Die (Nach)Kriegszeit: Kritik an Gesellschaft ist Kritik an der Zeit?
Hallo und herzlich willkommen im Büchnerwald! Heute kommt der dritte Beitrag zur Blogreihe über Volksstücke. Eine Übersicht zur Reihe findet ihr hier.
Brecht und die Gesellschaftskritik
Heute geht es um das Konzept von Kritik und Verarbeitung im Volksstück. Dafür drehen wir heute den Spieß um und fangen direkt mit dem Beispiel an. Da die letzten beiden Stücke älter waren und ich mich gegen eine chronologische Betrachtung entschieden habe, springen wir außerdem zeitlich ein ganzes Stück zu Bertolt Brecht. Wer an Brecht, Kritik und das Volksstück denkt, dem kommt sicherlich direkt die Dreigroschenoper (1928, Bertolt Brecht und Elisabeth Hauptmann) in den Sinn. Und genau deshalb möchte ich heute ein wesentlich unbekannteres Stück mit euch anschauen. Einfach, um mit dem Kanon zu brechen.
Brecht lebte Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts und ist (trotz seiner moralischen Schwächen) einer der wichtigsten Autoren unserer Zeit. Ursprünglich distanzierte Brecht sich vom Volksstück und widmete sich dem epischen Theater, kehrte im Exil jedoch zurück zum Volksstück. 1940, ein Jahr bevor seine Einreise in die USA bewilligt wurde, lebte er in Stockholm und verbrachte den Sommer in Finnland, wo er Herr Puntila und sein Knecht Matti schrieb. Das Stück wurde acht Jahre später in Zürich uraufgeführt.
Herr Puntila und sein Knecht Matti
Der finnischer Gutsbesitzer namens Puntila ist ein brutaler Ausbeuter seiner Arbeiter, doch sobald er trinkt, wird er zum Menschenfreund. Seine Tochter Eva verspricht er im nüchternen Zustand einem Aristokraten (findet sie eher ungut), betrunken aber seinem Chauffeur Matti. Auch verlobt er sich selbst im trunkenen Zustand mit der Schmuggleremma, einem Apothekerfräulein, einem Kuhmädchen und einer Telefonistin – die vier tauchen tagsüber auf und werden vom nüchternen Puntila fortgejagt.
Seine Tochter mag den Mann, mit dem Puntila sie nüchtern verlobt hat, findet ihn aber unpassend als Ehemann und versucht allerlei, um die Verlobung platzen zu lassen. Sie täuscht eine Affäre mit Matti vor und erzählt ihrem Zukünftigen, sie hätte sich mit Matti in einer Badehütte vergnügt. Matti sagt dem eigentlichen Verlobten von ihr aber, sie hätten nur Karten gespielt, was dieser glaubt. Alle Bemühungen scheitern, auf der Verlobungsfeier deprimiert Puntila das Verhalten des Aristokraten jedoch so sehr, dass er sich betrinkt und ihn aus dem Haus wirft.
Er will Matti und Eva nun wieder verheiraten. Dies findet Matti jedoch nicht gut, da er der Meinung ist, Eva würde keine gute Frau für ihn abgeben. Er unterzieht sie einigen Tests die beweisen, dass arm (Matti) und reich (Eva) wirklich nicht zusammenpassen, weil sie unterschiedliche Dinge vom Leben wollen.
Puntila schläft seinen Rausch aus und versucht am nächsten Morgen alles in Ordnung zu bringen. Er will allen Alkohol im Haus vernichten – und beschließt den gesamten Fusel zu trinken, damit er weg ist. Matti hilft ihm dabei, in dem er ihm immer mehr zu trinken bringt. Puntila verspricht Matti Geld und Land, dieser ahnt jedoch, dass es am Morgen wieder ein böses Erwachen geben wird und verlässt den Hof.
Die Idylle wird gebrochen
Ein wesentlicher Bestandteil der Volksdramen ist die Natur. Idyllisch, feierlich und ländlich stellt sie sich, wenn auch weniger blutig, in die Tradition der BluBo-Literatur.
Die Blut- und Bodenliteratur ist eine Literatur der Verherrlichung von bäuerlichem Leben und Landleben, die im Nationalsozialismus groß wurde und zu Propagandazwecken diente.
Die Menschen identifizieren sich mit Teilen des Dramas, da in realistischer und stellenweise naturalistischen Art ihr Lebensraum das Zentrum darstellt, statt die Großstadt. Ihre Probleme und Lebensweisen werden in den Mittelpunkt gerückt, ebenso wie ihre Sprache und Gebräuche. Hier sieht man nun nicht die Landschaft um Wien, wie beim Wiener Volksstück, sondern die Finnlands. Auch wenn sie zu Teilen stark an deutsche Landstriche angepasst wurde.
Die idyllische Stimmung wird direkt zu Anfang im Prolog gegeben. Die Landschaft wird als „würdi[g] und schö[n]“ beschrieben.
Milchkesselklirrn im finnischen Birkendom/ Nachtloser Sommer über mildem Strom/ Rötliche Dörfer, mit den Hähnen wach/ und früher Rauch steigt grau vom Schindeldach.
Prolog
Ein fremdes Land wird beschrieben und doch können sich die Rezipienten einfühlen. Denn das ferne Finnland wird mit ähnlichen Begriffen umschrieben, wie die ländliche Idylle Deutschlands. Auch wird es extrem angepasst, um dem deutschsprachigen Publikum gerecht zu werden. Brecht wurzelt die bereits bekannten Elemente des Volksstückes aus in ein fremdes Land, um Distanz zu schaffen, die einen genaueren Blick auf die Personen und Probleme ermöglicht.
Sprache und Charakterisierung
Beispiele für die szenische Sprache muss man bei Brecht nicht suchen; das gesamte Drama ist in der bäuerlichen Mundart geschrieben. Ein Stilmittel, dass trotz des hohen Abstrahierungsgrades die gewünschte Wirkung erzeugt. Bäuerliches Leben wird illustriert und zu Teilen so stark überzogen dargestellt, dass es das Ganze ad absurdum führt.
Dies äußert sich durch die Darstellung des Hofherrn. Die alltäglichen Machtgefälle innerhalb der ländlichen Bevölkerung werden humorvoll aufgezeichnet. Der, auf dem der Witz beruht, ist ein nachvollziehbarer Feind, was das Lachen erleichtert. Es ist, als würden alle Kollegen im Büro (auch die, die sich nicht leiden können) gemeinsam Witze über ihren fiesen Vorgesetzten erzählen. Eine große Gruppe an Individuen wird durch einen gemeinsamen Nenner zusammengeführt.
Die Antworten Mattis signalisieren seine niedere Position gegenüber Puntila, dadurch dass er nur wiederholt, was bereits gesagt wurde. Er scheint nur das zu sagen, was sein Herr hören möchte, den Punkt immer leicht vertiefend, symbolisierend, dass er dem Herrn nicht nur zustimmt, sondern dies auch noch in einer extremeren Form, womit er sich über seine eigene Misere lustig macht. Gleichzeitig zieht er durch das erneute Aufgreifen der Thematik auch die Grundaussage Puntilas ins Lächerliche. Wann immer der Rezipient über die grotesken und groben Darstellungen des Herrn lacht, setzt der Knecht dem einen auf und regt Zuschauer/Leser dazu an Puntila weniger ernst zu nehmen. Die unterdrückenden Strukturen werden aufgezeigt, nur um direkt danach humoristisch zerlegt zu werden.
Ein Beispiel:
Puntila: Mir gefallt’s nicht, wenn einer keine Lust am Leben hat. (…) Wenn ich einen seh, wie er so herumsteht und das Kinn hängen läßt, hab ich schon genug von ihm.
Darauf entgegnet der Knecht
[I]ch weiß nicht, warum die Leut auf dem Gut so elend ausschauen, käsig und lauter Knochen und zwanzig Jahr älter. Ich glaub, sie tun es Ihnen zum Possen (…).
Puntila stimmt zu, da es für ihn nicht vorstellbar wäre, dass die Menschen auf seinem Gut Hunger leiden. Matti zieht die Hungersnot mit mehreren zehntausenden Toten vor einigen Jahren hinzu und stellt den Hunger der Menschen so in Relation:
Den Hunger müssens doch nachgerad gewohnt sein in Finnland.
Zehnte Szene
Grober Humor gehört in das Volksdrama, doch wird er hier gezielt als Stilmittel genutzt, um das oben gesagte zu bestärken. Der Knecht stellt die Grausamkeit der höher gestellten Menschen gegenüber dem Landvolk dar. Die Menschen arbeiten hart und leiden Hunger. Für Puntila spielen sie ihr Leiden nur vor. Sie laufen nur so müde herum, wenn der Gutsherr da ist.
Humor und Politik
Dadurch erreicht Brecht das, was er in der Einleitung als Ziel feststeckt: die RezipientInnen sollen einen wachen Geist beibehalten, gleichzeitig jedoch nicht vergessen zu lachen. Ihm ist wichtig, dass die politische Komponente im Humor versteckt wird.
Brecht schafft eine simple Gut-Böse-Struktur, in welcher das Volk auf einer, die Obrigkeit auf der anderen Seite steht und beschränkt das Ganze auf eine ländliche Ebene. Diese ist entscheidend für das Volkstheater, so Brecht in seinem Nachwort. Denn das Volk brauche ein Theater, welches sie als Einheit darstellt. Obwohl man wohl annehmen kann, dass unter den deutschen Bauern 1940 kaum jemand schon einmal in Finnland war, kann sich die deutsche, ländliche Gesellschaft damit identifizieren. Eben weil alles so beschrieben wird, wie man es kennt.
Die Ironie dahinter, ist entscheidend für das Volkstheater. Denn Brecht will, dass Rezipienten hinter die Fassade blicken. Eingestreute Hiebe gegen die Idylle und ironische Darstellung von beiden, Herrn und Knecht, sollen dem Volk den Spiegel vorhalten. Die Idylle soll brechen, die Ironie soll ankommen und Rezipienten mit einem besseren Selbstbild von sich und ihrer Kultur zurücklassen. Die Geborgenheit, welche man in der Einigkeit findet, wird gebrochen und entpuppt sich als eigentliche Hölle.
Stempelt man das Landleben und die dort lebenden, damals oft rechtspolitisch orientierten Menschen, einfach als primitiv ab, so erreicht man das Gegenteil. Die Zielgruppe fühlt sich angegriffen und versteckt sich erst recht hinter ihrer Homogenität.
Ich könnt nicht in der Stadt leben. Warum, ich will zu ebener Erd herausgehn und mein Wasser im Freien lassen (…). Ich hör, auf’m Land ist’s primitiv, aber ich nenn’s primitiv in ein Porzellan hinein.
Neunte Szene
Das hier Beschriebene ist für Puntila das einzig wahre Leben. Ganz im Sinne der ironisch-angehauchten Grundstimmung werden die Probleme, die Volksstücke in erster Linie nötig machen, angesprochen. Die Einfachheit des Landlebens zu stilisieren und doch in starken Kontrast zur Stadt zu stellen, allerdings aus der Sicht der Landleute heraus, ist eine clevere Art diesen Diskurs anzusprechen.
Kritik zwischen Natur und Kunst
Brecht wirbt aus diesen Gründen dafür, das Volksdrama ernst zu nehmen und auf der Bühne als Symbiose zwischen Natur und Kunst aufzuführen. Er möchte, dass die Stücke mit Sorgfalt aufgeführt werden und nicht direkt als Schwank und Spaß abgestempelt werden.