstalt sperren und gewinne ein Buch lol! Richtig unterhaltsam!

Sebastian Fitzek machte 2018 Schlagzeilen mit seiner Werbung für sein Buch „Der Insasse“. Es gab ein Preisausschreiben, in dem eine Nacht in einer Anstalt verlost wurde. Dieser Umgang mit dem Thema illustriert genau das Problem, was ich in diesem Artikel anspreche. Sein Buch weist zudem mehrere Recherchefehler auf. Wenn man als Autor schon Horror in einer psychiatrischen Einrichtung umsetzen möchte, dann doch bitte in der richtigen Zeit und korrekt recherchiert. Bilder von Lobotomien und Zwangsbädern bei viel zu hohen Temperaturen haben nichts im 21. Jahrhundert zu suchen.

Die Realität

Warum ist mir das so wichtig, dass ich alles stehen und liegen lasse, um direkt einen Artikel darüber zu schreiben? Weil die Realität anders aussieht, als das, was sich die meisten Menschen darunter vorstellen. Menschen weisen sich in der Regel selbst ein, der Aufenthalt ist zeitlich beschränkt (es gibt natürlich Ausnahmen, aber 2-3 Monate sind ein guter Grundwert) und das Wichtigste: Kliniken sind in erster Linie ein sicherer Ort, an dem Menschen loslassen können, um wirklich in Kontakt mit ihrer Krankheit zu kommen und Techniken zu lernen, im Alltag mit ihr klarzukommen. Eine Klinik ist keine Endlösung oder ein Ort, an den man einfach abgeschoben werden kann.

Ich selbst war als Kind (genauer, als ich 12 war) in einer psychiatrischen Klinik. Die Umstände, wie ich dazu gekommen bin, sind hier unwichtig. Die Erfahrung an sich ist so viel mehr, als nur gut oder nur schlecht.

Als Kind hat man keine Kontrolle darüber, ob man dort sein möchte oder nicht. Deswegen kam ich mir am Anfang furchtbar alleine vor. Besuchszeiten tun weh, weil man gerade als junger Mensch mehr Kontakt mit der Familie braucht, als 2-3h die Woche. Die Bettzeiten und starken Beschränkungen (man muss sich Privilegien wie Spielzeiten im Garten oder Besuche in nahegelegenen Supermärkten verdienen) sind ebenfalls gewöhnungsbedürftig.

Für mich war es allerdings eine wichtige Erfahrung. Mit anderen Menschen zusammen zu sein, die ebenfalls Depressionen und soziale Ängste haben, tut so gut. Man wird von niemandem verurteilt. Es gibt reguläre Therapiestunden mit einer Psychologin, Gruppentherapie, die alles sein kann (von im Kreis sitzen und miteinander sprechen zu einem Besuch in der Kletterhalle), Kunsttherapie, Massagetherapie und Musiktherapie.

Mir wurde außerdem ermöglicht zu schreiben. Talente fördern, Selbstbewusstsein aufbauen, lernen das man nicht seltsam ist, sondern einfach man selbst. Lernen, wie man damit umgeht, dass es einem manchmal nicht gut geht und das es okay ist, anderen Menschen die eignen Grenzen mitzuteilen.

Ich war für 2 ½ Monate dort und habe so viel mitgenommen, was ich noch heute in mir sehe. Die Erfahrung hat mir so geholfen und trotzdem musste ich mir von Klassenkameraden Sprüche anhören. Sehr schlimme Sprüche. Ich war der „Psycho“ und „Weirdo“ und alles, was ich mir in der Zeit in der Klinik erarbeitet habe, ging wieder kaputt. Weil diese Kinder lernen, dass „Irrenhäuser“, „Klapsen“ und „Klapsmühlen“ gruselige Orte sind für Menschen, die gefährlich und seltsam sind und keinen Platz in der Gesellschaft haben.

Das kann so nicht weitergehen

Wann sind wir endlich an einem Punkt angekommen, an dem psychische Krankheiten in unserer Gesellschaft nicht entweder nonexistent oder extrem negativ besetzt sind? Wann kommt der Punkt, an dem Menschen sich nicht mehr dafür schämen müssen, Hilfe zu brauchen, um mit sich selbst klar zu kommen?

Wir müssen zu diesem Punkt kommen, und zwar schnell. Denn jeder Tag, der vergeht, an dem ein Kind für die Therapie gemobbt wird oder an dem sich jemand gegen einen Klinikaufenthalt entscheidet, weil die Person Angst vor dem Backlash hat, ist einer zu viel.

Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der sich Hilfe suchen etwas Gutes ist und in der sich nicht darüber lustig gemacht wird, in dem man so tut, als wären Kliniken der selber Horror, der sie vor 80 Jahren waren.

Hanover’s Blind – Minderheiten im Spotlight. Ein Gespräch mit der Autorin Kia Kahawa.

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Hanover’s Blind – Minderheiten im Spotlight. Ein Gespräch mit der Autorin Kia Kahawa.


TW: Sexualität, körperliche Einschränkung


Hallo und herzlich willkommen im Büchnerwald!

Heute gibt es einen etwas anderen Beitrag als sonst. Es geht um ein Thema, welches hier auf dem Blog schon häufiger Beachtung gefunden hat: den Umgang mit nicht-heterosexuellen Beziehungen im Schreiben. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich mich in diesem Rahmen mit meiner lieben Kollegin Kia Kahawa unterhalten konnte. Das Resultat ist ein unverfängliches Gespräch über das Thema und Kias Umgang damit in ihrer Novelle Hanover’s Blind, die derzeit mittels Crowdfunding finanziert werden soll.


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[Foto © Kia Kahawa, Coverdesign: Esther/LaKirana]


Kia Kahawa

Wer Kia noch nicht kennt: Sie ist eine Autorin, die sowohl bei Verlagen, als auch durch Selfpublishing veröffentlicht, engagiert sich beim Bundesverband junger Autorinnen und Autoren und formt durch Projekte wie den Autorenstammtisch Hannover oder ihre Steuertipps (Autoren an die Steuer) die Autor*innen-Community mit.

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[Foto © Lily Wildfire]


Das Gespräch

Erstmal hallo an dich Kia, und danke, dass du dich darüber mit mir austauschen möchtest. Wie du sicher weißt, bin ich starke Advokatin dafür, dass man mehr gut recherchierte Geschichten über Minderheiten benötigt. Daher die wichtigste Frage zuerst: Wie kommt es, dass du dich mit der Thematik in deinem neuen Roman auseinandergesetzt hast? Hast du vorher schon mal mit dem Gedanken gespielt, über diese Dinge zu schreiben?

Hi Michelle! Danke, dass wir dieses Gespräch führen können. Ich glaube, das wird sehr spannend. Gerade wegen deiner Prämisse, dass wir mehr gut recherchierte Geschichten über Minderheiten brauchen und deiner Frage, die folgende Antwort von mir bekommt: Nein, ich habe nie mit dem Gedanken gespielt, über Nicht-Heterosexualität zu schreiben. Minderheiten schon; denn ich schreibe im Bereich der Entwicklungsromane über Menschen, die sich wegen einer psychischen oder physischen Krankheit selbst im Weg stehen. In Hanover’s Blind geht es um Adam, einen Sehbehinderten, der ein Leben auf eigenen Beinen aufbauen will und sich nicht mit dem geringsten Übel abfinden möchte. Dass Adam im Laufe von Hanover’s Blind eine schwule Beziehung eingeht, ist tatsächlich einfach so passiert.

Ich mag das Setup! Es werden leider kaum Minderheiten miteinander kombiniert. Man liest oft von Homosexualität/Bisexualität oder Behinderung. Dabei gibt es da natürlich viele Überschneidungen. Woher kam das? Dieser Impuls, über solch eine Thematik zu schreiben?

Die Idee zu Hanover’s Blind hatte ich, als ich im Tanzkurs Probleme hatte, da ich als dominante Frau mit zehn Jahren Tanzerfahrung meinen Partner geführt habe. Aber der Mann führt. Ich habe also gegen seine Intentionen geführt und so waren wir ein furchtbar schlechtes Tanzpaar. In einer Privatstunde wollten wir das Problem lösen und die Tanzlehrerin hat mich dazu gebracht, blind zu tanzen. Plötzlich hat alles funktioniert. Ich habe nichts gesehen und war gezwungen, meinem Partner voll zu vertrauen. Das endete zwar manchmal in einem kleinen Unfall, weil wir im normalen Tanzkurs viele Paare auf engem Raum sind und mein Partner schnell überfordert war, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls stand für mich zu diesem Zeitpunkt Folgendes fest:

  • Adam ist mein Protagonist
  • Er soll blind tanzen und dadurch einen Vorteil seiner Behinderung herausfinden
  • Das Ding soll Hanover’s Blind heißen.

Ja. So geschah es, dass mein Protagonist sich in einen Mann verliebt. Das ist einfacher, als Adam im Nachhinein weiblich zu machen oder den Tanzlehrer in eine Tanzlehrerin zu verwandeln, die dann aus welchen Gründen auch immer führt – das wäre beides nicht mehr die Geschichte gewesen, die einfach raus wollte. Und das unterstreicht auch schon meine Meinung zu Homo-, Bi-, Trans- oder Asexualität: Sie sollte scheißegal sein. Ich möchte, dass Sexualität eine Nebensache ist.

Hast du bei all dem manchmal Angst, etwas falsch darzustellen? Ich stelle es mir sehr kompliziert vor, über einen blinden, bisexuellen Mann zu schreiben, wenn man nicht alle Kriterien selber erfüllt. Wie hast du da recherchiert?

Ich hatte extreme Angst, etwas falsch zu machen. In der Belletristik darf natürlich manches erfunden sein, aber ich stelle Hannover detailgetreu dar und zeige alles aus Adams Sicht. Da habe ich auch einige Fehler eingebaut. Zum Beispiel hat Adam im ersten Kapitel eine korpulente Frau angesprochen. Woher soll er wissen, dass sie korpulent ist, wenn er sie nicht berührt?

Die Recherchen habe ich dann schließlich im echten Leben gemacht. Über seine Erkrankung und die Art, wie er die Welt wahrnimmt, habe ich zunächst mit bekannten Sehbehinderten gesprochen. Dann ist da noch Carolin Summer zu erwähnen. Sie ist eine Autorenkollegin von mir und hat die gleiche Krankheit wie mein Protagonist. Daher hat sie als Alphaleserin das gesamte Buch auf Herz und Nieren geprüft.

Das finde ich absolut großartig! Ich finde es sehr wichtig, dass man das eigene Schreiben kritisch reflektiert und bei Fehlern nicht abblockt, sondern offen ist und versucht es besser umzusetzen. Ist Adam eigentlich von Geburt an blind?

Hui, danke für die Blumen! Kritik ist unendlich wichtig für mich, da ich auch in meinem allgemeinen Autorenleben außerhalb dieses einen Projekts gerade auf Kritik angewiesen bin.

Und nein. Adam ist gar nicht blind. Er hat Optikusatrophie. Als Kind hat sich das herausgestellt. Sein Sehnerv bildet sich zurück und er verliert immer mehr Sehkraft. Als blind bezeichnet man einen Sehbehinderten erst, wenn er nur noch 2 % oder weniger Restsehschärfe hat. Adam ist bei ca. 10 %, nimmt also noch verschwommen Lichtverhältnisse wahr. Das erklärt er in Hanover’s Blind recht charmant damit, dass es ihm nicht egal ist, ob in einem Raum das Licht an oder aus ist. Ausgesucht habe ich mir diese Krankheit, damit die Geschichte realistisch bleibt. Er hat eine Vorstellung von Längen und Abständen, von Räumen und Richtungen. Das ist unter anderem auf eine Vergangenheit mit funktionierenden Augen zurückzuführen.

In der Grundschule musste Adam schon mit einem Tafellesegerät arbeiten. Zum zehnten Geburtstag kam dann der Blindenstock. Ab da war er nicht mehr der Coole mit der Tafelkamera, sondern der Behinderte mit dem Stock. Gerade im Kindesalter ist so eine Erkrankung natürlich prägend, was Adams Motivation, seine Sehbehinderung zu verstecken, erst ins Rollen bringt. Denn in der Novelle will Adam nicht wie ein Behinderter behandelt werden. Leider ist er der Meinung, dass er zu behindert ist, um geliebt zu werden.

Zu behindert, um geliebt zu werden“, ist eine Aussage die ich beides, poetisch und furchtbar finde. Eine Erkrankung im Kindesalter kann sich, meiner Meinung und Erfahrung nach, aber auch positiv auswirken. Ich kenne einige Menschen, die schon früh beeinträchtigt waren und damit besser klarkommen, als die, die erst im Erwachsenenalter damit konfrontiert wurden.

Wie ich es beobachtet habe, stammt das daher, da Kinder noch nicht dieses Ich-bin-besser-als-du-weil-X-Gefühl haben, bzw. weniger Stereotypen und Ängste bezüglich Behinderungen haben. Ich bin Dank meinem Vater, der in der Krankenmedizin tätig war, mit Behinderungen um mich groß geworden und habe dementsprechend heute viel weniger Vorbehalte als Leute die ‚behütet‘ aufwuchsen.

Trotzdem erwische ich mich manchmal dabei, dass ich unsensible Dinge denke oder sogar sage. Passiert dir das auch? Wie gehst du damit um?

Tatsächlich habe ich auch das Problem. Ein Autorenkollege von mir hat sich mal derart die Beine gebrochen, dass er temporär im Rollstuhl saß. Er wurde teils behandelt, als käme er nicht alleine zurecht. Das finde ich furchtbar und absurd. So behandele ich keine anderen Menschen und ich bin immer auch gedanklich ‚auf Augenhöhe‘. Aber gerade bei Sehbehinderten habe ich oft Angst, sie kennenzulernen. Ich habe ein gewisses Hemmnis, das mir sagt, diese Leute wollen nicht angesprochen werden. Als würde jeder, der nicht der Norm entspricht, am liebsten unsichtbar sein. Da schließe ich vielleicht von mir auf andere. Insofern war Hanover’s Blind vielleicht auch ein Stück weit Selbsttherapie, ein Schritt in die richtige Richtung. Das rührt meiner Meinung nach hauptsächlich daher, dass ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Wann Leute offen sind, wann sie mit etwas humorvoll umgehen und wann man sie verletzen kann. Aber generell unsensible Dinge – die denke ich entweder nie oder immer. Ich schätze, da fehlt mir noch das feinfühlige Bewusstsein für meine Gedanken.

Was würdest du dir wünschen, wenn man dich nach einer ‚perfekten Zukunft‘ fragt, in der der Umgang mit Minderheiten ideal wäre?

Ich fände es toll, wenn es keine Minderheiten mehr gäbe, wenn es ein großes Ganzes gäbe. Aber das halte ich für utopisch. Es wird immer unsichtbare Grenzen geben, Scheu vor dem, was man nicht kennt und mehr oder weniger unfreiwillige Unsensibilität anderen gegenüber. Ich halte das so wie mit Ernährung, Müllvermeidung oder Solidarität: Jeder sollte irgendwo die Welt ein Stück weit besser machen. In keiner Kategorie bin ich perfekt oder maximal optimiert, wie man es auch nennen mag. Aber ich bin allen Menschen gegenüber offen und bemühe mich um ein waches Auge im Alltag. In einer realistischen perfekten Zukunft hat jeder wenigstens Rücksicht für seine Mitmenschen. Das würde ich mir wünschen und versuche, es durch meine eigene Lebensgestaltung umzusetzen.

Ich glaube ja auch nicht daran, dass man einfach davon ausgehen kann, dass wir alle gleich zu behandeln sind. Unsere Gesellschaft profitiert von Vielfalt und es wäre großartig, wenn Menschen dies so wahrnehmen würden. Dennoch sind Minderheiten noch immer Minderheiten und der Umgang sollte dem entsprechen. Wir haben eine furchtbare Vergangenheit im Umgang mit Sexualitäten (die nicht hetero sind), Behinderungen, Geschlechtern (die nicht männlich sind) und Hautfarben (die nicht weiß sind). Das darf man nicht einfach so ignorieren.

Ich würde mir wünschen, dass man alle Menschen als Menschen behandelt, diese Hintergründe jedoch nicht verdrängt. Es wäre, meiner Meinung nach, schlichtweg respektlos, einfach so zu tun, als hätten wir sie die letzten Jahrhunderte nicht so behandelt, wie wir es nun einmal getan haben.

Das wäre schön, ja. Aber da muss man unbedingt auf die Mittel und Wege achten. Ich halte beispielsweise nichts von reinen Frauenvereinigungen. Du siehst das anders, ich weiß, aber mir liegt es am Herzen, dass das Wort ‚Minderheit‘ irgendwann verschwindet. Ich würde gerne wissen, wie ich mit einem Behinderten umgehen soll. Aber den gibt es nicht – den Sprecher für alle Behinderten. So wie es auch keine Sprecherin aller Frauen oder Feministinnen gibt. Jeder hat unterschiedliche Meinungen und Hintergründe. Und ich glaube, genau da werden die Berührungsängste vorerst bestehen bleiben. Das ist sehr schade. Das Thema behandelt auch meine Novelle. Nur eben andersherum: Hier hat der Behinderte Ängste vor den Berührungsängsten anderer, die gar nicht existieren. Ich möchte ein Stück weit beleuchten, dass jeder Mensch eine Geschichte hat und dass die meisten von ihnen es wert sind, gehört zu werden.

Das ist ein gutes Schlusswort. Ich danke dir, für dieses Gespräch auf Augenhöhe.

Danke dir. Ein friedlicher Austausch über so wichtige Themen ist mir sehr wichtig!

Das Crowdfunding

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[Foto © Kia Kahawa]


Ihr könnt Kia und ihre Novelle noch bis zum 10.07.2018 unterstützen. Infos, Dankeschöns und den Trailer zum Buch, sowie die Möglichkeit mitzuhelfen findet ihr auf der Crowdfunding-Seite.

Der Trailer dort wurde von Micha Feuer eingesprochen und nachbearbeitet.

Hanover’s Blind wird voraussichtlich im September veröffentlicht, hier könnt ihr bereits jetzt in die Leseprobe reinschnuppern!

Update

Das Projekt wurde erfolgreich umgesetzt. Ihr könnt Hanover’s Blind hier kaufen.

Die Blogtour

Dieser Beitrag ist Teil einer Blogtour im Rahmen des Crowdfundings von Hanover’s Blind, es erscheinen in regelmäßigen Abständen Beiträge von anderen tollen BloggerInnen, die Kia und ihr Projekt unterstützen möchten.

  • Am 1.06 gab es ein Cover-Reveal. Das wunderschöne Cover hat Esther/LaKirana gestaltet.
  • Lisa, von Lisas Bücherleben, hat am 4.06 über den Protagonisten Adam geschrieben.
  • Emma vom Ge(h)schichten-Blog hat am 7.06 Kia zum Thema Sehbehinderung interviewt.

Über die nächsten Wochen folgen Beiträge von weiteren tollen Menschen. Für Updates schaut doch auf Kias Twitteraccount oder ihrer Webseite (beides oben verlinkt) vorbei.

  • Der nächsten Artikel stammt von Margret Kindermann und wird am 13.06 auf ihrem Blog erscheinen.

Beitragsbild © Kia Kahawa

Als Autor*in darf ich alles – Stimmt das?

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Als Autor*in darf ich alles – Stimmt das?


Tw: Zahreiche Minderheiten, Umgang mit Sexualitäten, politisch fragwürdige Sprache zur Darstellung des Problems


Disclaimer: In diesem Text wird über Minderheiten im Generellen, also auch den Umgang mit diversen Kulturen, Hautfarben, Behinderungen, Sexualitäten und Identitäten gesprochen. Ich selbst habe europäische Features, bin cis und weitestgehend ablebodied. Sollte also trotz meiner Recherche ein Fehler im Umgang mit einer Minderheit, von der ich nicht betroffen bin, auftauchen, bitte ich um Korrektur.


In diesem Beitrag soll es um Minderheiten in der Literatur gehen. Besser gesagt über Own-Voice-Literatur versus keine Own-Voice-Literatur und die Gründe, warum man darüber überhaupt so stark diskutieren kann.

Was darf man als Autor*in?

Allein von der Formulierung ausgehend, ist klar, dass man theoretisch alles darf. Klar, wer will einen schon aufhalten? Die Frage ist also eher, wie man als Autor*in mit gewissen Themen umgehen sollte.

Ein Teil dieser Kontroverse ist der Umgang mit Minderheiten. Wie sollte man als Autor*in mit Minderheiten in den eigenen Büchern umgehen, wenn man selber kein Teil dieser Minderheiten ist? Ein Buch, in dem alle weiß, jugendlich, gesund, cis hetero und im Extremfall männlich sind, wird früher oder später Kritik dafür ernten, dass es nicht inklusiv ist.

Man darf das natürlich trotzdem schreiben (und viele tun es auch), aber es ist klar, dass Leute sich die Frage stellen, wieso man keine Minderheiten einbaut.

Was ist nun aber mit Autor*innen, die aus der Sicht einer Minderheit schreiben, der sie selbst nicht angehören und dann von besagter Minderheit kritisiert wird? Widerspricht sich das nicht, mit der Bitte nach Inklusion?

Die zwei Lager

Die einen sagen, dass Phantastik, bzw. Literatur allgemein, nicht realistisch sein muss. Die kreative Freiheit erlaubt es einem, Dinge zu erfinden und drehen wie man möchte. Gerade Bücher über männlich-homosexuelle Romanzen verkaufen sich extrem gut. Es ergibt also Sinn, dass Autor*innen das schreiben.


Wer mehr über die Probleme von Gayromance und überhaupt Gay als Genre lesen möchte, kann dies in diesem Beitrag tun: Wenn Heteros über Homos schreiben.


Hinzu kommt, dass ein Verbot, nicht nur lächerlich ist, sondern für manche auch Zensur gleichkommt. Ein erwachsener Mensch kann Bücher schreiben und veröffentlichen, wie er/sie/nb möchte.

Das ist auch alles richtig. Es gibt jedoch ein Problem mit der Sichtweise, dass man uneingeschränkt einfach über alles und jeden so schreiben darf, wie man möchte.

Denn was viele vergessen ist, dass die Minderheit, über die man schreibt, real existiert und das Geschriebene lesen kann. Es ist für diese Menschen offensichtlich verwirrend, wenn sie ein Buch über ihre Kultur oder Sexualität lesen und dann feststellen, dass absolut nichts davon stimmt.

Sex im Dunkeln und ein roter Hut

Stellt euch vor, man schreibt ein Buch über Deutsche und sagt darin, dass Deutsche nur Sex im Dunkeln haben und Samstags rote Hüte tragen. Da würden sich alle deutschen Leser fragen, woher das kommt. Wenn sie das dann kritisieren kommt die Antwort „ich darf schreiben, was ich will.“

Damit kommt man irgendwann klar und vergisst es nach einiger Zeit. Jetzt stellt ihr aber fest, dass der/die/nb Autor*in aus einem Land kommt, in dem 90 % der Bücher über Deutsche diese Informationen beinhalten.

Das geht so weit, dass ihr nicht mehr reisen könnt, ohne auf euren roten Hut angesprochen zu werden. Leute kommen auf euch zu und machen Witze, über den Sex, den ihr habt. Ohne euch wirklich zu kennen. Denn die Informationen, die in den Büchern vermittelt werden, sind so normalisiert, dass es als okay angesehen wird, jeden Deutschen auf private Details anzusprechen.

Was zunächst noch unwichtig und irgendwie witzig war, wird jetzt nervig und immer mehr zu einem Problem.

Generalisierung und Grenzen

So geht es Minderheiten. Manche ‚Fakten‘ werden generalisiert. Es haben sicher viele Deutsche nur Sex im Dunkeln, aber lange nicht alle. Zumal nicht nur Deutsche Sex im Dunkeln haben. Manche ‚Fakten‘ sind kompletter Blödsinn, wie das mit dem roten Hut.

Direkte Beispiele hierfür ist Scissoring. Irgendwie aus der Porno-Szene übernommen, nehmen viele Menschen an, dass nicht-heterosexuelle Frauen das machen. Was aber nicht der Fall ist.

Ich wurde mal von einer wildfremden Frau gefragt, wie ich trotz langer Fingernägel mit meiner damaligen Partnerin Sex habe. Sie hat irgendwo gelesen, dass alle Frauen in einer nicht-heterosexuellen Partnerschaft kurze Nägel haben müssen und war neugierig. Es schien normal für sie, mich über ein extrem privates Detail zu befragen, weil sie mich nicht als Person, sondern als Vertreter meiner Minderheit gesehen hat.


Ich nutze an dieser Stelle nur Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung, weil ich mich nicht wohlfühlen würde, über Stereotypen anderer Minderheiten zu schreiben. Etwas, was eine gute Freundin von mir, die aus Südafrika ist, furchtbar findet, ist der ‚alle schwarzen Frauen haben dieselbe Art von Haarstruktur‘-Stereotyp. Sie hat mir dann die Tabelle gezeigt, die von 1 zu 4C reichte und ich verstand, was sie meinte. (Link zum Verständnis


Die Aussage „ich darf alles, was ich möchte“ kommt mit den Privilegien, die man als Autor*in, der/die keiner Minderheit angehört, hat. Man darf über Minderheiten schreiben, wie man möchte, weil man von den Folgen nicht betroffen ist. Es kann einem egal sein, wenn Falschinformationen und Stereotypen die Runde machen.

Dann lieber gar keine Minderheiten?

Wie baut man also Minderheiten ein? Denn wie oben schon angesprochen, geht es auch nicht ohne. Schreibt man aus deren Sicht oder lässt man sie als Randfiguren stehen?

Wenn man sie als Nebenfiguren schreibt, gibt es oft die Gefahr, dass man sie als ewigen Sidekick oder Lückenfüller einsetzt. Ein guter Trick um sich davor zu schützen ist: gebt ihnen Charakter. Denn oft wird sich über Minderheiten-Sidekicks beschwert, die austauschbar sind.

Wenn ihr unbedingt aus der Sicht einer Minderheit schreiben wollt, ist eine Möglichkeit, das Hauptthema nicht um ein typisches Problem der Minderheit aufzubauen. Schreibt über eine lesbische Frau, wie ihr über eine heterosexuelle Frau schreiben würdet. Recherchiert, aber fokussiert euch nicht nur auf das Outing oder den Hass.

Recherche ist alles

Sprecht mit Leuten. Sucht euch Testleser, die euch auf Fehler hinweisen. Recherchiert und baut eure Figuren realistisch auf, auch wenn ihr phantastisch schreibt. Kämpft mit ihnen in epischen Schlachten, mietet eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Frankfurt (ein Kampf für sich) oder beschreibt ihren Tag im Finanzamt. Sprecht ihre Herkunft/Sexualität/etc an, macht sie aber nicht zum Zentrum eurer Geschichte.

Einen Drachen kann man sich komplett neu erfinden, weil es keine Drachen gibt. Ein schwuler Mann ist kein Drache. Die gibt es wirklich.

So gut ihr auch recherchiert und schreibt, ihr werdet den Problemen nicht gerecht. Einfach, weil ihr es nicht lebt. Ein gutes Beispiel ist Simon vs the homosapiens agenda. Die Autorin hat sehr gut recherchiert und trotzdem Blödsinn zum Outing geschrieben.

Own-Voice-Büchern nicht die Bühne stehlen

Dazu kommt, dass man über ein Thema schreibt, über welches tatsächlich Betroffene bereits geschrieben haben.

Own-Voice-Literatur, also Bücher von Minderheiten über sich selbst, werden auf dem Buchmarkt oft ignoriert, weil viele Autor*innen Bücher über das Thema schreiben, ohne betroffen zu sein. Sie gehen unter.

Von Außenstehenden geschriebene Bücher sind außerdem angenehmer zu lesen, da man sich in seinen Stereotypen bestätigt fühlt und als Leser*in nicht in Gefahr läuft, durch Own-Voice auf eigene Fehler hingewiesen zu werden.

Zurück zu Simon vs the homosapiens agenda – Leute lesen dieses Buch über ein Outing lieber, als ein realistisches Buch, in dem tatsächlich beschrieben wird, was passiert. Indem der Protagonist trotzdem Angst hat. Obwohl seine Familie ja eigentlich liberal ist. Und sich immer und immer wieder outen muss, statt einmal. Und sich regelmäßig in den Schlaf weint, weil er genau weiß, dass die eigene Großmutter einen hassen wird und der Junge, auf den er steht, ihn niemals lieben wird, weil er eine Freundin hat. Denn so ist das. Nicht witzig, nicht ‚eigentlich egal, ob es rauskommt‘ und – leider – oft ohne das Happy End.

Own-Voice ist wichtig

Dabei ist es wichtig, dass wir solche Bücher populär machen. Damit Leute sehen, was sie Menschen mit ihren ‚harmlosen‘ Kommentaren antun und verstehen, wieso so viele Jugendliche sich umbringen. Aber wir hypen lieber das unrealistische Buch einer Außenstehenden, um der unangenehmen Wahrheit aus dem Weg zu gehen.

Ich möchte, dass Autor*innen verstehen, dass sie eine Industrie nutzen, in der eine Minderheit auf ein Cover geklatscht wird, um Geld zu machen. Man wird ausgenutzt und dann auch noch durch den Inhalt verletzt. Jemand macht Geld, weil es einen Markt für homosexuelle Literatur gibt, in der sich viele nicht wirklich um Homosexualität scheren. Sie geilen sich nur dran auf, dass da zwei Kerle auf dem Cover sind. Während reale Homosexuelle jeden Tag mit diesen Stereotypen konfrontiert werden und ihr Leben lang darunter leiden.

Die Zielgruppe spielt hier dementsprechend ebenfalls mit rein. Leute, die leichte Literatur zum Thema wollen, die gerne unrealistische Gayromance lesen, weil sie das anturnt, oder die über die Schokoladenkommentare der schwarzen Protagonistin lachen wollen. Für diese Leute ist dieser Beitrag ebenso, wie für die Autor*innen. Ihr dürft lesen, was ihr wollt. Aber hinterfragt doch bitte mal, was ihr damit fördert. Und wem ihr damit, für eure Freude, wehtut.

Fazit

Am Ende des Tages (bzw. des Artikels) kann man niemandem den Mund verbieten. Man kann jedoch eine Bitte aussprechen. Dafür, dass jeder/jede Autor*in einen Moment innehält und sich frage, wie er/sie/nb sich fühlen würde, wenn man über sie so schreiben würde. Wenn er/sie/nb etwas kritisieren würde, was einfach nicht stimmt und dafür angegriffen werden würde.

Generell ist es wichtig, dass Minderheiten in Büchern Platz finden und ihre Geschichten auch von nicht-betroffenen Menschen erzählt werden. Own-Voice ist wichtig, davon gibt es aber nicht genug, um richtige Repräsentation der Gruppierungen zu gewährleisten.

Schreibt also über Menschen, die einer Minderheit angehören. Aber schreibt informiert, für ein diverses Publikum und aus einer Sicht, die weder exotisierend noch fetischisierend ist.

Links zum Thema

Rezension auf Stürmische Seiten zu Laura Kneidls „Someone New“ 

Wenn Heteros über Homos schreiben

Wenn Heteros über Homos schreiben

Wenn Heteros über Homos schreiben


Tw: Homosexualität, Fetischisierung, (sexuelle) Gewalt


Disclaimer: Nichts in diesem Artikel richtet sich gegen eine feste Gruppe oder eine Einzelperson. Dieser Artikel wurde erstmals im Februar 2018 veröffentlicht und Dezember 2018 überarbeitet. Aussagen, Erfahrungen und Neuerungen sind dieser Überarbeitung geschuldet.


Gay als Kassenschlager

In den letzten Monaten finden sich immer mehr Menschen in meinem literarischen Umfeld, die ihre Bücher unter dem „Genre“ Gay bewerben.

Zunächst wirkt das wie etwas Gutes. Es zeigt, dass Menschen sich mit dem Thema auseinandersetzen und, auch wenn sie selbst nicht „betroffen“ sind, über solche Beziehungen schreiben. Damit finden sich logischerweise mehr Geschichten mit homosexuellen Beziehungen auf dem Buchmarkt, was die allgemeine Akzeptanz erhöht.

Zumindest theoretisch. Leider scheitert eben diese Erhöhung der Akzeptanz dann an der Umsetzung in den Büchern:

  • Einziges Thema sind homosexuelle Männer. Es dreht sich nur um diese eine Minderheit, was die Absicht eine allgemeine Akzeptanz zu erhöhen untergräbt. LGBTQA+ bietet so viel mehr und alle diese Menschen suchen nach Büchern in denen sie auftauchen.
  • Die Zielgruppe wird offen kommuniziert und besteht aus einem festen Kreis an Fans. Das Ziel ist nicht Akzeptanz, sondern Geld.
  • Die Autor*innen sind zu einem disproportional-hohen Anteil weiblich. Recherche kann dies ausgleichen, tut es aber oft nicht.
  • Die Themenwahl ist grenzwertig. Zwischen Gewalt, schlechter Historisierung und zu vielen „eigentlich bin ich ja nicht schwul aber“-Geschichten werden schwule Männer wie Zootiere vorgeführt und durch einen eigentlich uninteressanten Plot geführt mit dem Versprechen, dass es am Ende eine heteronormative, unrealistische Sexszene gibt.

Aber warum schreibt man das dann?

Fragt man die Autor*innen, warum sie Gayromance/Gayfiction/etc schreiben, so erhält man sehr bezeichnende Antworten:


„Ich schreibe das, weil ich sonst keine Beziehungen beschreiben kann.“


„Ich finde Homosexualität einfach cool!“


„Schwule sind süß.“


Aussagen wie diese mögen auf den ersten Blick nicht sonderlich toxisch aussehen. Aber schauen wir sie uns genauer an, so erkennen wir die homophoben Abgründe dahinter.

Die Verniedlichung einer Sexualität bringt mit sich, dass man sie nicht als ebenbürtig und wichtig sieht. Man kann mit ihr machen, was man möchte. Jeder, den man gerne so sehen würde, kann so beschrieben werden. Beziehungen zwischen zwei Männern kann man ohne Recherche beschreiben, weil es ja egal ist, ob sie realistisch sind.


Ausschnitt aus dem Originalartikel:

Das Problem mit nur „homo“ und nur männlich ist relativ tief verwurzelt und kommt aus der Fanfictionszene. Es gibt endlos viele Jugendliche, die über Schauspieler*innen und Charaktere fantasieren, diese „shippen“ und in ihren Geschichten in homosexuelle Beziehungen stecken. So wie viele Männer gerne Lesbenpornos schauen, leben gerade junge Frauen ihre eigenen Fantasien so aus. Und das ist echt nicht gut. Denn das ist keine Bewunderung mehr. Das ist Fetisch.

Egal welche Sexualität man so behandelt, sie wird zum Fetisch. Der Willen der Menschen, sowie ihre Identität ist egal. Hauptsache am Ende küssen sich die, die man für schwul erklärt hat. Und dann sitzt man kichernd vor dem Laptop und freut sich. Sexualitäten sind nichts, was man wie ein Spiel behandeln sollte. Und sie sind nicht dafür da, dass jemand heterosexuelles sich daran erfreut. Sie sind kein Spielzeug für Slashfiction, keine erotisches Outlet und keine Pornovorlage.

An dieser Stelle könnte ich über Privilegien sprechen oder die Tatsache ausbauen, dass historisch gesehen, Menschen, die nicht heterosexuell waren, tatsächlich als Spiel genutzt wurden. Diese Faszination ist bei Weitem nichts Neues. Stattdessen verweise ich auf diesen englischen Text, bei dem das Phänomen auf Tumblr bezogen erklärt wird.

Ich möchte nochmal klarstellen, dass nichts verwerflich daran ist, Charaktere miteinander zu shippen. Das ist Privatsache und man kann das halten, wie man möchte. Es ist das öffentliche Niederschreiben von sexuellen Akten und Beziehungen zur Freude von Personen außerhalb dieser Sexualität, was mich stört. Es fühlt sich an wie ein Käfig. Alle starren von außen auf einen wie in einem Zoo. Man wird ausgestellt für die Unterhaltung anderer. Es hat absolut nichts mit Bewunderung zu tun, wenn man nur deshalb im Gay-Genre schreibt. Erwachsene AutorInnen, die damit ihr Geld verdienen, bereichern sich an Stereotypen und Fetisch.


Realismus als Grundlage?

Genau wie 50 Shades of Grey keinen realistischen BDSM darstellt, so sind auch die Darstellungen von Beziehungen und Sexualpraktiken im Gay-Genre fragwürdig recherchiert.

Sie werden überzogen und als besonders dargestellt, obwohl sie es eigentlich nicht sind. Leser*innen sehen das und beziehen das auf die Realität. Und dann sind wir beim Kernproblem angekommen: Was darf man als Autor*in und was nicht? Wo hört künstlerische Freiheit auf?


Auf die Probleme, die bei kompletter, künstlerischer Freiheit im Umgang mit marginalisierten Gruppen entstehen, gehe ich in diesem Artikel gesondert ein: Als Autor*in darf ich alles – Stimmt das?


Ist es legitim sich als AutorIn auf künstlerische Freiheit zu beziehen, wenn man damit aktiv Schaden bei einer eh schon marginalisierten Gruppe verursacht? So wie übermäßig fetischisierte Pornografie misogyne und homophobe Werte vermittelt, so sind auch die Bücher des Gay-Genres oft problematisch.

Das Gay im Schafspelz

Aber anders als Pornografie, die offen damit umgeht, dass sie problematische Inhalte wie Misogynie, sexuelle Gewalt oder Bestialität enthält, verstecken sich die Bücher des Gay-Genres. Sie maskieren sich als romantische Romane und werden auf Buchmessen gezeigt, gefeiert und verkauft.

Ich möchte nicht sagen, dass alle Bücher aus diesem „Genre“ so sind. Im Gegenteil. Viele Autor*innen, die ich persönlich kenne, geben sich sehr viel Mühe, neben dem Gay einen richtigen Plot zu kreieren und nicht nur unrealistischen Sex und Stereotypen abzubilden. Aber wenn man durch eine Messe läuft und eine ganze Sektion dort voller Bücher ist, die sich nicht mal die Mühe machen zu googeln, wie das jetzt eigentlich beim Sex zwischen zwei Männern abläuft, dann verliert man den Glauben in das Genre.

Die Fetischisierung einer ganzen Sexualität

Wenn jemand so über Homosexuelle schreibt, sehen andere sie nicht als Menschen. Auf eine gewisse Art und Weise sehen auch die Autor*innen sie nicht als Menschen. Sie werden zum reinen Objekt heteronormativer Neugierde auf das Fremde.

Eine Sexualität wird zum Fetisch für heterosexuelle Frauen, die ihre Sexualität zu weilen als „ich stehe auf Schwule(n Sex)“ beschreiben. Jahrhundertelang war Homosexualität eine Krankheit und wurde nicht ernst genommen. Jetzt stellen sich Autor*innen, die die Sexualität ebenfalls nicht ernst nehmen und sich nur daran bereichern wollen, als offene Aktivist*innen für Fairness dar.

Diese Bücher verkaufen sich und werden vervielfältigt und prägen die Sicht von Menschen auf Homosexualität. In vielen Geschichten sind die einzigen Merkmale einer männlichen Figur sein Sixpack und seine Sexualität. Stereotype werden von Menschen verbreitet, die sich selbst nie wegen ihrer Sexualität verteidigen mussten.


Ausschnitt aus dem Originalartikel:

Wenn die einzigen Merkmale einer Figur seine Sexualität und Probleme, die Eng damit verknüpft sind, sind, dann ist das furchtbar toxisch. Autor*innen in diesem „Genre“ verbreiten Stereotypen und das vermutlich, ohne es zu wissen. Weil sie sich nie Gedanken über so etwas machen mussten. Weil ihre Sexualität nicht in Büchern als süß oder interessant oder exotisch beschrieben wird. Deren Sexualität wird nicht auf drei Merkmale reduziert, die in jedem Buch gleich sind. Und nicht jedes Buch mit heterosexuellen Beziehungen dreht sich um die Selbsterkenntnis dieser Sexualität oder um Probleme die nur auftreten, weil man hetero ist.

Zumal sie diese Probleme einfach nicht verstehen können. Ebenso, wie sie den Alltag einer homosexuellen Person, die mit Stereotypen und Verurteilungen zu kämpfen hat, nicht verstehen können. Ohne die richtige Recherche bringen selbst Romane, die Gutes tun wollen, nichts weiter als Klischees und Fetisch mit sich.

Outings enden beispielsweise nie. Sie dauern das ganze Leben lang an. Selbst bei Menschen, denen man theoretisch vertraut, hat man Angst vor Ablehnung. Es ist nicht alles für immer fröhlich und sonnenbeschienen, nur weil man sich einmal geoutet hat und alle es okay finden. Leben mit einer diversen Sexualität ist konstanter Stress.

Ein anderes Beispiel ist Sex. Sexpraktiken, wie man sie aus Fanfictions und schlechten Gayromance-Geschichten kennt, sind großflächiger Unsinn. Es wird so getan, als würden alle Menschen einer Sexualität das Gleiche gut finden. Das ist, als würde man allen Hetero-Pärchen immer nur eine Stellung zuschreiben und alles andere, was Sex ausmacht, ignorieren. Und dann ist die eine beschriebene Stellung nicht mal realistisch, sondern grenzwertig, weil sie ohne beidseitigen Konsens und einfachste Biologiekenntnisse auskommt.


Fazit

Die Beziehung, der Sex und das Innenleben der Figuren in Gay-Romanen ist für heterosexuelle Leser*innen optimiert. Das hat nichts mit offener, diverser Literatur zu tun und sollte auch nicht als solche zelebriert werden.

Die LGBTQA+ Community wird von vielen Seiten bedroht. Es ist in manchen Teilen der Welt verboten nicht cis und hetero zu sein. Es gibt jedes Jahr Angriffe und Schießereien, die als Hatecrime gegen die Community vorgehen wollen. Ebenso gibt es noch Konversionstherapie und sogar Exorzismen gegen alles, was nicht dem heteronormativen „Standard“ entspricht. Gerade Männer aus der Community sind häufiger suizidgefährdet, nicht zuletzt, weil sie den Stereotypen, die toxische Maskulinität von Homosexuellen erwartet, nicht entsprechen wollen oder können.

In einer Welt, in der es diese Dinge noch gibt, Homosexualität als „süß“ zu bezeichnen, zeugt von einer massiven Naivität. Und Naivität ist keine Ausrede dafür, toxische Geschichten zu schreiben, die es Menschen die eh schon genug zu kämpfen haben, noch schwerer machen, akzeptiert zu werden.

Und falls jetzt noch jemand daran zweifelt, ob es den angesprochenen Autor*innen nicht vielleicht doch um Aktivismus und Diversität geht: als ich diesen Artikel (in einer etwas persönlicheren Form) im Februar erstmals veröffentlichte, wurde in einer großen Facebookgruppe für Gayromance über mich und den Artikel diskutiert. Dabei schrieb eine Nutzerin etwas, was meine Kritikpunkte sehr deutlich illustriert:

„Die scheiß Kampflesbe soll sich nicht so anstellen. Wenn Schwuchteln sich an meinen Büchern stören, sollen se mir das selber sagen.“


Ein positiver Ausblick

Es gibt Romane, die divers sind und dabei keine Klischees bedienen. Die diverse Sexualitäten respektvoll darstellen. Deutsche AutorInnen haben, gerade wenn es um homosexuelle Männer geht, einiges aufzuholen. Denn viele dieser positiven Beispiele (zumindest der, die ich gefunden habe) kommen aus den USA, Australien oder Frankreich.

Im Bereich Gayromance habe ich tatsächlich bisher niemanden gefunden, dessen/deren Buch 100%ig zu diesem „Genre“ zählt, bzw. der/die/nb sich freiwillig als Autor*in in diesem Bereich bezeichnen würde. Hier also einige Tipps für die Umsetzung von Queerness, wie sie eigentlich sein sollte:

Weitere Links zum Thema

Fetischisierung von Homosexuellen auf Tumblr

Fetischisierung von heterosexuellen Charakteren als homosexuell

Fetischisierung von Lesben in den Medien

Ernste Probleme mit der Fetischisierung von Bi- und Homosexuellen Frauen

Ein Hot-Take von Autorinnenkollegin Anja Stephan