Online Grenzen aufzubrechen?
Ein Blick auf Uni-Twitter
Disclaimer: Es handelt sich bei dem folgenden Meinungsartikel um eine persönliche Beobachtung, die keinen Anspruch auf Objektivität und Vollständigkeit hat. Im Folgenden wird vor allem über die Geisteswissenschaft gesprochen, nicht über andere wissenschaftliche Gruppierungen, die sich eventuell ebenfalls online austauschen.
Online-Uni auf Twitter – ein Experiment
Schon bevor im letzten Semester (Sommersemester 2019) mehrere Dozierende an deutschsprachigen Universitäten Seminare zum Thema ‚Relevante Literaturwissenschaft‘ anboten, sammelten sich auf dieser Plattform zahlreiche (Uni-)Persönlichkeiten: Studierende im Bachelor, Master, älteren Studiengängen und im Staatsexamen, (Post-)Doktorand*innen, Lehrende, Lehrer*innen, Professor*innen, Aussteiger*innen, Quereinsteiger*innen und Beobachtende. Ein bisschen fühlte es sich an, als säße man mit einigen hundert Leuten in einem Saal und alle sind Gasthörende. Vorne steht jede Woche, nein jeden Tag, nein jede Stunde, nein jede Minute eine andere Person, die über ihr Fachgebiet, ihre Expertise und/oder ein Forschungsprojekt spricht. Hat man Interesse, dann bleibt man, wenn nicht, kann man weiterscrollen und jemand anderes bietet etwas an.
Twitter ist schnelllebig. Das wird oft als negative Eigenschaft genannt, wenn man es im Hinblick auf Kommunikation und Nutzen für die Universität betrachtet. Auch die Ansammlung an Menschen, die alle einen anderen Hintergrund und Bildungsgrad haben, wird gerne kritisch betrachtet. Aber genau das macht den Reiz aus: Alle sind gleichauf. Es wird nach Interessen getrennt diskutiert, nicht zwingend nach Hierarchie (obschon es in der Hinsicht oft gewisse Tendenzen gibt).
Ich glaube nicht, dass irgendjemand erwartet, dass eine Plattform wie Twitter jemals Seminare ersetzen oder einen ähnlichen Zweck wie Vorlesungen erfüllen wird – es geht vielmehr um interessante Ergänzungen/Angebote. Die Grenze zwischen der festen Institution Uni und der wissenschaftlichen Blase in sozialen Medien wurde mit den Seminaren überschritten. Studierende hatten nun (je nach Seminar) die Aufgabe mitzumischen und diese Umgebung für sich zu nutzen. Es war ein Experiment, was laut offiziellen Stimmen und Erfahrungsberichten (von Studierenden und Lehrenden zugleich) gut lief.
Gemeinsam Grenzen aufbrechen?
Das Ziel war es, je nach Seminarthema, Grenzen aufzubrechen. Dozierende führten ihre Studierenden durch die Grenzen zwischen Skandal und Ethik, Gesellschaft und Literatur, digitaler und analoger Sichtweise. Dazwischen sammelten sich Außenstehende, wie ich etwa, die passende Vorlesungen in einigen Tweets zusammenfassten, mit den dazugekommenen Studierenden diskutierten und/oder weiterhin ihre Projekte und Texte zu ähnlichen Themen veröffentlichten. Literaturbetrachtung im digitalen Zeitalter ist interdisziplinär – das lernten nicht nur die Studierenden in den letzten Monaten.
Zwischen Blogs/Twitter und dem ‚offline‘ Seminar entstand eine Lücke, die nicht alle Seminarteilnehmer*innen in dem Zeitraum des Semesters schließen konnten und das ist absolut verständlich. Chancen aufzeigen ist das eine, aber in wenigen Wochen nicht nur über literarische Themen sprechen, sondern gleichsam auch einer Gruppe (junger) Menschen diese Online-Welt erklären und nahebringen, ist eine doppelte Belastung für alle Beteiligten.
Zumal die Studierenden auf eine Wand trafen, die erst langsam abgebaut werden musste. Eigene Zurückhaltung und die generelle Überforderung (durch die schnelle Natur der Online-Wissenschaftler*innen bedingt) kombinierten sich und viele blieben still, was schade ist, aber nachvollziehbar. Es ist schon schwer genug die inneren Kreise aufzubrechen, wenn man seit Monaten dabei ist. Als Neuling auf einen so große Anzahl an Menschen zu treffen, die sich alle (lose) kennen und wie gewohnt ihre Projekte/Gedanken vorstellen und diskutieren, ist – mir fällt kein besseres Wort ein – krass. Zumal man nebenbei noch die Ansprüche des Seminars erfüllen möchte und man nur wenige Wochen Zeit hat, um in diese ‚Blase‘ einzudringen.
Die Grenzen des Twitter-Seminars
Trotz all des Lobs ist das Projekt nicht perfekt und es stechen negative Aspekte hervor, über die man sprechen muss, wenn man diese Art von Projekten weiterführen möchte: die Überforderung, der Arbeitsaufwand, der nicht immer als solcher gesehen wird, weil wir soziale Medien eigentlich als Pause betrachten und die etablierten Strukturen, die nicht immer Platz für Neulinge bieten, um nur einige zu nennen.
Eine Sache, dir mir auffiel, ist, dass Dozierende oft nicht die Grenze ziehen, zwischen Seminar und sozialen Medien. Das Ziel ist es unter anderem, beides zu verbinden, aber das geht nicht immer. Seminarsitzungen enden regulär nach ein paar Stunden, Twitter endet nicht. Die Diskussion wird weitergeführt, ob man da ist oder nicht. Das ist auf Dauer sehr anstrengend, wenn einem gewisse Softskills fehlen. Einschätzen, wo man ‚erwünscht‘ ist, wo man Pausen einlegen kann, den Zwang dahinter abbauen – Universität mit einer Freizeitaktivität verbinden geht nicht ohne Weiteres. Vor allem, da die Dozierenden zwischen intellektuellen Tweets und – ich sage mal ~anderen~ Tweets (wie Insider und unsinnige/spaßigen Tweets) – hin und herwechselten, wie sie es gewohnt sind – ohne daran zu denken, dass Menschen, die neu auf Twitter und eigentlich nur für die Uni dort sind, dem nicht direkt folgen können/wollen und sich dadurch vielleicht auch ausgeschlossen fühlen. Die Softskills, die es braucht um zwischen Spaß und Uni auf einer Plattform wie Twitter fließend zu wechseln, muss man sich aufbauen. Das ist nicht bei allen vorausgesetzt. Ich spreche hier über neurodiverse Menschen, aber auch über Studierende in frühen Semestern, die nicht zwingend bereit sind, ihre Dozierenden so privat und nah kennenzulernen.
Eine weitere Beobachtung ist, dass oft oberflächlich inklusiv gesprochen und gehandelt wird – alle können mitmachen, jede Stimme ist erwünscht – aber die Strukturen dahinter nicht so offen sind, wie man es online gewohnt ist. Feminismus, Anti-Rassismus, Anti-Faschismus – soziale Medien sind politisch. Seminare an der Universität können nicht immer politisch sein und widersprechen aufgrund von alten Strukturen oft diesen Prinzipien. Man spricht auf Twitter über Sexismus oder die Vermeidung von Slurs, wie dem N-Wort oder den problematischen Bezeichnungen für Sinti und Roma – und dann liest man an der Uni Werke/Sekundärliteratur, die diese Wörter beinhalten oder sexistisch sind, weil die Literatur an Universitäten (schon alleine aufgrund ihres häufig fortgeschrittenen Alters) in fast allen Fällen nicht politisch korrekt ist und es den Anspruch auf Kritik daran nicht in jedem Seminar gibt.
Für die Seminarleitenden ist es zusätzliche Arbeitslast, diese beiden Entwicklungen parallel zu behandeln, das anzusprechen und da kritisch genug für Twitter zu sein. Auch weil Kritik an Strukturen der Uni selbst sowie an den Büchern und Aufsätzen von wichtigen Wissenschaftler*innen und Kolleg*innen nicht immer möglich ist. Das macht man in der Universität nicht – auf Twitter hingegen schon. Diese Plattform, bekannt dafür, dass man Probleme ankreidet und offenlegt, lässt sich nicht mit den Regeln der Universität vereinen.
Für wen ist das Ganze eigentlich?
Am Ende des Experiments steht für mich die Frage im Raum, wer daran eigentlich profitiert. Natürlich haben die Studierenden etwas dabei gelernt, zumindest nehmen wir das jetzt einfach mal an – sei es nun über die Seminarinhalte oder im Bezug auf Uni-Twitter. Aber die, die wirklich etwas aus dem Experiment ziehen, sind doch die Lehrenden, oder?
Die Meinung von Kolleg*innen ist mehr wert, als die von Studierenden – das ist normal. Und dieses Projekt bot eine Plattform, um sich online für alle Kolleg*innen sichtbar zu profilieren; sich einen Namen zu machen, in dem man Grenzen überschreitet und zu testen, inwiefern man die etablierten Strukturen auf Twitter zur Lehre nutzen kann. Ich sage nicht, dass das schlecht ist – aber dass ich mir da mehr Transparenz wünschen würde. Was sich Dozierende an diesen Seminaren erhoffen, interessiert sicher nicht nur mich und das man sich als Nachwuchswissenschaftler*in profilieren und herausstellen will/muss ist allen klar.
Genderbias und Privilegien – die Chancen und Probleme der ‚Twitter-Seminare‘
Zu den positiven Auswirkungen und Chancen zählt, dass sich eine große Gruppe an Menschen online bildet und austauscht und Studierende da mehr mitmischen sollten. So werden die elitären Gruppierungen aufgebrochen und es bleibt inklusiver für alle Beteiligten, auch die ohne Doktortitel. Dazu passt auch, dass es vor allem junge Menschen auf diese Plattform zieht und sich so Studierende mit jungen Wissenschaftler*innen austauschen – es herrscht eine gemeinsame Basis. Man muss nicht lange über den Nutzen von sozialen Medien diskutieren, weil beide Parteien diese bereits für sich entdeckt haben. Man kann also einen Stufe weiter oben ansetzen und das tut, gerade wenn man an den Unis viel im ‚für-mich-lohnt-sich-das-nicht-mehr‘-Ton über soziale Medien spricht, einfach gut.
Durch die Gruppen an Menschen, die oben genannt wurden, werden Studierende mit Personen konfrontiert, die andere Fächer studieren und lehren, ausgestiegen sind, später eingestiegen sind, etc. Der Pool der Erfahrungen und Themen ist groß, die Grenzen der Uni-Hierarchie werden abgebaut und vor allem sehen sie, was man alles werden kann, wenn man eine Geisteswissenschaft studiert. Jede*r hat eine andere Werdensgeschichte und man wird nicht so schnell entmutigt, wenn man mal eine schlechte Note hat oder ein Ziel nicht erreicht. Es gibt immer jemanden, der einen ähnlichen Weg hat(te) und einen versteht und stützen kann.
Das wohl wichtigste Argument für mich ist aber, dass Twitter die alteingesessenen Akedemiker*innenfamilien-Strukturen aufrüttelt. Durch akademischen Austausch auf sozialen Medien kann jede*r Kontakte knüpfen, die sonst einer elitären Schicht vorbehalten waren. Berufs- und Bildungschancen, Mentor*innen, Praktikumsstellen – der Austausch führt zu einer Annäherung an Chancengleichheit zwischen Arbeiter- und Akademiker*innenfamilen. Es gibt selbstredend viele weitere Privilegien, die Arbeiter*innenkinder an Unis nicht haben, aber Twitter öffnet das System zumindest an dieser Stelle ein wenig.
Einer der negativen Aspekte an diesem Experiment ist – ironischerweise – die ständige Öffentlichkeit. ‚Unnötige‘ Fragen und Missverständnisse, wie sie bei Studierenden auftauchen dürfen, werden online auf eine Bühne gestellt, die nicht nur einschüchtert, sondern auch verhindert, dass diese Fehltritte verschwinden. Sie sind auch nach der Seminarsitzung noch da und werden nicht so schnell vergessen, wie mündliche Sprechbeiträge. Gerade wenn man auf Twitter mit ‚ausgewachsenen‘ Wissenschaftler*innen schreibt, traut man sich nicht, Fragen zu stellen oder offen Unwissen zuzugeben, weil man sich nicht bloßstellen will. Das heißt aber auch, dass man eine Lern-Gelegenheit verpasst. Seminare sind, gerade in frühen Semestern, eine kleine Safespace, in der man scheitern darf – sogar muss – und gemeinsam lernt. Auf Twitter kann es passieren, dass man die einzige Person in der Unterhaltung ist, die etwas nicht weiß. Man ist als Studierende*r teilweise alleine und das ist sehr einschüchternd.
Die Hierarchie, die man aus der Uni kennt, verschwindet zudem auch auf Twitter nie ganz. Man steht noch immer irgendwie außen vor, weil die Dozierenden sich alle kennen und gemeinsam twittern und das ist normal – es ist immerhin ein soziales Netzwerk – aber das macht es nicht weniger deprimierend, weil man weiß, dass man nicht wirklich dazugehört. Zumindest geht es mir so und ich bin schon lange dabei. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man komplett neu dazukommt und diese Mechanismen noch nicht kennt. Die Grenze zwischen Freundschaft und Hierarchie verschwimmt und man muss aufpassen, dass man keine Linie überschreitet, die man als Student*in nicht passieren darf. Twitter ist offen für alle, das stimmt, aber es bilden sich Freundschaften, aus denen man ausgeschlossen wird, wenn man als Student*in den eigenen Dozierenden gegenüber steht. Es ist schwer, manchmal nicht enttäuscht zu sein, wenn man realisiert, dass man eben doch in der Rolle der Studierenden festsitzt.
Das zieht sich in Bereiche, in denen man über das Privatleben schreiben will, über eine schlechte Note, eine Enttäuschung, etwas außerhalb der Uni – Dinge, für die soziale Netzwerke eigentlich herhalten – und dann realisiert man, dass die Dozierenden mitlesen. Diese Uni-Struktur auf Twitter macht die Safespace jener kaputt, die es neben dem Unikram auch zum Zeitvertreib nutzen. Man möchte nicht, dass die eigene Uni (Dozierende und Kommiliton*innen) das sehen. Die Grundprämisse sozialer Medien wird dadurch dezimiert.
Schließlich sind soziale Medien generell gut für die Inklusion, bringen aber neue Problematiken mit sich. Frauen und weiblich Gelesene können auf Twitter beispielsweise nicht immer so offen schreiben, wie Männer. Viele soziale Netzwerke haben einen Genderbias, der auch in der Uni vorkommt und so bedingen sich diese beiden Mechanismen sehr gut. Als Dozierende*r muss man ein Auge darauf haben, was wieder zusätzlichen Arbeitsaufwand bedeutet.
‚Fazit‘
Ich will kein wirkliches Fazit schreiben, weil ich nicht direkt bei dem Projekt mitgemacht habe. Ich bin lediglich eine Studentin, die seit einigen Monaten diese Twitter-Entwicklung beobachtet und mitgestaltet (zumindest rede ich mir das ein). Ich weiß auch ehrlich nicht, was überwiegt – das Positive oder das Negative. Uni-Twitter hat sehr gute Auswirkungen auf mich, schlägt aber auch schnell das Selbstbewusstsein an und treibt einen in den Zweitaccount, weil man ein Outlet benötigt, aber vor den ganzen schlauen Menschen nicht zugeben will, dass es einem schlecht geht.
Meine Hoffnung ist es, dass dieser Artikel zukünftige Seminare in eine Richtung beeinflusst, die es Studierenden einfacher macht, in die Uni-Twitter-Welt einzusteigen. Ich will hiermit aber vor allem auch eine kritische Stimme bilden, die, bei all dem Lob, auch die Problematiken der letzten Monate aufgreift und hervorhebt.