Die #MenAreTrash-Kontroverse – Warum die Diskussion in Deutschland so wichtig ist

Die #MenAreTrash-Kontroverse

Die #MenAreTrash-Kontroverse

Warum die Diskussion in Deutschland so wichtig ist


TW: Sexismus, Sexuelle Gewalt


Disclaimer: Dieser Artikel wurde im Rahmen eines Blogprojektes erstmals veröffentlicht und ist nun hier zu lesen.


Die Kontroverse rund um den Twitter-Hashtag #MenAreTrash startete August 2018 in Deutschland. Davor war der Hashtag bereits im englischsprachigen Raum etabliert. Nach einer wochenlangen, hitzigen Diskussion, sind die Stimmen zum Thema mittlerweile weniger geworden. Dabei ist der Anstoßpunkt der Debatte sehr wichtig und darf eigentlich nicht in Vergessenheit geraten.

Schaut man sich deutschsprachige (Online-)Medien an, so kommen der Begriff und alles, was damit verbunden ist, nicht sonderlich gut weg. Eine differenzierte Stimme, die aufklärt, was es damit auf sich hat, fehlt.

Stattdessen nutzen Antifeminist*innen den Hashtag, um Feminismus  niederzumachen und gegen alle Feminist*innen zu hetzen. Ein ironisches Phänomen, aber dazu später mehr.

Dieser Artikel dient nicht dazu, Leser*innen davon zu überzeugen, den Hashtag zu nutzen oder gut zu finden. Ein Problem mit dieser Ausdrucksart des Feminismus zu haben, ist an sich nicht verwerflich. Stattdessen soll aufgeklärt werden, was es mit diesem Hashtag eigentlich auf sich hat und wieso man ihn kritisieren darf, die, die ihn nutzen, jedoch ernst nehmen sollte.

Der Ursprung von #MenAreTrash

Bevor man sich mit der Rezeption im deutschsprachigen Raum auseinandersetzten kann, muss man einen Blick darauf werfen, wo das Ganze startete.
#MenAreTrash stammt aus Südafrika. Dort sind die Zahlen für Femizid, also weiblich Gelesene und Frauen, die von ihrem (oft cis-männlichen) Partner ermordet werden, bedeutend höher, als in Europa oder den USA. Der Hashtag wurde im Frühjahr 2017 genutzt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Statement, das in den Medien landen musste und das (gerade von cis Männern) nicht übersehen werden konnte.

Die polemische Natur des Hashtags war von Anfang an Absicht. In einem Land, in dem häusliche Gewalt kaum öffentliche Aufmerksamkeit findet, musste etwas her, was nicht zu ignorieren war. #MenAreTrash schaffte dies – zumindest für eine kurze Zeit.

#MenAreTrash im deutschsprachigen Raum

Nach dem Erfolg, den der Hashtag hatte – die Aktion in Südafrika ging durch das gesamte Internet – begannen auch andere Länder, den Begriff zu nutzen. So wurde er beispielsweise in der Debatte um die #MeToo-Bewegung genutzt.

Sommer 2018 kam er dann nach Deutschland, jedoch nicht in der Art, wie man es zunächst vermuten würde. Nachdem die Journalistin Sibel Schick auf Twitter Männer als Arschlöcher bezeichnete und dafür negative Kommentare erntete, begann der Hashtag zu trenden. Ohne ihr aktives Zutun. Wer genau ihn startete, ist nicht klar. Scrollt man jedoch lange genug, so zeigt sich, dass es vor allem rechte Trolle und Bots
waren, die ihn in die deutschen Trends bugsierten.

Es waren also keine Feminist*innen, die in einem Anflug aus Hass oder „(Gender-)Wahn“ beschlossen hatten, diesen Hashtag zu nutzen.

Durch die Trends kamen immer mehr Kommentare von Nicht-Bots hinzu, die auf Feminismus herumhackten, obwohl dieser gar nichts mit dem Aufstieg von #MenAreTrash in Deutschland zu tun hatte. (Cis) Frauen entschuldigten sich im Namen aller ‚normalen‘ (cis) Frauen für den Begriff; Männer nutzen die Gunst der Stunde, um alles an Beleidigungen herauszulassen, was sie gegen Feminist*innen und weiblich gelesene Enbys/Frauen allgemein so angesammelt hatten.

Und genau da beginnt die Kontroverse, die so wichtig ist, dass sie nicht verebben darf. Denn egal wie der Hashtag nach Deutschland kam – die Rezeption war peinlich.

Die Kontroverse und die Medien

Vielleicht liegt es daran, dass der Hashtag von Anfang an nur durch  Hassbotschaften an den Feminismus trendete – vielleicht ist Deutschland auch weniger offen gegenüber der Diskussion als andere Länder. Aber die Kommentare unter dem Hashtag waren unerträglich.

Einzelne Feminist*innen, die sich durch den Hass-Spam schlugen, um tatsächliche Tweets zum Thema zu verfassen, wurden in hunderten Nachrichten ertränkt. Wie oft standen in den Kommentaren detailliert formulierte Morddrohungen oder Selbstmordwünsche, sowie Sex- und Vergewaltigungsfantasien. Etwas, was man eigentlich nur von der rechten Blase in Deutschland kennt.

Aber diesmal waren die Kommentarschreiber*innen keine rechten Trollaccounts oder Neonazis – sondern ganz normale Twitterer. Cis Männer, die einen Freibrief erhalten hatten, um ihren Hass auszuleben. „Ich bin kein Müll, du untervögeltes Stück Scheiße“ – hieß es hunderte Male. In der Wut darüber, dass sie als Müll bezeichnet wurden, zeigten sie genau diese Seite an sich.

Und kamen damit durch.

Viele (cis) Frauen entschuldigten sich hingegen für den Hashtag, blind für die rohe Gewalt, die von Männern an diesem Tag ausging. „Nicht alle Männer sind Müll!“, hieß es zwischen tausenden Nachrichten, die das Gegenteil zeigten. In dem Versuch (cis) Männer zu verteidigen, outeten sich zahllose (cis) Frauen als Diskursabgewandt. Nicht in der Lage zu begreifen, wen sie da verteidigten – und warum. Um eben nicht als ‚ungebumste Fregatte‘ bezeichnet zu werden, um als ‚cool und gechillt‘ und ‚nicht wie diese anderen Frauen‘ zu gelten. In ihren Bemühungen stützen sie den Hass und warfen, so ganz nebenbei, die, die beschimpft wurden, unter den Bus.

In den Medien sah die Rezeption nicht anders aus. Tagelang erschienen Artikel zum Thema, die meisten davon schlecht recherchiert oder mit Agenda. (Cis) Männer, die die Stimmung nutzen, um endlich mal ihren Hot-Take gegen den bösen Feminismus zu schreiben. Weil er jetzt ja viel zu weit gegangen sei.

Dass es nicht der Feminismus war, der den Hashtag nach Deutschland brachte, wurde kaum angesprochen. Ebenso wenig, wie die zahlreichen Versuche von Feminist*innen, auf den Hass unter dem Hashtag aufmerksam zu machen.

Es entstanden Artikel, die lang und breit alle Feminist*innen generalisierten, weil ein Hashtag, der (cis) Männer generalisierte, ja gar nicht geht.

Kritische Stimmen überwogen. „Das bringt so ja nichts“ und „wie soll man Feminismus jetzt noch ernst nehmen“ standen im Vordergrund. Das, was eigentlich unter dem Hashtag passierte, wurde unter den Teppich gekehrt. Wie soll man Feminismus jetzt noch ernst nehmen, nachdem hundert feministische Tweets zu #MenAreTrash von tausenden Hassnachrichten gegen weiblich Gelesene und Frauen überrannt wurde? Ja, wie nur?

Wie soll man eine Bewegung ernst nehmen, nachdem ein Hashtag alle Punkte, für die diese Bewegung steht, bewiesen hat? Es ist ein Rätsel, welches die Medienlandschaft nicht zu lösen vermochte.

Antifeministische Plattformen, wie das EF-Magazin, sprangen auf den Zug auf, verdammten die „feministisch-genderistische“ Agenda und nutzten dabei rein (cis) männliche Stimmen zum Thema.

Kritisiert den Hashtag, nicht die Nutzer*innen davon

Wie zu Beginn des Artikels bereits geschrieben, muss man den Hashtag nicht mögen. Es gibt viele gute Gründe, um ihn abzulehnen (dazu gleich mehr). Es ist jedoch unmöglich, sich der Debatte über den Hass unter dem Hashtag zu entziehen. Dieser geht, entgegen dem ersten Eindruck, eben nicht gegen (cis) Männer, sondern gegen Feminismus.

Nutzer*innen des Hashtags befürworten ihn, da er eben genau dieses Problem deutlich machte. Feminismus in Form einer netten Bitte um gleiche Rechte hat noch nie funktioniert, was den Hashtag an sich weiter bestätigt. Warum sollte man nett sein, wenn man auf Probleme wie Femizid oder Sexismus hinweist? Warum dürfen alle Gruppen generalisiert werden, außer die des (weißen cis) Mannes? Zumal (cis) Männer durch Ausreden wie „boys will be boys“ und „das ist halt Locker Room Talk“ ; ja selbst darauf hinweisen, dass sie von Natur aus ‚Trash‘ sind.

Man kann von dem Hashtag halten, was man möchte. Ob man ihn nun zu hart findet oder nicht, ist jeder*jedem selbst überlassen. Die Entscheidung darüber, warum man ihn schlecht findet, sollte jedoch nicht allein aus dem Bauch heraus getroffen werden.

Warum ich #MenAreTrash nicht mag, ihn aber trotzdem anerkenne

Feminismus setzt sich zusammen aus verschiedenen Meinungen und Auffassungen. Einige von uns mögen den Hashtag, andere eher nicht. Ich gehöre zu der zweiten Gruppe.

Als #MenAreTrash in Deutschland startete, war ich schockiert von den Reaktionen, die der Hashtag hervorrief. Gleichzeitig tat es auch gut zu sehen, wie schlimm die Lage wirklich ist. Denn zwischen all den „Ich bin Feminist, aber“-(cis)-Männern und den „Ich bin Feministin, aber“-(cis)-Frauen, verliert man schnell den Überblick, wem man wirklich trauen kann und wer trotzdem weiblich Gelesene/Frauen hasst, nur eben heimlich, still und leise.

Ich lehne den Hashtag also nicht ab, weil ich mit der Nachricht dahinter nicht konform gehe. Im Gegenteil. Mein Problem ist eher die Motivation des Ganzen.

Ein Hashtag der Aufmerksamkeit erregt und zeigt, was eigentlich alles falsch läuft, ist wichtig. #MenAreTrash wurde jedoch nicht von Feminist*innen gestartet. Er wurde in Deutschland nie intrinsisch dafür genutzt, um auf toxische Maskulinität, internalisierten Sexismus und andere Probleme hinzuweisen. Seine erste Aufgabe war es, Hass gegen Feminismus zu schüren.

Zudem erfährt der Hashtag eine ähnliche Behandlung, wie #MeToo und #MeTwo. Das, was spezifisch für eine Gruppe Marginalisierter entwickelt wurde, wird für fremde Zwecke genutzt. #MenAreTrash wandelte sich von einem Hashtag aus Südafrika gegen häusliche Gewalt, zu einem Machtspiel zwischen Feminismus und Antifeminismus. Die eigentlichen Gründe für die Polemik und den Hashtag an sich geraten in Vergessenheit. Und Südafrika kämpft weiterhin allein gegen die steigenden Femizidzahlen.

Doch egal, was ich gegen den Hashtag zu sagen habe, die Feminist*innen, die unter ihm über ihre Erfahrungen schreiben, muss man von dem Hashtag loslösen. Nicht sie sind das Problem, auch wenn man #MenAreTrash nicht mag.

(Cis) Man(n) kann gerne beleidigt sein, weil (cis) man(n) nach Jahrhunderten an Unterdrückung auch mal generalisiert wird. Das stelle ich mir ziemlich hart vor. Aber es ist keine Ausrede, um den Hass zu ignorieren, der Feminismus bis heute unter dem Hashtag entgegengebracht wird. Ebenso wie (cis) Frauen, die sich von dem ganzen absondern wollen, weil es ihnen zu heftig ist, das dürfen. Aber dann doch bitte nicht auf Kosten des Feminismus.

Weitere Artikel zum Thema

Die Diskussion in der TAZ

#MenAreTrash und toxische Maskulinität (engl.)

#MenAreTrash im englischsprachigen Raum

Landschaftsbeschreibungen in Romanen

Landschaftsbeschreibungen in Romanen

Landschaftsbeschreibungen in Romanen


Disclaimer: Dieser Beitrag diskutiert Landschaftsbeschreibungen und stammt ursprünglich aus dem Jahr 2017. Für den Büchnerwald wurde er wiederveröffentlicht. Er ähnelt einer analytische Betrachtung, sollte jedoch nicht spezifisch als literaturwissenschaftlich gelesen werden. Die Beispiele stammen leider alle aus westlicher Literatur. Die Redaktion des Büchnerwalds entschuldigt sich an dieser Stelle ausdrücklich für den Fehler.


Landschaften und Vorstellungskraft

Landschaftsmotive in Medien und speziell in der Literatur sind es, die Leser*innen ein Bild der Umgebung bieten und die Geschichten lebendig wirken lassen. Nicht umsonst werden Filme und Serien immer mehr mit weitgehenden Drohnenaufnahmen von Berglandschaften, weiten Feldern und Gewässern geschmückt.

Worauf kommt es in der Literatur jedoch an und welche Mittel werden genutzt, um diese Bilder bei Leser*innen zu evozieren? Diese Frage soll im Folgenden diskutiert werden. Dazu werden Genre, Zielgruppe, Literaturepoche und Erzählperspektive in mehreren Beispielen untersucht.

Düstere Zeiten und Osteuropa

Bram Stoker, der Autor des Legendären Dracula (1897) lebte im 19. und 20. Jahrhundert in Irland und schrieb gotische Horrorromane. Dementsprechend verhält sich seine Sprache bei der Landschaftsbeschreibung. Er hält sich kurz und erzeugt eine kühle Stimmung, in welche sich Leser*innen sofort hineinversetzen können:

„As the evening fell, it began to get colder, and now I could only see big, black trees in the dark mist outside.“
[Als es Nacht wurde, begann es kälter zu werden. Jetzt konnte ich nur noch große, dunkle Bäume schemenhaft in der Dunkelheit draußen ausmachen.]

Stoker schreibt eine Ich-Erzählperspektive. Das macht es einerseits leichter für Leser*innen alles nachzuempfinden und sich die Landschaften bildlich vorzustellen. Das veraltete Vokabular in Dracula zeichnet Leser*innen ein fast melancholisches, zeitgerechtes Bild, passend zu der düsteren Thematik des Romans. Dabei wird aus Draculas Schloss jedoch ein unrealistisches Gebäude, was wenig mit den tatsächlichen Schlössern in Transsylvanien zu tun hat.


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Schloss Bran, Rumänien


Der irische Autor weicht von der Realität ab und zeichnet ein groteskes Bild, dessen Intention es ist, nur schwer vorstellbar zu sein. Die Dörfer und Landschaften sind die realistische Kulisse für eine schaurige und phantastische Geschichte. Diese Abweichung zugunsten der Dramatik finden sich nur beim Schloss. Die anderen Schauplätze, speziell die in England, werden nicht verzerrt. Vermutlich auch, weil Stokers Leser*innen hier wissen würden, wo er von der Realität abweicht.

„The sun was beginning to set behind the mountain tops, and the shadows of the men grew longer and longer on the white snow.“

[The Sonne begann sich hinter den Bergspitzen zu setzen und die Schatten der Männer erstreckten sich länger und länger auf dem weißen Schnee.]

Unterstützt wird die Stimmung durch einen raschen Wechsel zwischen mehreren Perspektiven und die damit folgende Abwechselung in der Wortwahl.

Fantasy und Weltenbau

Ganz anders funktionieren Landschaftsbeschreibungen im Fantasy-Genre. Hier dominieren nicht szenische Sprache und düstere Umschreibungen, sondern epische Beschreibungen und weitführende, lebendige Vergleiche. Dies zeigt sich besonders gut bei J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe (1954). Ganze Doktorarbeiten und Seminare werden über die Landschaften bei Tolkien verfasst. Die Deutsche Tolkien-Gesellschaft bietet einiges an Material.

 „Von wandernden Schultern und rennenden Bächen im Herrn der Ringe. An so vielen Stellen konnte Alan Turner Beschreibungen von menschlichen Körperteilen und Bewegungen in der Landschaftsbeschreibung bei Tolkien entdecken, dass das reine Aufzählen allein die Zeit gesprengt hätte.“

Tolkiens Epos lebt von der Reisebeschreibung. Reiseliteratur ist auch in Deutschland ein bekanntes Genre – hier wird es jedoch mit einer selbstgebauten, riesigen Welt kombiniert. Die Tatsache, dass man nie alle wissen kann, trägt zum Mythos und zur Stimmung bei. Farbenfroh, menschlich, methaphernreich, pur – der Autor vereint seinen riesigen Wortschatz mit komplexer Geographie. Die unterschiedlichen Szenen und Landschaften unterstützen dies zusätzlich. Vom hügeligen Land der Hobbits, tiefen Wäldern, weiten Wiesen und drohenden Berge wird mehrfach zwischen positiv konnotierten, neutralen und negativen Umfeldern unterschieden. Die Landschaften reflektieren dabei immer die aktuelle Stimmung und tragen zur Spannung bei.


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Obschon auch J. K. Rowlings Harry Potter (ab 1997) zum Genre der Fantasy gehört, schlägt sich der Unterschied in der Zielgruppe durch. Im Gegensatz zur Adult-Fantasy, sind die frühen Teile von Harry Potter für Kinder und Jugendliche gedacht. Die Sprache ist einfacher, die Metaphern besser verständlich und die Wortwahl weniger düster und episch. In jedem neuen Teil wird die Sprache dem Alter der Zielgruppe angepasst, was den Erfolg der Buchreihe stützt. In Harry Potter und der Stein der Weisen gibt es einige Beispiele von Landschaftsbeschreibungen, welche besonders Kinder fesseln und begeistern sollen. Deren Aufmerksamkeitsspanne ist verkürzt, sie können also nicht zu lange sein – gleichsam erschafft Rowling jedoch eine Welt, die sie sich vorstellen können und wollen. Angefangen bei dem Vorstadt-Haus der Dursleys, über die stürmische Insel, die steilen Fahrten bei Gringotts und die Winckelgasse, bis hin zur vorbeihuschenden Landschaft bei der Zugfahrt zur Schule und der ständig wechselnden großen Halle. Doch nichts spricht so für die lebhafte Landschaftssprache wie die erste Beschreibung von Hogwarts.

„Der enge Pfad war plötzlich zu Ende und sie standen am Ufer eines großen schwarzes Sees. Drüben auf der anderen Seite, auf der Spitze eines hohen Berges, die Fenster funkelnd im rabenschwarzen Himmel, thronte ein gewaltiges Schloss mit vielen Zinnen und Türmen.“


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Schloss Hogwarts


Für die harte Linie zwischen den Landschaftswahrnehmungen in der Phantastik ist natürlich auch die zeitliche Diskrepanz zwischen Rowling und Tolkien verantwortlich.

Kinderliteratur und Phantasie

Gezielte Literatur für Kinder arbeitet mit ähnlichen Merkmalen wie Rowling, setzt sich jedoch trotzdem davon ab. Mira und der Kreidestrich (2002) ist ein wundervolles Kinderbuch über die Liebe zur Erde. Autorin Christiane Sautter nutzt eine farblich angereicherte, ja fast gesättigte Sprache.

„Unter sich sah sie den Wald liegen. Sie wunderte sich, daß sie gar keine Angst hatte, so tief nach unten zu schauen. (…) In der Ferne erspähte sie den spiegelblanken See, auf dem weiße Schiffe fuhren. Und dann die Berge! Sie blickte über die erste Bergkette hinweg. Dahinter lagen wieder Berge, und weit in der Ferne konnte sie schneebedeckte Gipfel unterscheiden.“

Sautter kombiniert die einfache Wortwahl mit persönlichen Details aus dem Leben der Protagonistin.

Cornelia Funke hingegen weist ein reiches Repertoire an Kinderbüchern mit fantastischen Landschaften auf. Drachenreiter (1997) mit seinem Wechsel an grauen europäischen Städten, mittelalterlichen Burgen, heißen Wüsten, weiten Meeren und dem wundervollen Himalaya – alles vom Rücken eines Drachen aus;


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Himalaya, Nepal 


Lilli und Flosse (1998) mit Schiffwracks, Höhlen und einer vollkommenen Welt unter Wasser; Der Herr der Diebe (2000) mit der absoluten Fantastik und Romantik, aber auch den schmutzigen Seiten Venedigs;


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Glockenturm, Venedig


Igraine Ohnefurcht (1998) mit dem tollen Mittelalter-Setting und der Reise durch längst vergangene Naturstriche und Zeiten.
Keines ihrer Kinderbuch ist jedoch so Beispielhaft für den Sprachreichtum und die unfassbar schönen Beschreibungen wie Emma und der blaue Dschinn (2002).

„Als Emma die Augen wieder aufschlug, hing die Sonne rot über einem sehr, sehr fremd aussehenden Land. Emma sah Palmen und Türme, Kuppeln und weiße Häuser, die wie Waben eines Wespennestes aneinander klebten.“


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Tadrart Acacus, Sahara, Lybien und Marrakesch, Marokko


Egal an welche Altersgruppe sich ihre Bücher auch richten, ihrer Kombination aus kindgerechter, moderner Sprache und bunten, lebhaften, szenischen Landstrichen. Sie führt Eltern und Kinder gleichsam in fremde Länder und Kulturen ein.

Ältere Zielgruppen und nüchterne Landschaften

Jugend- und Erwachsenenromane bedienen sich einer anderen, komplexeren Ausdrucksweise. Zunächst zu Odysseus. Homers Erzählung stammt aus der Antike und nutzt Beschreibungen der Landschaft nur spärlich und unterstützend zur Handlung. Trotzdem untermalt seine Naturbeschreibung die Lebhaftigkeit der Erzählung.


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Athen, Griechenland


Auch hier ist die Sprache einfach gehalten, jedoch auf eine ganz andere Art und Weise, als in der Kinderliteratur. Kinderbücher sind reich an Metaphern und Vergleichen, Erwachsenenliteratur hingegen stützt sich auf Adjektive.

Max Frisch und Franz Kafka sind beide sehr nüchtern in ihrem Wortschatz. In Homo Faber (1957) soll dies den Charakter des Protagonisten ausdrücken. Die Sprache verrutscht im Laufe des Romans in Relation zu seinen Erfahrungen.

„Als der Mond aufging (…) zwischen schwarzen Agaven am Horizont, hätte man noch immer Schach spielen können, so hell war es, aber plötzlich zu halt; wir waren hinausgestapft, um eine Zigarette zu rauchen, hinaus in den Sand, wo ich gestand, daß ich mir aus Landschaften nichts mache, geschweige denn aus einer Wüste.“

Frischs Charakter ist ein ernster, wortkarger Mann, der zu jeder Zeit vollkommen rational handelt und spricht. Zumindest beschreibt er sich selbst so. Die Welt aus seiner Sichtweise zu protokollieren, führt Frisch zu einem rohen, fast brutalen Sprachbild, was sich vereinzelnd im Ekel verliert. Dies ändert sich erst, als der Protagonist gebrochen und emotional wird.

Kafka schreibt in Amerika (1927) auf eine ähnliche Art und Weise. Bei ihm ist es jedoch auf seinen eigenen Charakter und die Epoche zurück zu führen. Landschaftsstriche sind rar und knapp gezeichnet, die Fantasie fehlt. Vieles ist grau, riecht abstoßend und liest sich repetitiv, wobei dies den Leser nicht langweilt, sondern fasziniert. Kafka meistert es, Leser*innen mit Eintönigkeit anzulocken, statt abzustoßen, da es seinen speziellen Schreibstil stützt. Denn trotz allem sind seine Beschreibungen zielführend. Obwohl er  bewusst keine blumige Sprache nutzt, die den Leser*innen die Welt vormalt, so werden seine Landschaften den Rezipient*innen doch akribisch vorgezeichnet.

„Große Schiffe kreuzten gegenseitig ihre Wege und gaben dem Wellengang nur so weit nach, als es ihre Schwere erlaubte. Wenn man die Augen klein machte, schienen diese Schiffe vor lauter Schwere zu schwanken. Auf ihren Masten trugen sie schmale, aber lange Flaggen, die zwar durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem aber noch hin und her zappelten.“


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Lincoln Victory, Kalifornien


Er schreibt nicht ausschweifend und fantasievoll genug, um es Leser*innen zu erlauben, sich in die Figuren zu versetzen, aber detailliert und technisch genug, um zu zeigen, dass man sich gar nicht in die Hauptfigur hineinversetzen muss. Es reicht vollkommen, die Reise von Karl Roßmann von Außen und doch durch ihn hindurch zu betrachten/erleben.

Fazit

Bei guten Landschaftsbeziehungen ist es wichtig mit Vergleichen zu arbeiten, die den Leser*innen genug Raum für die eigene Vorstellung lassen. Gleichzeitig müssen komplexe Landstriche gut genug vorgezeichnet werden, um zu ermöglichen, die Gedanken und Vorstellungen der Autor*innen nachvollziehen zu können. Dabei ist Zielgruppe und Genre das A und O. Wie man an den Beispielen sieht, gibt es tausende Formen und Arten Landschaften zu umschreiben. Gewaltige, epische Sprache, einfache, bunte Ausdrücke oder kühle, distanzierte Beschreibungen.

Jede*r Autor*in muss sich des eigenen Stils für Landstriche und Naturbeschreibungen bewusst werden. Wortwahl, Metaphern und Adjektive entscheiden dabei über Anschaulichkeit und Lesevergnügen. Ob man sich also auf Pinterest Bilder heraussucht für die eigene Fantasie, zu Orten reist, welche einen inspirieren oder sich alles einfach ausdenkt – nichts verleiht Romanen so viel Leben wie die Darstellung der Orte und Landschaften.

Sexuelle Gewalt im Mediengedächtnis

 

Tragische Vorgeschichten (1)

Sexuelle Gewalt im Mediengedächtnis und als tragische Vorgeschichte


TW: Sexuelle Gewalt, Cissexismus, Sexismus, Bild eines abgetrennten Medusakopfes, Bilder, die sexuell anzüglich sind, historische Darstellungen von sexueller Gewalt.


Dieser Blogtext wird euch kostenfrei zur Verfügung gestellt, falls ihr mich und meine Arbeit unterstützen wollt, könnt ihr das hier: Paypal.


Disclaimer: In diesem Artikel ist von (nicht zwingend cis) weiblichen und männlichen Opfern/Täter*innen die Rede, da nicht binären Menschen und die generelle LGBTQA+ Community ein besonderes Verhältnis zu sexueller Gewalt haben, dass zu tief geht, um es gebührend einzubringen. Am Ende des Beitrags wird ein Artikel zum Thema verlinkt.


Eine gut geplante Hintergrundgeschichte ist ausschlaggebend, um Figuren in Büchern, Serien, Filmen und anderen Medien mehr Leben einzuhauchen. Ohne sie wirkt alles platt und lieblos entworfen. Dabei spielt die tragische Vorgeschichte eine wichtige Rolle, besonders, wenn es um Frauen geht. In diesem Beitrag werden die Fragen beantwortet, warum sexuelle Gewalt dazu oft als billiges Stilmittel genutzt wird und woher die Faszination an „der leidenden Frau“ kommt. Er stellt den persönlichen, medienbasierten Versuch einer Analyse des Stilmittels dar und ist dementsprechend als reiner Meinungsartikel zu lesen.


Das Bild der leidenden Frau

In den Medien sind wir von der Manifestation sexueller Gewalt umzingelt: dem Bild der leidenden Frau. Sie ist überall. In manchen Fällen scheint es, als wäre das Leiden die einzige Aufgabe der Frau. Dabei muss man sich als Rezipient*in und Produzent*in klar machen, was da als Stilmittel verwendet wird: nämlich die Geschichten realer Opfer.

Es ist leicht, in die Fußstapfen von Medienproduzent*innen zu steigen, die sexuelle Gewalt als simples Mittel zur Definition einer mittlerweile klassischen Frauenrolle nutzten. So geht die Faszination an leidenden Frauen im 21. Jahrhundert in die nächste Runde. Ein Fetischrelikt aus der Zeit, in der nur Männer die Filme drehten und (Dreh)Bücher schrieben, der Zeit des male gaze. Anders als diese Männer starb die mediale Aufregung um sexuelle Gewalt jedoch nicht in den 90ern an Alkoholkonsum und Kokain.

Heute finden sich in jeder Krimiserie ermordete Frauen und wenn Figuren eine Hintergrundgeschichte brauchen, die tragisch und abschreckend sein soll, greifen Autor*innen automatisch zur sexuellen Gewalt. Kaum etwas ist im medialen Gedächtnis so stark verankert, wie Vergewaltigungsdarstellungen. Dass uns das noch immer beschäftigt, zeigte sich 2018 an der Kontroverse um die sogenannte „Butterszene“ aus Der letzte Tango in Paris. Die Rollenverteilung ist klar: Die hilflose Frau wird vom Bösewicht erobert, der zwar generell „negativ“ dargestellt wird, aber halt doch irgendwie ein cooler Stecher und badass ist. Die Schauspielerin wird von der Szene überrascht für eine „bessere Reaktion“. Hierbei wird die Frage danach, was Kunst darf, über das Leben einer Frau gestellt. Sie stellt die Rolle der leidenden Frau nicht nur dar, sondern wird zu ihr, verschmilzt mit ihr, um die Kunst realer zu machen.

Wir schaffen es bis heute nicht, moralische Grenzen zu setzen, wenn es um das Leiden der Frauen geht. Die tote Prostituierte in Criminal Minds hat es halt doch ein bisschen verdient, wenn der Täter schwarz ist, hat man schon die ganze Zeit geahnt, dass er das war, der hämische Polizist, der dem Opfer nicht glaubt, ist eben noch vom alten Schlag und wenn die Figur des Vergewaltigenden nicht männlich, generell angsteinflößend und böse ist, gibt es dutzende Ausreden und Verteidigungen. Aus einer Straftat wird eine Kontroverse. Wie sympathisch darf ein*r Täter*in sein? Wie weit vom Stereotyp entfernt man sich? Was darf man darstellen und wie?

Wenn es dann auch mal um das Trauma von Männern geht, die missbraucht werden, landen wir bei Büchern/Filmen wie 50 Shades of Grey, in denen die männliche Hauptfigur seine Vergangenheit versteckt, sich schämt und permanent „es gefiel ihm ja irgendwie doch“ im Hintergrund mitschwingt. Zudem wird es als Ausrede für sein Fehlverhalten (Stalking, sexuelle Gewalt, Kontrolle einer Frau) gebraucht. Männer dürfen nicht leiden, Frauen müssen es.


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James Sant, Contemplation


Westliche Geschichte als Vorbild

Diese Darstellungen kommen nicht (nur) aus der Zeit, in der jeder zweite mediokre cis Mann mit einer Kamera tragische Filme über leidende Frauen drehte. Das Medienphänomen der sexuellen Gewalt ist so alt wie die (westliche) Kultur. Das Paradebeispiel für grausige Geschichten, mehr Vergewaltigungen, als man zählen kann (und möchte) und dem typischen Bild der leidenden, schwachen Frau ist die (griechische/westliche) Mythologie. Damit findet sie sich in Erzählungen überall um uns herum.

Wie etwa in der Geschichte hinter dem Sprichwort „mit Argusaugen beobachten“. In der Mythologie wird eine junge Frau namens Io von Zeus bedrängt und vergewaltigt. Hera verwandelt sie zur Strafe in eine Kuh, die dann von dem Riesen Argus bewacht wird. Auch der Raub der Europa ist eine Geschichte über sexuelle Gewalt, die uns tagtäglich begleitet und die Erzählungen um den Gott Pan sind schlichtweg grauenvoll. Unser Kulturgut ist voller sexueller Gewalt. Ist es da ein Wunder, dass sie uns bis heute in allen Medien begleitet?

Medusas Geschichte ist der Prototyp der tragischen Hintergrundgeschichte; inklusive sexueller Gewalt, Rache der Gattin des Täters (was die Frage nach dem Ursprung internalisierter Misogynie weckt) und Distanzierung zwischen Tat und Opfer. Durch die Mythisierung des Gewaltakts wird dieser zur reinen Gräueltat und das Opfer wird in den Hintergrund geschoben. Er dient zur bloßen Abschreckung, statt zur Reflexion. Moralische Linien werden zugunsten einer gut zu erzählenden Geschichte verbogen.

Das begegnet uns auch im Mittelalter wieder. Dort wurde sexuelle Gewalt so stilisiert, dass die Menschen bis heute historische Korrektheit schreien, um in ihren Mittelalterromanen, Filmen, Serien und Spielen möglichst viele Vergewaltigungen einzubauen. Auch hier natürlich nur an Frauen. Denn die Realität ist nicht das, an was wir uns erinnern. Wir haben nur die Darstellungen seit der Antike vor Augen; die Männer als Täter und Frauen als Opfer. In diesen Medien wird nicht nur die Perspektive der männlichen Opfer komplett ausgeklammert, auch die weiblichen kommen nicht zu Wort. Denn die, die Sprechen, sind nie Opfer. Man sieht die leidenden Frauen immer passiv. Ihr Leiden und ihre Reaktion wird von Menschen nacherzählt, die keine Ahnung haben, wie es wirklich war.

Es ist fester Bestandteil unserer Kultur, unseres Mediengedächtnisses und unseres Alltags, dass sexuelle Gewalt etwas „Normales“, ja fast „Natürliches“ ist, das festen Regeln folgt. Die leidende Frau ist also mehr als nur ein Stilmittel, sie ist allgegenwärtige Realität, die tief in unserem Verständnis von (westlicher) Geschichte und Literatur verankert ist. Das fällt zu Teilen in das, was man rape culture nennt. Wir werden mit diesem Wissen sozialisiert und nutzen es, um sexuelle Gewalt zu rechtfertigen, kleinzureden – und sie uns anzueignen.


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o. A., Head of Medusa


Das Problem mit tragischen Vorgeschichten

Diese Aneignung ist es, die tragische Vorgeschichten, die aus sexueller Gewalt bestehen, schwierig macht. Wir sind so umgeben von dieser Art der Gewalt, dass es leicht fällt zu ignorieren, dass es tatsächliche Betroffene gibt, deren Erfahrungen man sich zu eigen macht. Deren Geschichten sind es, die als dramatisches Stilmittel genutzt werden. Das ist etwas, was sich niemand anmaßen darf. Aber wir sind daran gewöhnt, weil wir in unserem Kulturgut nie etwas anderes kennenlernten.

Nichtbetroffenen steht es nicht zu, zu raten, wie jemand wohl reagiert und dann davon ausgehend ihre Protagonist*innen als „stark“ oder „schwach“ zu betiteln. Dazu ist das Thema zu divers und zu real. Es gibt nicht eine Art von Opfern/Überlebenden. Das Leiden vor die Person zu stellen, reale Opfer damit zu stigmatisieren und sich daran selbst zu bereichern (oder es zu nutzen, um sich als kontrovers darzustellen) ist nicht akzeptabel.

Trigger und falsch dargestelltes Trauma sind kein Witz/simples Stilmittel. Wir führen die Tradition der leidenden Frauen weiter, statt sie endlich aus unserem Mediengedächtnis zu streichen. Frauen brauchen immer eine tragische Hintergrundgeschichte und wenn man sie schreibt, dann das volle Programm. Inklusive bösen Träumen, Konfrontation mit dem (natürlich cis männlichen) Täter und unrealistischen Therapiesitzungen. Am Ende kann die Frau endlich wieder vertrauen, weil sie den einen Mann gefunden hat, der sie all ihr Trauma vergessen lässt. So funktioniert das im echten Leben nicht und Menschen, die diese Themen unreflektiert behandeln, müssen endlich Konsequenzen sehen.

Wir haben als Gesellschaft eine Verantwortung, uns darauf zu einigen, wo wir moralische Grenzen setzen und wo wir die Diskussionen und Kontroversen beiseitelegen, um im Konsens zu sagen: Das geht zu weit. Keine lange Medienausschlachtung, die das Buch/den Film/die Serie noch bekannter macht. Ein kollektives Im-Keim-Ersticken der Werke, die es 2019 noch immer nicht begriffen haben. Dazu gehören bekannte Titel wie 50 Shades of Grey und Kingdom Come: Deliverance, aber auch Indietitel, Bücher von Selfpublishern und underdog Netflixserien.


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Peter Paul Rubens, The Rape of Proserpina


Klischees und sexuelle Symbolik

Das Problem an Szenen, die sexuelle Gewalt zeigen, ist oft ihre Umsetzung und der Grund, warum sie existieren. Sexuell aufgeladene Waffen wie das Messer werden genutzt, ohne das man sich der Bedeutung bewusst ist.


[Messer sind eine sexuell aufgeladene Waffe, da sie den Akt des Eindringens symbolisieren. Dies wird so oft in Darstellungen von sexuellem Sadismus genutzt, dass viele die Assoziation zwischen sexueller Gewalt und Messern haben, ohne zu verstehen, woher sie kommt. Die wenigsten Vergewaltigungen geschehen jedoch aus sexuellem Sadismus heraus, was die Verknüpfung der generellen Tat mit dem Messer problematisch macht. Meistens wird sexuelle Gewalt von psychologischer und verbaler Gewalt begleitet, nicht von physischer. Das Problem hierbei ist also, dass Menschen Waffen und sexuelle Gewalt so sehr miteinander verbinden, dass es ihnen schwer fällt, Opfern, die nicht von einer Waffe bedroht wurden, zu glauben.]


Die sexuelle Gewalt wird eingebaut, weil man ein Schockelement braucht. Dabei machen sich die wenigstens bewusst, dass es mehr als nur das ist. Weitere Probleme, die es in der Darstellung von sexueller Gewalt gibt:

  • Victim blaming (besonders bei Sexarbeiter*innen).
  • „Klassische“ Geschlechterrollen und eine binäre Sichtweise.
  • Das Aufkommen des Traumas nur dann, wenn es für den Plot passend ist.
  • Die Bezeichnung einer Vergewaltigung als „harter/unfreiwilliger Sex“. (Eine Vergewaltigung ist kein Sex, sondern ein Gewaltakt!)
  • Das Ausblenden der Tatsache, dass Täter*innen zumeist nahe Bekannte oder sogar Familienmitglieder sind, die man nur schwer als solche wahrnehmen kann/will.
  • Das Niedermachen männlicher Opfer (z. B. durch Seifen- und Gefängniswitze).
  • Die Darstellung von Trauma, wie man es sich als Außenstehende vorstellt, statt wie es tatsächlich ist.
  • Das Weglassen der Machtstrukturen, die hinter sexueller Gewalt stehen. (Diese ist immer ein Machtakt, nie ein Sexakt. Es geht nicht um die Erfüllung sexueller Bedürfnisse, sondern um das Stärken von Machtpositionen. Ausnahmen sind extrem selten und bedeutet viel Recherche über die psychologischen Auslöser.)

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Nikko Russano, The Male Gaze


Warum sexuelle Gewalt?

Die Frage, die man sich als Autor*in oder Medienproduzent*in immer stellen sollte ist: Warum muss hier eine Vergewaltigung hin?

Das Thema an sich kann gut und mit Mehrwert vermittelt werden. Aber sexuelle Gewalt, insbesondere Gewalt an Frauen, wird in fast jedem Medium gezeigt und ausgeschlachtet. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es unmöglich ist, den Fernseher anzumachen oder ein Buch aufzuschlagen, ohne auf sexuelle Gewalt oder den Mord an einer Frau zu treffen. Dabei sind diese Vorkommnisse im echten Leben bereits zu real, zu viel und zu belastend. Es ist ein unfassbarer Druck, immer und überall mit toten oder geschändeten Frauen konfrontiert zu werden. Die Rechtfertigung, dass jemand eine Hintergrundgeschichte brauchte, wirkt wie ein schlechter Scherz. Denn besonders für die LGBTQA+ Community, Sexarbeiter*innen, Opfer jeden Geschlechts und Angehörige ist es kein lapidares Thema, was man als Hintergrundgeschichte verkleiden kann, sondern ein grausiger Alltag aus den Nachrichten und dem Freundeskreis.

Ohne triftigen Grund, gute Recherche und sensiblen Schreibstil sollte man nicht noch ein Medium liefern, in dem jemand vergewaltigt wird. Das braucht weder die Film- und Serienlandschaft, noch die Buchwelt. Die Realität der Opfer ist kein Stoff, aus dem Nichtbetroffene sich eine tragische Vorgeschichte für ihre Figuren erdichten können. Das ist einfach respektlos und zeugt von schlechtem Stil.


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o. A., Perithoos Hippodameia


Fazit

Sexuelle Gewalt steckt in der (westlichen) Kultur, Geschichte und Medienlandschaft. Wir alle werden mit Stereotypen und problematischem Grundwissen sozialisiert und wachsen in der Annahme auf, dass sexuelle Gewalt normal ist, dazu gehört und dass es immer irgendjemanden treffen muss; dass es Vermeidbar ist, in dem man gewissen Regeln folgt. Dabei ist sexuelle Gewalt nicht nur eine Tat von Fremden und die Lösung ist nicht, einen Rock anzuziehen, der länger ist, als der der Frau neben uns, damit es sie trifft und nicht uns.

Unser Mediengedächtnis ist so voll von Variationen der leidenden Frau, dass es uns natürlich erscheint, als Nichtbetroffene über sexuelle Gewalt zu schreiben. Weil man das Gefühl hat, man wüsste, wie das ist; weil es ja „allgemeines Wissen“ ist. Immerhin gibt es überall Darstellungen davon. Die moralischen Grenzen sind so schwammig gesetzt, dass es als Kontroverse gilt, wenn jemand, der in Serien/Filmen/Büchern unschuldig wäre, als Täter*in dasteht. Kann man dem Opfer glauben, wo uns doch jahrtausendelang eingetrichtert wurde, wie sexuelle Gewalt, ihre Opfer und die Täter*innen auszusehen haben?

Es wird Zeit uns davon loszusagen, was in den Medien als Realität gezeigt wird. Die Aneignung von Erfahrungen ist nicht akzeptabel, um eine „interessante“ und „grausige“ Hintergrundgeschichte zu erfinden. Ebenso, wie es nicht akzeptabel ist, die vom male gaze der Filme des 20. Jahrhunderts und den Mythen und Geschichten der (westlichen) Kultur geprägten Bilder über sexuelle Gewalt und leidende Frauen weiterhin bedingungslos zu verbreiten.


Weiterführende Literatur

Vergewaltigung als TV-Trope (Englisch)

Der Medusamythos und weibliche Wut (Englisch)

Über das Phänomen des „literary rape“ (Englisch)

Klischees in der Darstellung von sexueller Gewalt (Englisch)

Sexuelle Gewalt und die LGBTQA+ Community (Englisch)

Mythen über sexuelle Gewalt (Englisch)

Theoriebesprechung von Friedrich Schiller: Das Erhabene

Das Erhabene

Theoriebesprechung von Friedrich Schiller: Das Erhabene (1801)


Im Folgenden wird, sofern nicht explizit anders gekennzeichnet, zitiert aus dem Kapitel Ueber das Erhabene in: Friedrich Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie. Hrsg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2009. S. 99-117.


Ueber das Erhabene erschien 1801 als Essay in dem Band Kleinere prosaische Schriften und schließt sich thematisch an Schillers Aufsätze Vom Erhabenen und Ueber das Pathetische an. In diesen Schriften setzt sich Schiller mit den Ideen Kants bezüglich des Erhabenen auseinander und setzt sie in Verbindung mit den Abhandlungen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen und Ueber das Pathetische, indem er die Schriften zusammen publiziert. Der so erstandene Zusammenhang ist bei der Rezeption der theoretischen Texte zu beachten.

Was ist das Erhabene? Schillers Menschenbild

Vorab kurz dazu, was das Erhabene eigentlich ist – sofern man das denn feststecken kann. Denn das Erhabene wird von jedem/jeder Theoretiker*in neu definiert. Generell beschreibt das Erhabene alles, was wir als Menschen nicht (er)fassen können. Wenn wir etwa in der Natur sind und ihre Schönheit uns überwältigt oder wir unsere eigene Sterblichkeit und Ohnmacht durch etwas erfahren, wenn Naturgewalten wüten oder auch, wenn religiöse Menschen über Gott nachdenken. Was genau hat das mit Literatur zu tun? Bei Kant ist das Erhabene von dem Schönen und der Kunst abgekoppelt, bei Schiller jedoch nicht. Er schreibt der Kunst eine wichtige Rolle zu.

Um eine Basis für die folgenden Theorien zu schaffen definiert Schiller auf den ersten Seiten des Essays sein Menschenbild.

„[D]er Mensch ist das Wesen, welches will“ (S. 99)

So lautet die These, welche er noch auf derselben Seite erläutert. Der Mensch ist ein Wesen, wessen Prärogativ es ist, dass er mit dem gegebenen freien Willen und seinem Bewusstsein vernünftig handelt. Gewalt, hier als alles definiert, was gegen den Willen des Menschen geschieht, nimmt ihm dementsprechend die Menschlichkeit ab. Die Natur determiniert alles in und um sie herum, so auch den Menschen. Dieser hat sich im Rahmen der Evolution und technischen Fortschritts immer weiter ihrer Kontrolle entzogen und ist ihr in fast allen Fällen voraus. Nur der Tod, als letzte unumgehbare Komponente eines jeden menschlichen Lebens, bleibt bestehend.

Der Weg zur Freiheit

Folgt man Schillers Argumentation, so kommt man zu der Konklusion, dass ein jeder Mensch, so lange er dem Tod nicht entrinnen kann, nicht über freien Willen verfügt und somit seine Menschlichkeit abgesprochen bekommt. Schiller bietet zwei Lösungswege um der Gewalt zu entgehen:

Entweder r e a l i s t i s c h, wenn der Mensch der Gewalt Gewalt entgegensetzt, wenn er als Natur die Natur beherrschet; oder i d e a l i s t i s c h, wenn er aus der Natur heraustritt und so; in Rücksicht auf sich, den Begriff der Gewalt vernichtet. [sic] (S. 100)

Für diese beiden Möglichkeiten schreibt er dem Menschen zweierlei Kulturen zu, eine physische und eine moralische. Die physische Kultur soll dem Menschen durch Weiterbildung der sinnlichen Kräfte ermöglichen, die Natur bis zu einem gewissen Punkt zu kontrollieren. Da dieser Punkt spätestens beim Tod erreicht ist, braucht man die moralische Kultur. Sie soll uns dabei helfen zu begreifen, dass der einzige Weg aus der Beherrschung durch die Natur darin liegt, uns ihr zu unterwerfen.

Was im ersten Moment nach einem Widerspruch klingt, ergibt im Kontext mehr Sinn. In dem Menschen, spezifischer moralisch gebildete Menschen, welche die Fähigkeit dazu besitzen, die Punkte, an denen wir die Natur nicht kontrollieren können, als solche Annehmen und uns mit dem, was sie uns antut einverstanden erklären, ist es keine Gewalt mehr. Alles was von diesem Moment an folgt, was vorher ein Akt gegen unseren Willen war, fügt sich nun in unseren Willen ein. Damit ist in keiner Weise gemeint, dass man den Tod akzeptieren oder erwarten soll, wie es im Barock oft Thematik war, sondern dass man lediglich der Natur vorgreift, in dem man ihre Entscheidungen zu den eigenen macht.

Um dies zu verstehen und umzusetzen benötigt man, so Schiller, einen stärkeren Willen und mehr Klarheit, als es im restlichen Leben eines Menschen der Fall ist. Für das Erreichen dieser Qualitäten reicht es nicht aus, die moralische Seite von uns zu bilden. Wir müssen an die ästhetische Tendenz in unserem sinnlichen, physischen Wesen appellieren. Wie man aus der begrifflichen Einteilung durch Kant bereits erahnen kann, wird diese physische Seite von der Schönheit, die moralische von dem Erhabenen ausgebildet.

Die Schönheit und das Erhabene

Anders als bei Kant sind Schönheit und Erhabenes bei Schiller gleichwertig. Nur wenn sie beide zusammen in uns vertreten sind, befinden wir uns in der Lage, zu einem vollwertigen, moralischen Menschen zu werden. Das Schöne ist der Teil in uns, der trotz aller Versuche nicht von der Natur fortkommt. Indem wir uns wünschen, dass unsere Umgebung gut und schön sei, sind wir gefangen in unserem sinnlichen Denken. Wir machen uns durch unseren Wunsch von der Natur als unsere Umgebung abhängig. Die Stimme in uns, der es gleichgültig ist, ob Gegenstände um uns herum schön sind, die jedoch verlangt, dass dasjenige, welches bereits Existiert schön und gut sei, wird als das Erhabene bezeichnet.

Sehr einfach erklärt bedeutet dies, dass das Schöne in uns sich explizit von der Natur abhängig macht, durch den Wunsch von Schönem umgeben zu sein. Das Erhabene in uns verlangt von der Natur, dass alles, was sie schafft, schön ist und setzt sich so frei, da es sich in die Machtposition über der Natur stellt, statt sich unter ihr einzuordnen. Trotzdem sind beide Teile unabdinglich für unsere Menschlichkeit und den Begriff der Freiheit für uns:

Wir fühlen uns frey bey der Schönheit, weil die sinnlichen Triebe mit dem Gesetz der Vernunft harmonieren; wir fühlen uns frey beym Erhabenen, weil die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluss haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinem andern als seinem eigenen Gesetzen stünde. [sic] (S. 103)

Die Schönheit ist das erste, was uns als Menschen anzieht. Sie bildet uns für die ersten Lebensjahre, in welchen wir noch nicht bereit für das Erhabene sind. Während sich unser Geschmack formt, bilden wir uns moralisch weiter und entwickeln den Verstand, welcher unabdinglich für unsere Fähigkeit das Erhabene in uns aufzunehmen ist. Hier sind wir bereits bei der ästhetischen Erziehung angelangt, welche Schiller sehr eng mit seinen Gedanken über das Erhabene verknüpft. Die Schönheit begleitet uns bei allen sinnlichen Lebenserfahrungen, das Erhabene führt uns darüber hinaus. Zusammen bilden sie uns zu einem Menschen aus und machen uns zu dem, was wir sind.

Das Schöne alleine übernimmt einen großen Teil dieser Ausbildung, wir benötigen das Erhabene jedoch, um uns selbst zu erkennen. Erst durch die Erfahrung von etwas, dass über unsere übliche Fassungskraft hinausgeht und sowohl schön wie auch schaurig ist, wird uns klar, dass wir zwei Naturen in uns vereinigen. Wir alle besitzen zwei Seiten, welche komplett unterschiedliche Verhältnisse zu dem vor uns haben. Keine der beiden Instanzen dominiert, was uns als Mensch aufzeigt, dass wir die sind, die entscheiden und nicht eine der beiden Naturen.

Kants Einfluss und die Bedeutung von Fantasie

Die Aufteilung des Erhabenen in Fassungskraft und Lebenskraft ist stark an Kants mathematisches und dynamisches Erhabenes angelehnt. Sehen wir etwas, was die oben beschriebene Reaktion auslöst, so beziehen wir dies entweder auf unsere Fassungskraft in dem wir versuchen uns ein Bild davon zu machen, oder aber wir beziehen es auf unsere Lebenskraft und sehen unsere eigene Ohnmacht darin. Beides zeigt uns eigene Grenzen auf, jedoch ohne uns abzustoßen. Wir werden angezogen von dieser Unverständlichkeit von uns selbst. Unsere Fantasie ist es, die es uns erlaubt, über die eigentlichen Grenzen unserer Macht hinaus zu denken und das Erhabene überhaupt erst zu begreifen.

Wir ergötzen und an dem Sinnlichunendlichen, weil wir denken können, was die Sinne nicht mehr fassen, und der Verstand nicht mehr begreift. Wir werden begeistert von dem Furchtbaren, weil wir wollen können, was die Triebe verabscheuen, und verwerfen, was sie begehren. [sic] (S. 104)

Im Erhabenen wollen wir, was wir nicht wollen müssen und sind damit effektiv frei. Es ergibt keinen Sinn, dass wir uns von etwas angezogen fühlen, was uns verwirrt und unsere eigenen Grenzen aufzeichnet und doch hat es diese Wirkung auf uns. Indem wir uns davon distanzieren, was unser sinnlicher Teil will, sind wir vollends frei. Das Erhabene ermöglicht uns dies, durch seine eigene Unmöglichkeit.

Das Große und das Kleine

An dieser Stelle kann man sich fragen, ob es nicht unlogisch ist, wenn wir unseren Verstand nutzen, um etwas verstehen zu wollen, was unmöglich zu verstehen ist. Allerdings ist das Erhabene wichtig für unser Selbstverständnis, da wir selbst ebenso unmöglich sind.

„[D]as relativ Große (…) ist der Spiegel, worinn er das absolut Große in [sich] selbst erblickt.“ [sic] (S. 109)

Haben wir einmal das Große gesehen, so reicht uns das Kleine nicht mehr. Durch das Erwachen des Erhabenen in uns, wollen wir alles um uns herum sortieren und ordnen – auch die Welt an sich. Begreifen wir nun, dass man eben diese Größe nicht begreifen kann, so verstehen wir erst, was in uns selbst vorgeht. Unser Verstand, das Große in uns, ist ebenso unverständlich wie die Welt an sich. Das Chaos, welches keine Ordnung findet, macht uns ebenso aus, wie das unbegreifliche um uns herum. Einfach gesagt suchen wir in der Welt nach Verbindungen, weil wir annehmen, dass es sie geben muss. Wenn wir einsehen, dass dies nicht der Fall ist, sehen wir auch, dass unsere Vernunft genauso funktioniert. Auch in ihr gibt es diese Zweckverbindungen nicht. Wir lernen über unsere eigene Vernunft, in dem wir aufgeben zu versuchen, das Erhabene um uns herum verstehen zu wollen.

Doch nicht nur die Natur kann diesen Effekt auf uns haben, auch Menschen die einen erhabenen Charakter besitzen, können uns auf diese Spur bringen. Ein moralischer Charakter zeichnet sich dadurch aus, dass jemand die Tugenden besitzt. Warum ist für außenstehende unwichtig. Wir neigen dazu, die Absichten dieser Menschen zu hinterfragen, wobei das nicht nötig ist, so lange sie nur anhand der Tugenden handeln. Verliert ein Mensch jedoch alles, was ihn an diese Welt bindet, Status, Familie, Gesundheit, uns handelt noch immer nach den Tugenden, so ist er erhaben. Denn wenn jemand ohne weltliche Bindungen diese Moralvorstellung aufrechterhält, so ist dies für uns ebenso ungreifbar, wie die Macht des Erhabenen in der Natur. Unser Ideal ist das Leben in der sinnlichen Welt ohne unsere moralische Seite aufzugeben zu müssen. Schiller fasst diese Gedanken folgendermaßen zusammen:

Nur wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet, uns unsre Empfänglichkeit für beydes in gleichem Maaß ausgebildet worden ist, sind wir vollendete Bürger der Natur, ohne deswegen ihre Sklaven zu seyn, und ohne unser Bürgerrecht in der intelligibeln Welt zu verscherzen. [sic] (S. 116)

Fassen wir an dieser Stelle einmal kurz alles zusammen, bevor die Rolle der Kunst diskutiert wird. Der Mensch ist nur frei, wenn er von nichts determiniert wird. Dazu muss er sich der Natur ergeben, um ihrer Gewalt zu entgehen. Für diesen Prozess benötigt er sowohl seine sinnliche Seite, als auch seine moralische. Das Erhabene hilft uns, unsere eigene Größe anzuerkennen und unseren Charakter so zu stärken, dass wir uns der Natur ohne Vorbehalte unterwerfen können um frei zu sein. Nun ist die Frage, wie genau dies erreicht werden kann. Hier kommt das Pathetische hinein, was Schiller in anderen Schriften ausbaut und erläutert.

Was ist das Pathetische?

Das Pathetische ist, stark verkürzt und vereinfacht gesagt, Leiden, welches durch die Kunst ausgedrückt wird und uns so ermöglicht, wie durch einen Filter hindurch dieses Leiden zu erfahren.

Schiller beschreibt verschiedene Möglichkeiten einer Umsetzung, von der Antike bis ins zeitgenössische Frankreich hinein. Das Pathetische ist ein künstliches Unglück, welches es uns ermöglicht aus sicherere Distanz heraus die erhabene Rührung zu erfahren. Normalerweise braucht der Mensch die Natur dazu. So wird man bei Kant durch das Erfahren einer Tragödie (ohne an ihr Teilzunehmen) in diesem Feld gebildet. Schiller eröffnet dem Menschen also eine Möglichkeit, ohne die Realerfahrungen diese Kompetenzen zu bilden.

Die Rolle der Kunst

Vorteile der Kunst sind zu einen die Konzentration des Leidens, da die Kunst sonst keine Aufgabe hat, anders als die Natur. Aber auch die Tatsache, dass uns reale Tragödien oft ohne Vorwarnung treffen und wir so zu emotional verwickelt sind, um das Erhabene zu erfahren, spielt eine wichtige Rolle. Wir trainieren an dem künstlichen, um für reale Ereignisse besser gewappnet zu sein. Um uns eine Tragödie zu bieten, muss in der Natur Gewalt geschehen. In der Kunst ist dies nicht der Fall. Künstliche Tragödien sind also in jedem Fall die menschlichere Variante.

4. Revolution und Modernisierung: Die Horváth-Fleißer-Kontroverse

Revolution und Modernisierung_ Die Horváth-Fleißer-Kontroverse

Revolution und Modernisierung: Die Horváth-Fleißer-Kontroverse


TW: Schwangerschaft, Abtreibung, Kindsmord, (sexuelle) Gewalt, explizite Sprache, Thematisierung des Nationalsozialismus


Hallo und herzlich willkommen zur Blogreihe: Volksstück. Dies ist der vierte Beitrag der Reihe. Einen Überblick auf alle Beiträge findet ihr hier.


In diesem Beitrag soll es um die Modernisierung des Volksstücks gehen. Genauer um die Änderungen, die zwischen 1918 und 1933 auftraten und das Volksstück weitergehend prägten.

1918-1933 umfasst den Zeitraum der Weimarer Republik – einer hochpolitischen Umbruchphase deutscher/europäischer Geschichte. Anfänglich noch von der Russischen Revolution und den Auswirkungen des Zusammenbruchs des Kaiserreichs beeinflusst, wurde der Nationalsozialismus zusehends zum Thema in der Literatur und bildenden Kunst. Autor*innen mutierten zu politischen Figuren, jede Schrift wurde zu einer Stellungnahme.

Auch wenn es zahlreiche Schriftsteller*innen gibt, die man in dieser Zeit verorten kann (wie Brecht, Ernst Toller oder Carl Zuckmayer), fokussiert sich dieser Beitrag auf die beiden Autor*innen Marieluise Fleißer und Ödön von Horváth. Den beiden wird – natürlich je nach Forschungsmeinung – häufig die Hauptrolle in der Modernisierung des Volksstückes zugeschrieben. Die Fragwürdigkeit und Forschungskontroverse darum, inwiefern Fleißers Errungenschaften Horváth zugesprochen werden, stellen die Fragestellung dieses Beitrags dar.

Der Umbruch des Volksstücks – Politisierung und Revolution

Bevor wir uns Fleißer und Horváth widmen, noch ein kurzer Exkurs zu Ernst Toller. Der linkspolitische Schriftsteller zählt nicht zu den Volksstück-Autor*innen, zumindest nicht direkt, trotzdem lohnt sich eine kurze Betrachtung seiner Person.

Toller markiert den Übergang zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit. In seinen Dramen verbindet sich dies mit der extremen Politisierung der Werke im frühen 20. Jahrhundert. Toller selbst schrieb aus dem Gefängnis heraus an seinem Drama Masse Mensch (1919). Dieses diskutiert die Diskrepanz zwischen einem von Gewalt geprägten Vorgehen der breiten Masse und einer von Vernunft geleiteten Revolution. Auch das Gefängnis und den Preis, den Revolutionär*innen zahlen, ist Teil des Stücks. Die getriebene Erzählweise und die (un)klare Abgrenzung zwischen dem Mensch und der Masse stehen als Ausläufer des Expressionismus in der deutschsprachigen Literaturlandschaft.

1927 unter Erwin Piscator inszeniert ist ein späteres Stück Tollers, genannt Hoppla, wir leben!, die Verkörperung der Neuen Sachlichkeit. Fast an das Ende des ersten Dramas anschließend ist der Protagonist ein Revolutionär, der nach langer Zeit aus dem Gefängnis kommt und mit der Realität konfrontiert wird, dass seine ehemaligen Mitstreiter*innen den Kampf großteils aufgegeben haben und sich in die Gesellschaft eingliedern.

Mit dem Umbruch in die Weimarer Republik schwingt eine enorme Politisierung mit. Anders als bisherige politische Einflüsse finden sich in den Dramen ab 1918 spezifische, revolutionäre Elemente, statt ‚bloße‘ Kritik am bestehenden System.

Geschichten aus dem Wiener Wald

Dieses Drama dürfte einigen Leser*innen bereits etwas sagen. Es zählt zu den am meisten gelesenen Theaterstücken des frühen 20. Jahrhunderts. 1931 in Berlin uraufgeführt, fasziniert es bis heute, nicht zuletzt auch dank seiner skurrilen Inhalte und der blanken Gewalt.

Im Fokus stehen die Bewohner einer Straße im achten Bezirk in Wien, ebenso wie einige Menschen, die in der Wachau leben. Marianne, die erwachsene Tochter eines Wiener Spielzeugverkäufers, der sich Zauberkönig nennen lässt, flieht sich aus der Verlobung mit dem Fleischer Oskar. Sie zieht mit Alfred, einem lokalen Taugenichts, zusammen und bekommt dessen Kind. Alfred gibt das Kind zu seiner Mutter, die in der Wachau lebt.

Seine Exfreundin Valerie kommt mit Erik, einem kriegsverherrlichenden Jurastudenten und Nationalsozialisten, zusammen. Seine Gegenfigur ist der sogenannte Rittmeister, der das alte Österreich-Ungarn personifiziert.

Marianne tritt aus sozialer Not als erotische Tänzerin auf, was von ihrem Vater bei einem Besuch im Nachtlokal Maxim entdeckt wird. Ein US-Amerikaner bietet Marianne Geld im Gegenzug für sexuelle Leistungen an, was sie ablehnt. Sie ist an einem sozialen Tiefpunkt angelangt. Als Alfreds Großmutter das Kind der beiden fahrlässig der Zugluft aussetzt und dieses (wie von ihr gewünscht) stirbt, ist Marianne wieder ‚frei‘ von Alfred und heiratet nun doch Oskar.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen stehen bei Horváth im Fokus. Komplexe Familienstrukturen und Liebesbeziehungen werden vor den Zuschauer*innen wiedergegeben. Auffällig ist bei diesem Stück die Nutzung des Raumes.

Der Schauplatz ist zweigeteilt. Auf der einen Seite die künstlich-erzwungen romantische Vorstellung des Wienerwaldes, auf der anderen Wien selbst. Die kaputten zwischenmenschlichen Interaktionen und Bemühungen Abstand zu halten, spiegeln sich in der generellen Teilung wider. Musik wird eingesetzt, um spezifische Szenen zu untermalen. Dabei spielt häufig der Walzer Geschichten aus dem Wiener Wald von Johann Strauss.

Horváth spielt mit der Grenze zwischen provinziellem Österreich und Wien als Stadt. Die Donau spielt in mehreren Szenen eine erweiterte Rolle. Über die gesamte Aufführung hinweg fungiert sie als Entsorgungsmöglichkeit für Emotionen, Hemmungen und Suchtgebahren, so als würde das fließende Wasser die problematischen ‚Gegenstände‘ und alles damit Verbundene einfach wegspülen.

Die wenigen körperlichen Interaktionen zwischen den Figuren sind entweder brutaler oder apathischer Natur. Alfreds Mutter füttert ihn unter Zwang mit saurer Milch, der Zauberkönig fällt über Valerie her. Den Figuren ist es nicht möglich normale Beziehungen zu führen.


Die folgende Beobachtung basiert auf den Regieanweisungen und mehreren Inszenierungen der letzten 80 Jahre.


Werden nette, normale Worte gewechselt suchen die Figuren größtmöglichen Abstand zueinander. Befinden sie sich im Streitgespräch wenden sie sich einander zu und führen liebevolle Gesten aus. Es wirkt, als wären sie nur dann wirklich menschlich, wenn sie sich streiten. In diesen wenigen Momenten im Drama ändert sich die Sprache, Körperhaltung und der Umgang der Charaktere drastisch. Werden Emotionen gezeigt, welche nicht aus Wut und Hass bestehen (Tränen, Liebe, Erotik), so schauen die anderen Figuren auf der Bühne generell weg, beziehungsweise distanzieren sich voneinander.

Das Ganze wird von seiner speziellen Sprache begleitet, die zunehmend aus (falschen) Zitaten und festen Floskeln besteht.

Horváth macht das Kleinbürgertum zu der Masse, die politische Dramatiker wie Ernst Toller in ihren Dramen als das Proletariat darstellen. Damit fusioniert er politisches und volksorientiertes Drama. Bürgerliche Normen, Zwang und Druck durch die ländliche Gesellschaft (repräsentiert vor allem durch die Familie) und soziale Entfremdung werden bei ihm dem Ideal der ländlichen Gesellschaft entgegengestellt. Auch spricht er die Auswirkungen der kaputten Wirtschaft an. Sein Nutzen eines Bildungsjargons wird zum Ebenbild des vollkommen unrealistischen und verzerrten Selbstbildnis der Menschen auf dem Land.

Die kunstvoll herbeigeführte Sprachlosigkeit der Figuren zieht sich durch seine Dramen und spiegelt die kaputten Beziehungen, Familienstrukturen und sozialen Konstruktionen wider.

Fegefeuer in Ingolstadt

Ebenfalls auf die Sprache, beziehungsweise die Sprachlosigkeit, ihrer Figuren fokussiert ist Marieluise Fleißer. Ihr Drama Fegefeuer in Ingolstadt (ursprünglich Die Fußwaschung) wurde erstmals 1926 in Berlin aufgeführt. Sie selbst war nicht anwesend und hatte wenig Kontrolle über die finale Fassung. Brecht war es, der die Regieanweisungen gab und den Titel ‚anpasste‘. Die erste Version des Stücks, ohne seine Anmerkungen und Eingriffe, wurde von Fleißer unter seinem und Lion Feuchtwangers Einfluss zerstört.

Im Stück geht es um einige Gymnasiast*innen. Die Protagonistin Olga ist schwanger von Peps, der jetzt mit ihrer ehemaligen guten Freundin Hermine zusammen ist. Roelle, ein entstellter Außenseiter mit Hang zur Gewalt und Grausamkeit, wendet sich Olga zu und erpresst sie mit dem Wissen über ihre Schwangerschaft. Er weiß auch, dass sie versuchte das Kind abtreiben zu lassen.

Clementine, Olgas Schwester, ist eifersüchtig auf Roelles Aufmerksamkeit, unter der Olga zusehends leidet. Roelle hingegen rutscht nach der wiederholten Abweisung Olgas ab und führt auf dem Jahrmarkt eine Art Heiligenvorstellung vor. Sein mentaler Zustand wird durch zwei die Agenten Protasius und Gervasius kommentiert, die im Auftrag eines lokalen Nervenarztes ein Auge auf Roelle geworfen haben. Dieser wird von mehreren Jugendlichen am Ende der Szene in einen Bottich getaucht, was seine Angst vor Wasser aufdeckt.

Olgas Vater erfährt von der Schwangerschaft seiner Tochter und weist diese ab, woraufhin sie sich ertränken will. Roelle überwindet sein Trauma, um sie zu retten. Seine Außenseiterposition wird durch Clementine bestärkt, die allen erzählt hat, dass er einen Hund folterte. Um sich wieder einen Namen zu machen, gibt er sich als Vater von Olgas Kind aus. Diese wird daraufhin von allen verstoßen.

Olga weist ihn trotz allem weiterhin ab. Sie bezeichnet ihrer beiden Lage als Fegefeuer. Roelle will am Ende alles beichten, traut sich jedoch nicht und isst seinen Beichtzettel auf.

Fleißer kritisiert das rurale Leben und die Zwänge der Provinz. Sie stellt die Probleme im Kleinbürgertum wesentlich fokussierter als ihre Zeitgenoss*innen dar und kritisiert schärfer. Wie Horvárth (jedoch mehrere Jahre vor ihm) nutzt sie die Sprache, um ihren Punkt klarzumachen. Ihre Figuren sprechen umständlich um die eigentlichen Inhalte herum, Bibelzitate und Floskeln säumen die Dialoge.

Horvárths Rolle als Modernisierer des Volksstückes kann spätestens an dieser Stelle infrage gestellt werden. Ihm wird dank seiner Sprache oft die treibende Rolle bei der Modernisierung zugesprochen. Doch diese Art der Sprache finden sich bereits vor seinem Schreiben im Volksstück. Betrachtet man die beiden Schriftsteller*innen so oberflächlich, wie diese Artikel es leider nur erlauben, so steht seine Position im Ungewissen.

Die Rangordnung innerhalb menschlicher Beziehungen in Kleinstädten dominiert bei Fleißer sowohl das Verhältnis der Figuren zueinander, als auch die Sprache und die Handlung. Alle Figuren unterliegen bei Fleißer einer absoluten Endindividualisierung und entblößen durch ihr Sprechen ihr gesamten psychologisches Innenleben. Die Sprache ist ein umständliches, künstliches Gewirr, in dem man sich als RezipientIn leicht zu verlieren droht.

Dadurch machen sie sich so verletzlich und durchschaubar, wie es auch für reale Menschen auf dem Land der Fall war/ist. In kleinen Städten sind familiäre Abgründe, Schwangerschaften und andere Skandale nur schwer geheim zu halten. Jede/r weiß sofort über alles Bescheid und selbst die wenigen, kleinen Geheimnisse kommen früher oder später zutage.

Die rohe, glatte Gesellschaft steht der Selbstfindung ihrer Protagonistin im Weg. Diese wird in allen Punkten von ihrer Familie, ihrer Vorgeschichte und ihrem ‚Freundeskreis‘ kontrolliert. Als sie schwanger wird, verliert ihr Umfeld zum ersten Mal dieses endlose Wissen über sie.

Kaum tritt dieser Fall ein, so kommt ein neuer Faktor der Kontrolle hinzu, als ein allgemein nicht gemochter Nachbarsjunge ihr Geheimnis in Erfahrung bringt und den ersten Akt der Freiheit und Selbstbestimmung in ihrem Leben zur Gewalt umformt. Er erpresst sie nicht nur mit dem Wissen um ihre Schwangerschaft, sondern auch damit, dass sie alleine die Entscheidung getroffen hat eine ‚Engelmacherin‘ zu treffen (wenn auch erfolglos). Die einzige ‚Lösung‘ liegt darin, zwischen einem Leben mit dem gewalttätigen Außenseiter oder der Rückkehr zu den vorherigen Verhältnissen zu wählen. Die Protagonistin entscheidet sich für letzteres, indem sie ihrem Vater von dem Kind erzählt und tritt so zurück an den Anfang.

Aussichtslosigkeit als Aussicht der Jugend auf dem Land, ist eines der Motive, welches Horváth und Fleißer sich teilen. Auch er hat einen Kreislauf, in welchem die Jugend so heiraten muss, wie es ihnen vorgeschrieben wird, da sie sonst nur Unglück erfährt. Seine Protagonistin befindet sich am Ende des Stückes ebenfalls wieder ganz am Anfang.

Fazit

Die Bewahrung des Familienvermögens durch geplante Hochzeiten, die Kirche als Ort der Hilfs- und Hoffnungslosigkeit, die einfache Beseitigung von störenden Kindern und das apathische Erliegen des eigenen Schicksals werden bei Horváth zum Thema. Er zwingt seine Leser*innen, dabei zuzuschauen, wie aus Marianne ein bloßer Gegenstand wird, der sich wehrlos am Ende eines großen Zyklus in die vorgegebene Spur einfügt. Ihr Versuch auszubrechen aus einer Gesellschaft der Gewalt ist erfolglos und bricht sie zu einem Grad, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Ihr temperamentvolles Brechen mit den toxischen Strukturen ihres Umfeldes am Ende des ersten Aktes führt dazu, dass sie alles verliert, was sie als Person ausmacht und am Ende genau dort ankommt, wovon sie in erster Linie weglief. Aus dem Besserungsstück, wie Raimund es ursprünglich konzipierte, wird im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts eine Abwärtsspirale menschlichen Verhaltens und Seins.

Diese neue Tradition, die in ihren Anfängen schon bei Anzengruber sichtbar ist, setzt sich durch. Das Volksstück wird zum Antivolksstück, so schreibt Adorno. Spätestens bei Fleißer wandelt sich dies von einer Mutmaßung zur Tatsache.

Aus dem vorgehaltenen Spiegel Ende des 19. Jahrhunderts wird das sprichwörtliche ‚aufs Maul schauen‘, welches ab Fleißer die Sprache in den Dramen merklich zu einem hochstilisierten Ausdrucksmittel macht. Hohe Dichte von Zitaten und Floskeln,  Bibelverse, Verfremdung des Ausdrucks, künstlich nachgeformter Dialekt gespickt mit einer herabgesetzten Bildungssprache und gleichzeitig doch allgemeiner Sprachlosigkeit bilden die neue Grundlage für den Ausdruck der Charaktere. Das Publikum soll das Grauen der Alltäglichkeit in der Gemütlichkeit der eigenen sozialen Gruppe erfahren. Das betrifft zum einen die Sprache, aber auch die Lokalitäten und die allgemeine Stimmung im Stück. Man fühlt sich zu Hause in den künstlerischen Beschreibungen der Bühnenbilder, seien sie nun Darstellungen einer ‚idyllischen‘ Landschaft oder einer überwachenden Kleinstadt.

Man findet sich als RezipientIn in einer verzerrten Realität des eigenen Umfeldes wieder. Sprache, Ort und generelles Ambiente erscheinen bekannt, werden jedoch auf so groteske Art und Weise verändert, bis nur eines übrigbleibt: das Grauen. Die Gewalt, der soziale Abstieg, das Bedrückende und die Zyklizität.

Ausbruchsversuch zwecklos.

Fleißers ‚aufs Maul schauen‘ besteht in einer extremen Psychologisierung der Sprache.  Sie deckt mit ihren Dramen die Missstände in ihrer eigenen Heimatstadt auf, die programmatisch für das allgemeine Landleben in Deutschland steht. Nicht umsonst wurde Fleißer lange als ‚Nestbeschmutzerin‘ beschimpft.

Die Menschen erkennen sich selbst in ihren Darstellungen und wehren sich gegen die Selbstreflexion. Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt (1926/1971) spiegelt diese Seite der Gesellschaft wider. Sie fokussiert sich dabei vor allem auf den Abstieg von Personen aufgrund ihres Wunsches nach Freiheit und Selbstbestimmung. Beide arbeiten mit sprachlicher und körperlicher Gewalt. Die körperliche Selbstbestimmung wird zur Begründung des eigenen Unterganges.

Sowohl bei Fleißer, als auch bei Horváth schlägt sich das gesamte furchtbare Potenzial der ländlichen Gesellschaft in einem Schlag nieder. Sie arbeiten beide mit einer Art der Sprachlosigkeit, Entmenschlichung und sprechen aktuelle gesellschaftliche Themen wie Selbstmord, Abtreibung, Sexualität (der Frau), Selbstbestimmung und (Verlust der) Religiosität an. Beide wurden in den 60ern wiederentdeckt, was bei Fleißer zu einer Überarbeitung ihrer Stücke führte. Sie war es, die die Grundlagen des Volksstücks änderte, was häufig Horváth alleine zugesprochen wird. Seine Rolle ist bestenfalls ebenbürtig zu ihrer.