1. Basics: Was ist ein Volksstück und wieso sollte ich das wissen?

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Basics: Was ist ein Volksstück und wieso sollte ich das wissen?


TW: Alkoholismus, Gewalt


In diesem ersten Artikel aus der Reihe möchte ich die Grundlagen klären und die Grundzüge an einem ersten Beispiel festmachen.


Was ist das Volksstück?

Das Volksstück an sich ist eine Form des Dramas, also des Theaters, dass sich in den Ursprüngen an ein möglichst breites Publikum richten sollte – daher der Name Volksstück. Angesprochen mit dem (gerade heute ja durchaus problematischen) Begriff „Volk“, war das „gemeine Volk“ des späten 18. Jahrhunderts. Das Volksstück entwickelte sich aus dem barocken Hoftheater und dem bürgerlichen Trauerspiel. Es wurde zu einer Alternative, in der das Volk auf der Bühne dargestellt war. Dies fand statt, da es bis dahin kaum (realistische) Figuren auf der Bühne gab, die nicht aus dem Adel stammten.

Ein weiterer wichtiger Einfluss ist zweifellos auch die Commedia dell’arte (Stehgreiftheater des 16. bis 18. Jahrhunderts aus Italien), in der feste, Sterotypen-Figuren in unterschiedlichen Situationen immer wieder aufeinandertrafen. Diese Stücke wurden auf Wanderbühnen aufgeführt.


Karel_Dujardin_-_Les_Charlatans_italiens

Scaramuccia e la ruffiana


Ende des 18. Jahrhunderts wurde es zunehmend akzeptabel, das Volk als Figur auf die Bühne zu stellen, ohne es nur im Hintergrund zu zeigen. Mitglieder des gemeinen Volkes bekamen eine eigene Stimme und standen um ihrer selbst willen auf der Bühne. Dies war ein großer Durchbruch in der Theaterszene.

Ein Fehler, der sich oft einschleicht, wenn man über Volksstücke spricht, ist, dass auch die Schauspieler*innen aus dem Volk stammten. Das ist alleine schon aufgrund der sehr limitierten Schriftlichkeit nicht möglich gewesen. Die meisten Schauspieler*innen des 18. und 19. (und durchaus auch des frühen 20.) Jahrhunderts kamen aus dem Adel oder einer reichen, gut situierten Familie.


Nestroytalisman

Szene aus „Der Talisman“ von Johann Nestroy (1840)


Die ersten Volksstücke

Das Altwiener Volkstheater war der erste Vertreter des Volkstheaters und entstand in den sehr frühen Ausläufern (und je nach Definition) bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Allgemein werden jedoch Johann Nestroy und Ferdinand Raimund als Hauptvertreter des Altwiener Volksstücks gesehen, beide lebten Anfang des 19. Jahrhunderts. Dort setzt auch das erste Beispiel dieser Blogreihe an.

Das Volksstück formierte sich in ähnlicher Form über das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinweg in Knotenpunkten wie Berlin, München und Hamburg. Im Lauf dieser Reihe wird auch die bayrische Provinzstadt Ingolstadt eine wichtige Rolle spielen. Allgemein ist es für viele Volksstücke nicht möglich, sie auf einen Ort zu reduzieren, da die meisten zwar in Wien und anderen großen Städten spielen, die Autor*innen jedoch oft aufgrund von übler Nachrede und Zensur (und Verfolgung) aus dem Exil schreiben mussten.

Der Alpenkönig und der Menschenfeind

Nun zum ersten Beispiel. An diesem (sehr frühen) Stück werden die grundlegenden Merkmale geklärt und euch ein bisschen gezeigt, wie so ein Volksstück eigentlich aussah. Dafür schauen wir uns jetzt Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828) an.


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Szenebild Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828)


Der volle Titel verrät schon das Problem, mit dem Volksstück in den Anfängen (und auch allgemein): Der Alpenkönig und der Menschenfeind, Romantisch-komisches Original-Zauberspiel in zwei Aufzügen.

Das Volksstück hat die Angewohnheit, mit anderen Arten von Theaterstücken zu verschmelzen. Raimund nennt sein Drama selbst Zauberspiel. Dabei erfüllt das Stück kaum die Merkmale eines klassischen Zauberspiels.

Diese Gattung stammt aus dem Barock und wurde von Raimund im 19. Jahrhundert umgesetzt, in der Hoffnung, ihr neues Leben einzuhauchen. Der volle Titel des Stückes zeigt, wie Raimund ein barockes Genre mit der Literaturströmung seiner Zeit, der Romantik, vereint. Das heißt, er eint den hohen Produktionswert, die magischen Elemente und die typische Verwandlung eines oder mehrere Figuren auf offener Bühne mit romantischen (sprich mittelalterlich angelehnten) Elementen. Raimund tut dies, da das Volksstück zu dieser Zeit noch kein etabliertes Genre ist, zumindest keines, mit dem sich Geld verdienen lässt.

Das Stück

Im Stück geht es um einen reichen und boshaften Gutsbesitzer, dessen Familie und Angestellte unter seinem Temperament leiden. Eine märchenhafte Figur, der Alpenkönig, tauscht für einige Zeit den Platz mit dem Gutsherren, Herr von Rappelkopf, der so lange aus dem Körper seines Schwagers sich selbst dabei zuschaut, wie er seine Familie misshandelt. Am Ende wird Rappelkopf in einer himmelsähnlichen Umgebung verwandelt. Das Stück geht gut aus.

Am auffälligsten ist die Musikalität des Dramas. Die ersten drei Auftritte werden gesungen. Dabei wird die Jagd des Alpenkönigs Astragalus dargestellt, untermalt von einem Chor aus Alpengeistern. Im gesamten Stück wird die Handlung immer wieder durch Lieder gestützt und vertieft.

Dadurch werden einerseits Elemente wie die Jagd oder Augusts (der Verlobte von Rappelkopfs Tochter Malchen) Wanderung akzentuiert, andererseits auch inhaltliche Punkte zusammengeschlossen. Die Lieder am Anfang und Ende des Stückes rahmen die Handlung ein. Musik war in der Romantik ein sehr wichtiger Teil der Kunst. Viele Gedichte wurden musikalisch interpretiert.

Raimund baut immer wieder Einschübe ein, die gleichzeitig modern sind und doch auf den Ursprung der Gattung hinweisen. Neben dieser Absicht macht die Musik eine Aufführung des Dramas lebendiger. Es verbindet das Klischee von singenden Wanderern und Menschen auf dem Land mit Eigenreflexion, Gattungsmerkmalen der Romantik und dem Ursprung des Zauberspiels.

Ein weiterer Punkt, welcher direkt zu Beginn hervorsticht, ist die Sprache. Im Gespräch zwischen Malchen und Lischen, wenn die Bediensteten von Rappelkopf miteinander reden und auch wenn der Menschenfeind selbst wütet. Die Sprache ist sehr einfach gehalten. Charaktere wie Lischen und Sabine stechen durch ihre besonderen Arten zu sprechen hervor. So ist Lischen sehr abergläubisch und naiv, Sabine hat einen schwäbischen Dialekt und ist sehr selbstverliebt. Habakuk, ein Bediensteter, beharrt darauf, dass er in Paris war. Die Sprache bei Volksstücken soll auf künstlerische Art und Weise die Sprache des Volkes imitieren. Das ist auch hier der Fall. Allerdings wird diese Sprache hier stark mit der Komik verknüpft. Insbesondere durch die Bediensteten wird dies übermittelt. Malchen mit ihrer dramatischen Art, die Köchin und der Diener, welche sich streiten. Aber auch die Familie, deren Haus Rappelkopf aufkauft, bringt dies hinein.


Raimund spielt mit der Sprache. Gut sichtbar ist dies, am Beispiel der Familie:

Salchen: Mein Franzel ist ein wiffer Bua,/ Singt den ganzen Tag:/ Daß er mich alleinig nur/ Und kein andre mag.

Die drei Kinder: Wenn wir nicht was z‘ essen kriegn,/ So gehn wir ja zugrund!

Salchen: So weckts das Kind nicht in der Wiegn,/

Die drei Kinder: Sapperment, ein Brot!

Salchen: So weckts das Kind nicht in der Wiegn,/ Und spielts euch mit den Hund!/    Mein Franzel ist ein wiffer Bua,/ Singt den ganzen Tag:/ Daß er mich alleinig nur/ Und kein andre mag.

Christian: Wanns nicht euern Schnabel halts,/ Schlag ich euch noch tot!

Marthe: Still!

Das Kind: Qua qua!

Die Katze: Miau!

Der Hund: Hau hau!

Fünfzehnter Auftritt


Es ist unterhaltsam, man lacht. Gleichzeitig werden Probleme wie Alkoholismus, Geldmangel, der grobe Umgang untereinander, die sehr niedrige Stellung der Kinder und Hunger angesprochen. Zuschauer dieses Stückes reflektieren aktiv über die Welt, in welcher sie leben und über ihre eigenen Umgangsformen. All dies ist versteckt in lebhafter Sprache und Komik.

Anweisungen zur Umsetzung

Durch das ganze Stück ziehen sich sehr genaue Anweisungen die Bühne, Sprechweise und Hintergrundmusik betreffend. Aufwendige Bühnenproduktionen sind seit dem Barock Teil des Zauberspiels. Raimund hinterlegt diese mit romantischen Elementen. Gut sichtbar ist dies, direkt vor der ersten Szene:


Die Ouvertüre beginnt sanft und drückt fröhlichen Vogelsang aus, dann geht sie in fremdartiges Jagdgetön über, begleitet von Büchsenknall. Beim Aufziehen der Kurtine zeigt sich eine reizende Gegend am Fuß einer Alpe, welche sich im Hintergrunde majestätisch erhebt. Im Vordergrunde zeichnet sich in der Mitte ein Gebüsche von Alpenrosen, links ein abgebrochener Baumstamm und im Vordergrunde rechts ein hoher Fels aus. [Hervorhebungen sind nicht im Originalzitat]

Erster Auftritt


Idealisierte Natur ist ein wichtiger Teil der Romantik. Landschaften werden hervorgehoben und mit Elementen des Erhabenen ausgeschmückt. Die Bühne wird genau beschrieben und das Beschriebene darauf wird aktiv genutzt (in diesem Fall der Holzstamm, der Felsen und das Gebüsch). Dadurch das Raimund Anforderungen an das Zauberstück erfüllt, macht er sie zu Teilen des Volksstücks, die andere AutorInnen (wie Jelinek) später wieder aufgreifen. Die Anweisung setzt sich fort und vereint weiterhin die Romantik mit ursprünglichen Teiles des Zauberstücks:

Ein Chor von Alpengeistern, dabei Linarius, durchaus grau als Gemsenjäger gekleidet, jeder eine erlegte Gemse über den Rücken hängen, eilt von der Alpe herab und sammelt sich im Vordergrunde der Bühne.

Mythologie

Mythologische Figuren sind Teil des originalen Zauberspiels, zusammen mit Figuren der Commedia dellʼarte. In Der Alpenkönig und der Menschenfeind wird die Mythologie durch den Alpenkönig und seine Geister erfüllt. Der Nutzen von lokaler Mythologie (welche nicht immer tatsächlich mythologischen Ursprungs sein muss (vgl. Lorelay)) ist ein wichtiger Bestandteil der Romantik. Sie hauchen dem Stück Ursprünglichkeit ein. Die Alpen werden durch die Geister lebendiger als Schauplatz, die Landschaftsbeschreibungen verstärken dies ebenfalls.

Raimund nimmt sich Elemente aus dem Zauberspiel, Figuren und Sprache aus der überzogenen Commedia dell’arte/dem Bürgerlichen Trauerspiel und vereint diese mit der (höfischen) Mode aus der Romantik. Er zeigt damit nicht nur die Natur des Volksstücks, dass es aus verschiedenen Elementen und Ideen zusammengesetzt wurde, sondern setzt auch die Grundlagen für spätere Versionen/Interpretationen des Volksstückes. Sprache, Musikalität und Absurdität ziehen sich durch (fast) alle späteren Volksstücke, wie ich euch in den nächsten Tagen weiter erläutern werde.

Zensur

Das Volksstück hatte von seinen Anfängen an mit Zensur zu kämpfen. Karikaturistische Darstellungen von Adel und Menschen in hohen Positionen, wie reiche Bürgerliche oder Politiker, waren Teil der Anziehungskraft, die das Volksstück auf die breiten Massen hatte. In den Anfängen bestand das Publikum aus Menschen, die sich selbst auf der Bühne sehen und über die, für die sie arbeiteten/die über ihnen standen, lachen wollten. Dieser Aspekt wird im nächsten Beitrag deutlicher behandelt.

Autor: Michelle Janßen

Michelle Janßen ist eine süddeutsche Bloggerin, Journalistin und Autorin. Sie studiert deutsche Literaturwissenschaft und Geschichte. Auf Büchnerwald bloggt sie medienkritisch über Politik, Geschichte und (online) Medien.

Ein Gedanke zu „1. Basics: Was ist ein Volksstück und wieso sollte ich das wissen?“

  1. Aww, es ist so schön, mal einen literaturtheoretischen Beitrag zu stolpern! Das macht mir beinahe etwas Mut, auch mal irgendwann etwas Theorie auf meinen Blog zu werfen^^ Gerade als Studentin in Deutscher Literatur und mit Vorkenntnissen hat es echt Spaß gemacht, den Beitrag zu lesen, denn es war ja doch alles noch einmal besser und schöner aufgemacht als in den meistens sehr blassen Theoriewerken und ich konnte richtig nochmal alles in meinem Kopf ordnen.
    Ich bin gespannt auf die Fortsetzung!

    Viele Grüße
    Anna

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