Das Kleid im Winterschlaf – Politik-Privilegien und die Gefahr in ihnen

politik-privilegien und die gefahr in ihnen

Das Kleid im Winterschlaf

Politik-Privilegien und die Gefahr in ihnen


TW: Politik


Wenn wir über Politik sprechen, müssen wir uns gewisse Ebenen bewusst machen. Ebenen, die das, was wir sagen und schreiben, beeinflussen. Persönliche Erfahrungen sind eine dieser Ebenen, Privilegien eine andere.

Nach der Wahl in Deutschland gab es viel Wut, die bald darauf wieder verklang. Probleme werden hier kurz angeschnitten, alle regen sich darüber auf und dann verschwinden sie wieder aus den Köpfen und den Twitterfeeds und die Welt dreht sich weiter. Die Tatsache, dass wir das können (oder eben nicht können), zeigt uns unsere Privilegien auf.

All die Emotionen sind nur temporär. Klar wird man noch feinfühlig, wann immer man über das Ergebnis der Wahlen diskutiert und klar ist man irgendwie noch wütend wegen §218 und §219. Die Nachrichten über Brasilien machen uns traurig und das mit den USA ist krass – aber es hat nicht den Effekt, den es auf uns haben sollte.

Selbstschutz und Privilegien

Zum einen ist das Selbstschutz. Man kann nicht alles Schlechte in der Welt kennen und dabei mental gesund bleiben. Filtern und Verdrängen ist ein normaler Vorgang.

Man muss sich jedoch bewusst sein, dass die Tatsache, dass man diese Nachrichten verdrängen kann, ein nicht zu unterschätzendes Privileg darstellen. Besonders deutlich wird dies bei vier großen Themen: Rassismus, Homophobie, Sexismus und Klimawandel. Alles Dinge, von denen auch gerne behauptet wird, dass sie nicht (mehr) existieren.

Als weiße Person kann man sich kurz über Rassismus aufregen, wenn es ein Vorfall in die Medien geschafft hat, ein paar Likes auf Twitter einstreichen und dann war es das. Dasselbe gilt für die anderen Themen. Auch wenn man selbst betroffen ist, kann es sein, dass es einem die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage von einem selbst oder des eigenen Landes erlaubt, diese Themen auszublenden. Homophobie in Russland ist schlimm, bei uns geht es im Vergleich aber, also kann man die ‚kleinen‘ Probleme in Deutschland ignorieren. Gerade bei Frauen und dem Sexismus kommt auch die Erziehung hinzu.

Wo es deutlich wird, dass wir alle in Privilegien baden, ist beim Klimawandel. Denn klar, hier läuft der Keller mal voll oder der Sommer ist sehr heiß, aber in Ländern mit einer anderen Lage gibt es furchtbare Naturkatastrophen und Dürren, die ganze Landstriche unfruchtbar und damit unbewohnbar machen. Wo wir dann wieder ins Spiel kommen ist, wenn die Menschen aus diesen Ländern dann fliehen müssen.

Und da sind wir dann wieder bei der Politik in Deutschland, die wir so lange ignorieren können, bis die Spätauswirkungen winken und uns auffällt, dass wir vielleicht doch betroffener sind, als wir dachten.

Zwischen Schuld und Pflicht

Es ist schwierig, an dieser Stelle Schuld auszusprechen. Denn auch, wenn wir alle gerne anders wären, verdrängen wir diese Themen doch. Weil wir alle ein Leben haben und andere Probleme. Da rückt das Privileg, nicht über Politik und die Umwelt nachzudenken in angenehme Nähe.

Für mich ist Politik zum Beispiel auch wichtig, aber mein eigenes Leben steht im Vordergrund. Ich schließe mich also nicht aus. Im Gegenteil. Oft erwische ich mich dabei, mir zu denken, dass ein paar Tweets zu einem Thema genug sind. Das ich ‚meinen Teil‘ getan habe.

Ich bin auch eine dieser Personen, deren politische Aktivität nur alle vier Jahre aus dem Schrank geholt wird. Angezogen wie dieses eine Kleid, was man irgendwann mal gekauft hat und immer im Schrank sieht und sich denkt Wieso zieh ich das nicht häufiger an? und sobald man es einen Tag trägt, weiß man wieder wieso. In das man jedes Mal, wenn ein Politiker etwas Rassistisches sagt, kurz hineinschlüpft, um sich im Spiegel zu betrachten und sich zu denken Jawoll! So jetzt kann ich es wieder ausziehen. Ich bin einer dieser Menschen, der seine Politik austrägt, um sich selbst zu gefallen. Um sich in gewisser Weise auch über andere zu stellen. Um bei jedem politischen Tweet zu denken, man hätte ja jetzt genug gemacht.

Wie geht man also vor, wenn man die Pflicht erfüllen will, etwas zu tun, aber gleichzeitig nicht die Annehmlichkeiten eines eigentlich unpolitischen Lebens aufgeben will?

Ein Vorschlag

Ich glaube die perfekte Lösung ist um einiges selbstloser, als viele das leisten wollen oder können, mich eingeschlossen. Deshalb ist der erste Schritt erstmal, sich bewusst zu machen, dass man die Entscheidung treffen kann, wie politisch man ist und wie sehr man sich einsetzt.

Die Menschen, die sich in diesem Land nicht mehr sicher fühlen, wegen dem was passiert, haben diese Wahl nicht. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie froh ich bin meine politische Seite im Schrank zu haben, statt sie wie ein Schild permanent vor mir hertragen zu müssen (wie ich es beim Feminismus tue).

Diese Ignoranz bewirkt, dass wir faul werden. Einen kurzen Aufschrei leisten: Ein paar Tweets, ein Blogbeitrag, ein Video, ein Retweet, ein Facebookpost – und dann ist das Thema erledigt, weil man seinen Teil ja geleistet hat. Im Idealfall hat man dafür noch ein paar Follower dazugewonnen, die für das eigene Prestige nutzen kann.

Der nächste Schritt ist also, mehr zu tun, als nur so zu tun. Statt leere Tweets zu schreiben, kann man beispielsweise ein kleines Ehrenamt annehmen (Frauenhäuser suchen immer!) oder an Organisationen spenden. Wenn man die Mittel dazu nicht hat, kann man sich über Umweltschutz informieren und versuchen kleine Dinge zu leisten. Alternativ ist es immer gut, öffentliche Stimmen von Betroffenen zu verbreiten und diese Menschen zu stützen.

Es ist an der Zeit, dass wir unser Privileg nutzen. Nicht um uns gut zu fühlen, sondern weil so viele Menschen es nicht tun können oder keine andere Wahl haben.

2. Grundzüge einer Gattung: Die Freude am Grauen und frühe Zensur

Grundzüge einer Gattung Die Freude am Grauen und frühe Zensur.

Grundzüge einer Gattung: Die Freude am Grauen und frühe Zensur


TW: Religiosität, Alkoholismus, Gewalt, Sexismus


Hallo und herzlich willkommen zur Blogreihe: Volksstück. Dies ist der zweite Beitrag der Reihe. Einen Überblick über alle Beiträge findet ihr hier.


Wie sich im letzten Beitrag gezeigt hat, lebt das Volksstück im Wesentlichen von drei Dingen: dem Volk als Hauptakteur, Kritik am Adel und Komik. Nestroy und Raimund nehmen sich Inspiration aus bereits existierenden Theaterformen wie dem Zauberstück, dem Bürgerlichen Trauerspiel und der Commedia dell’arte und vereinen sie mit Elementen aus der aktuellen Epoche. Es entsteht etwas Neues, kritisch und doch witzig, was bei der breiten Masse gut ankommt.

Bereits die ersten Stücke wurden von den oberen Schichten (Politik, Adel und gut situierte Bürger*innen) als problematisch gehandelt und in Zeitschriften sowie Rezensionen förmlich zerrissen. Die öffentliche Meinung jeder, die in der literarischen Welt eine Stimme hatten, dämpfte den Erfolg jedoch nicht so stark, als dass es sich nicht mehr lohnte, die Stücke zu schreiben. Dies wurde erst eine Generation später der Fall.

Ludwig Anzengruber

Ludwig Anzengruber, zu seiner Zeit auch bekannt als Ludwig Gruber, lebte Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts und trat, in gewisser Weise, als erster in die Fußstapfen von Nestroy und Raimund. Seine Volksstücke rührten, anders als die frühen Werke, nicht von der Posse (also vom Komischen/Grotesken), sondern vom Melodram aus. Er wurde als Vater des Realistischen Volksstücks bekannt.

Das Realistische Volksstück sonderte sich vom ursprünglichen Volksstück ab, in dem es tiefere Themen behandelte und mehr auf die tatsächlichen sozialen Probleme hinwies, anstatt nur die oberen Schichten lächerlich zu machen. Das Wiener Volksstück entwickelte sich Mitte des 19. Jahrhunderts weiter und ging in seinen Ausläufern bis zur Operettenform. Die Themen waren abstrahiert und zeigten die oberen Schichten in peinlichen Lagen und das Volks als Held – Anzengruber bot einen ernsthaften Gegenpol zu dieser Entwicklung.

Österreich wird zum Zentrum des Volksstücks

Anzengruber machte das bäuerliche Milieu Österreichs zum Mittelpunkt seiner Stücke und kritisierte auf einer Ebene, die Aufruhr erzeugte. Denn dadurch, dass das Wiener Volksstück immer mehr zu einer bloßen Posse wurde, fürchteten sich Adel und Politiker weniger vor seinem Effekt. Das Volk lachte und war ablenkt. Auf eine absurde Art und Weise ging es den oberen Schichten sogar zur Hand, da es nicht die tatsächlichen Probleme ansprach, sondern eher ein Ventil zum Meckern bot. Anzengruber hingegen wurde gefährlich. In seinen Stücken verstößt er gegen die Ständeklausel, klagt soziale Missstände an und zeigt eine dunkle, brutale Seite am Volk – etwas, was später von Horváth, Fleißer, Brecht und Jelinek, sowie vielen weiteren VertreterInnen der VolksstücksautorInnen, thematisiert wird.

Seine Stücke sind weniger Komödie, als die Wiener Volksstücke, ziehen jedoch trotzdem ein enormes Publikum an. Das Theaterpublikum der Zeit, dass immer mehr aus einfachen Leuten bestand, wurde von der Gewalt und dem Grauen magisch angezogen. Anzengruber bediente eine Seite der Menschen, die seit dem antiken Drama immer wieder im Theater Platz findet: das Vergnügen am Leiden anderer.


Die Geschichte des Dramas können Interessierte übrigens hier nachlesen.


Anzengruber begann damit eine wichtige Tradition des Volksstückes, in dem er dem Volk den Spiegel vorhielt. Menschen gingen in seine Stücke um Grauen zu erleben. Grauen, welches, so erwarteten sie, von den oberen Schichten ausgeht und das Volk trifft. Man sah sich das Stück in der Erwartung an, am Ende lamentieren zu können wie schlimm die Unterdrückung ja sei. Stattdessen spiegelte Anzengruber genau diese Lust am Elend in den Dramen und vereint die Gewalt von Oben mit der zunehmenden Verrohung des Volkes. Niemand kommt gut weg, in seinen Stücken, außer die, die wahre Humanität und Frömmigkeit verkörpern und selbst die bekommen kein Happy End. Anzengruber übte in den Stücken enorm wirksame Gesellschaftskritik.

Aufgrund dieser Wirksamkeit musste er früh mit den immer schärferen Zensurklauseln kämpfen und kam nach seinem größten Erfolg, dem Drama Das vierte Gebot (1878), für das er sogar den Schillerpreis erhielt, finanziell nicht mehr mit dem (kreativen) Schreiben aus. Seine Stücke wurden zu Grunde zensiert. Dank schlechter Kritiken und Sanktionen für Theater, die seine Stücke spielten, verdiente er fast nichts mehr mit den eigentlich beliebten Stücken. Anzengruber musste in andere Bereiche ausfächern, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen und das obwohl er schon zu Lebzeiten einer der beliebtesten Schriftsteller und Dramatiker im deutschsprachigen Raum war. Wirkliche Anerkennung in der literarischen Welt bekam er erst, als man ihm im Rahmen des Naturalismus neu betrachtete.

Das vierte Gebot

In Ludwig Anzengrubers Das vierte Gebot geht es um drei Familien und ihre Verbindung zueinander. Die Kinder, welche unter den Entscheidungen ihrer Eltern leiden, stehen im Mittelpunkt.

Im ersten Akt werden die drei Familien (Schön, Hutterer und Schalanter), sowie die Herren August Stolzenthaler und Robert Frey vorgestellt. Hedwig, die Tochter von Anton und Sidonie Hutterer soll August heiraten, ist jedoch verliebt in ihren Klavierlehrer Robert. August ist selbst schon mit einer jungen Frau zusammen, Josepha (kurz Pepi) Schalanter. Er hat der Ehe mit Hedwig jedoch nichts entgegenzusetzen. Johann Dunker, ein Lehrling bei der Familie Schalanter, ist in Pepi verliebt, diese jedoch nicht in ihn. Ihre Mutter Barbara findet ihn hingegen anziehend, was er nicht erwidert. Der Sohn von Hutterers Gärtnern Jakob und Anna Schön, Eduard, ist Geistlicher und soll Hedwig und August trauen. Neben all dem tritt Herwig, die Großmutter von Pepi und ihrem Bruder Martin auf, welche die beiden davor warnt, immer nur den Vorstellungen ihrer Eltern zu folgen.

Die Verbindung zwischen den Leuten und unerwiderte Gefühle setzten den Kanon für ein sehr verwirrendes Stück, welches sich jedoch zu Lesen lohnt.


An dieser Stelle eine ganz klare Leseempfehlung von meiner Seite – es ist auch für moderne Standards lesbar und wirklich spannend.


Der zweite Akt spielt etwa ein Jahr nach dem ersten. Martin Schalanter ist nun im Militär und auf Besuch zu Hause. Robert Frey, der aus Trauer um die zerbrochene Beziehung mit Hedwig zurück zum Militär ist, ist sein Feldwebel. Schalanters Geschäft ist bankrott, Johann der Lehrling ist entlassen und Pepi hält die Familie durch einen schlechten Beruf über Wasser. Hedwig und August verheiratet und haben ein sehr krankes Kind.

Hier treffen Hedwig, ihr Kindermädchen Resi und das Neugeborene durch Zufall auf Hedwigs ehemaligen Geliebten Robert. Dieser fühlt sich sichtlich unwohl in der Begegnung. Sie tauschen sich darüber aus, wie es ihnen in dem letzten Jahr ergangen ist. Dann geht Resi mitsamt dem Kind ins Haus.


Hedwig: Sie haben es gesehen, das kleine, arme Ding! Man sagte mir, sein Vater habe zu viel gelebt, als daß für das Kind etwas überbliebe; es wird hinsiechen, wochen-, vielleicht monatelang, aber es wird nicht fortkommen. (Sie drückt ihr Taschentuch an die Augen.) O, Sie sehen, ich bin recht glücklich! – – Ihnen muß es zur Genugtuung gereichen, daß Sie mich in solcher Lage finden.

Frey (schmerzlich): O gnädige Frau.

Hedwig: Sie haben es mir ja vorher gesagt.

Frey: Lassen Sie das Vergangene vergangen sein.

Zweiter Akt, fünfte Szene


Hedwig gesteht Robert, dass es ihr elendig ergeht, da ihr Kind sterbenskrank und ihre Ehe mit August kaputt ist. Sie bereut es, nicht vor ihrer Zwangsheirat mit ihm davon gelaufen zu sein. Robert beschwichtigt sie und will, dass sie nach vorne blickt. Der Umgang der beiden ist liebevoll und ehrlich, sowohl Robert, als auch Hedwig können offen ihr Leiden eingestehen. Etwas, was ihm als Feldwebel und ihr in ihrer unglücklichen Ehe wohl nicht allzu oft möglich sein dürfte.

Auch sprechen beide hochdeutsch. Sie setzten sich somit, mit Ausnahme von Eduard, vom Rest der Charaktere und deren Wiener Mundart ab. Sie passen nicht zum Rest. Weder ihre Beziehung, noch ihre Handlungen, noch ihre Sprache sind mit dem Rest des Dramas kohärent.

Die beiden kommen auf die Briefe zu sprechen, die sie sich schrieben, als sie noch ein heimliches Paar waren. Robert hatte sie am Ende der gemeinsamen Zeit gebeten, diese zu vernichten, da August sonst wütend würde. Doch Hedwig konnte dies nicht und bittet Robert nun ihre Briefe an sich zu nehmen und zu seinen zu tun. Sie verabreden sich gegen Abend an einem Wirtshaus die Straße hinauf.


(Hedwig bleibt in der Gartentüre stehen, Frey an der Kulisse links, um einander nachzusehen, dabei begegnen sich ihre Blicke, sie stehen einen Augenblick in gegenseitiges Anschauen versunken, dann zieht Hedwig leise das Gitter hinter sich zu, und Frey entfernt sich; sobald beide nicht mehr sichtbar sind, treten Schalanter und Martin aus dem Busch.)

Zweiter Akt, fünfte Szene


Sie haben offensichtlich noch Gefühle für einander und leiden jeden Tag, den sie getrennt sind. Mitten in diese intime Szene platzen Schalanter und Martin, welche sich zuvor vor dem Vorgesetzten Martins, Robert, im Gebüsch versteckten.

Die beiden haben unfreiwillig das Gespräch belauscht. In den folgenden Szenen wird dies zum Schlüsselmoment des Dramas. Schalanter, der alkoholkrank ist und bereits vor dem Niedergang seines Drechselgeschäftes in Geldnot war, sieht eine Gelegenheit, aus dem Leid der jungen Liebenden Profit zu schlagen. Er erzählt es Hedwigs Mann, dieser erfährt, dass seine Frau ihn nur aus Zwang heiraten musste und möchte sich scheiden lassen. Hedwig rennt fort und entdeckt auf ihrem Weg einen Zug aus Menschen, welche Robert in ein Spital bringen. Dieser wurde von Martin angeschossen, als sich die beiden über dessen fehlende Manieren stritten. Robert stirbt kurz darauf, ebenso wie Hedwigs Kind. Diese ist ein Schatten ihrer selbst. Martin wird hingerichtet, seine Schwester leidet darunter, ebenso wie seine Eltern und die Großmutter. Auch zwischen Pepi und Johann gibt es kein glückliches Ende.

Beziehungen im Fokus

In den ersten Szenen werden die bekannten Figuren und ihre Geschichten wieder aufgegriffen, dann erst geht es mit der Geschichte an sich weiter. Man erfährt bis zu dieser fünften Szene, wie es den Charakteren ergangen ist, seit dem Ende des letzten Aktes. Offene Fragen werden geklärt: Welche Familienverhältnisse haben sich verändert, wie haben sich alle weiterentwickelt und was wurde aus all den angedeuteten Ereignissen? Diese Szene ist also Ausgangspunkt für die weitere Geschichte, da ab hier die Handlung aktiv weitergeht. Alles zuvor ist Vorgeschichte, alles danach die direkte Auswirkung dieser Szene. Ohne sie würde die gesamte Handlung in sich zusammenbrechen. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt.

Der rote Faden im Drama ist die Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern, daher auch der Titel: Das vierte Gebot (in Anlehnung an die zehn Gebote). Es wird angezweifelt, ob es wirklich immer so ratsam ist, nur auf das Wort der Eltern zu hören. Hedwig leidet enorm unter der Entscheidung ihrer Eltern, sie zu verheiraten. Martin wird hingerichtet, seine Schwester hat nie wirklich etwas erreicht, auch ihre Erziehung war fehlerhaft. Nur der Sohn von den Gärtnern, Eduard Schön, welcher seinen eigenen Weg gegangen ist, hat wirklich etwas erreicht. Doch die Trauung zwischen Hedwig und August, welche er auf Wunsch seiner Eltern ohne weitere Bedenken vollzog, war ein Fehler. Alle Fäden werden im Schluss zusammengezogen und deuten auf die Worte der Großmutter hin, welche im ersten Akt vor genau diesem Handeln warnte.

Hedwig nimmt eine Sonderrolle ein, da ihr Ungehorsam das Ganze auslöste und späterer Gehorsam ihr Schicksal besiegelte. Keine ihrer Entscheidungen war im Endeffekt die Richtige. Ihr Ungehorsam gegenüber ihrem Mann, ausgehend von der Begegnung mit Robert in der Schlüsselszene im zweiten Akt, löste zudem weitere Komplikationen aus, welche die Charaktere noch schlechter stellten. Sie diskreditiert alleinig die Grundaussage des Dramas. Dies wird an mehreren Szenen, insbesondere jedoch an der hier untersuchten, deutlich.

Somit ist diese letzte Szene nicht nur Wendepunkt der Handlung, sondern auch Anzeichen dafür, dass die gesamte Aussage des Stückes angezweifelt werden kann und sollte.

Anzengrubers Aussage

Anzengruber baut sich aus familiären Geschichten ein Konstrukt, in dem er sowohl die oberen Schichten, als auch die falsche Frömmigkeit/ überbordende Religiosität und Naivität des Volkes kritisch betrachten kann. Die drei Familien repräsentieren verschiedene Unterkategorien des Volkes und zeigen, wie schnell Situationen aus dem Ruder laufen können. Zudem wird auf übermäßigen Alkoholkonsum und wirtschaftliche Schwierigkeiten, sowie die Rollen der (jungen) Frauen als leidende zwangsverheiratete Mutter oder Alleinverdienerin (zwei durchaus realistische Schicksale um 1850) hingewiesen.

Er wagt einen Rundumschlag auf alle sozialen Probleme seiner Zeit und wird mit harten Zensur und Armut gestraft.

„Es gibt keine Kavaliere mehr“ – Warum Ritterlichkeit aussterben muss

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„Es gibt keine Kavaliere mehr“

Warum Ritterlichkeit aussterben muss


TW: Stalking


Disclaimer: Im folgenden Text ist von Männern und Frauen die Rede. Dabei handelt es sich vor allem um cis Männer und cis Frauen oder Personen, die vor allem als männlich/weiblich gelesen werden. Das Problem ist selbstverständlich auch auf die LGBTQA+ Community beziehbar (genau, wie auch Frauen die Täterinnen sein können), im Fokus liegt jedoch die heteronormative und cisnormative Art, wie Medien und Menschen mit Stalking umgehen, da dort die meisten Probleme entstehen und diese Art von Stalking am häufigsten romantisiert wird.


Dank eines Tweets vor wenigen Tagen kam in den Sozialen Medien ein Thema hoch, das immer mal wieder diskutiert wird: ist es problematisch, wenn ein Mann eine fremde Frau nach einem flüchtigen Treffen mit zahlreichen Mitteln ausfindig macht?

Ich möchte mich ein bisschen mit dieser Frage auseinandersetzen und die Ebenen, die hinter ihr stehen, untersuchen. Dafür habe ich am Sonntag (den 13.01.2019) eine  grobe Umfrage auf Twitter gestartet. Zu den Ergebnissen komme ich später.


Der Auslöser der Diskussion

Grund, warum zum wiederholten Male über das Ganze gesprochen wird, ist ein Tweet, den ich hier anonymisiert per Screenshot eingefügt habe.

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Ich möchte an dieser Stelle nicht diesen Tweet auseinandernehmen, sondern ihn viel mehr als aktuellen Vertreter eines uralten Problems handhaben. Die Romantisierung von übergriffigem Verhalten ist etwas, was wirklich nicht neu ist. Weder auf Twitter, noch abseits von Sozialen Medien.

Es ist noch nicht lange her, dass ein bekannter Twitterer über eine Frau berichtete, die er immer wieder in der Straßenbahn sah. Er schaute auf ihr Handy und bemerkte nach einigen Malen, dass sie eine gewisse Band mochte, zu deren Konzert er dann Karten erstand, um sie einzuladen. Diese Geschichte ist frei erfunden, erreichte jedoch auch tausende Menschen, die ganz gerührt in die Kommentare schrieben: „ein richtiger Romantiker!“ und „ich dachte immer, es gibt keine Kavaliere mehr!!“.

Auch bei dem neueren Tweet sammelte sich diese Art von Kommentaren, die das Ganze als romantische Heldentat einstuften. Warum ist das nun problematisch? Es ist ja nichts dabei, eine Frau, von der man weiß, dass sie zu einer gewissen Zeit an einem gewissen Ort ist, anzusprechen – oder? Und sie zu suchen, wenn sie beispielsweise den Arbeitsplatz gewechselt hat, das ist doch romantisch!

Ist es das wirklich?

Betreffende Twitterin, wurde mehrfach gefragt, ob sie die Frau denn nun gefunden hätten und ob sie das nicht schwierig findet. Letzteres beantwortete sie damit, dass sie ja schauen würde, dass nichts passiert und auf die erste Frage kam diese (mittlerweile gelöschte) Antwort:

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Aus dem ersten Suchen wurde eine handfeste Stalkingbedrohung. Alles diskutabel, mögen jetzt einige sagen. Ich möchte in den nächsten Abschnitten zeigen, was alles falsch an dieser „romantischen“ Vorstellung ist, wieso Männer auch mal aufgeben müssen und was es mit dem Begriff „Gentleman“ im 21. Jahrhundert auf sich hat.

Von der Unsicherheit, eine Frau zu sein

Das erste Problem dieser ganzen Sache ist, das generell vermutet wird: es wird schon alles gut ausgehen. Der Mann ist sicher nett und die Frau sieht damit sicher kein Problem. Oft wird damit argumentiert, dass man selbst das ja nicht schlimm finden würde.

Was damit anderen Frauen abgesprochen wird, ist ihr Recht auf Anonymität und Sicherheit. Sich als Frau in der Welt zu bewegen ist zu gewissen Zeiten riskant, das wissen alle Frauen. Einkaufen gehen, in der Bahn stehen, Arbeiten – das alles sind Momente, die man nicht so einstufen würde. Durch die Romantisierung dieser Liebesmissionen (sprich: Mann weiß, dass eine ihm fremde Frau zu einem Zeitpunkt irgendwo sein wird, Mann nutzt dies aus, um sie aufzusuchen und anzusprechen) nimmt man diesen Situationen ihre Sicherheit.

Ich will mich erklären: natürlich kann es sein, dass ein Mann eine Frau hübsch findet und weiß, dass sie gerne samstags in die Bibliothek geht oder jeden Freitag mit derselben Bahn fährt. Dann spricht auf den ersten Blick nichts dagegen, sie anzusprechen. Das Problem entsteht, wenn Arbeitszeiten ausgenutzt werden (sprich, wenn die Frau nicht ausweichen und/oder ablehnen kann), man diese wiederkehrenden Momente nutzt, um Informationen über die betreffende Frau zu sammeln oder man sie eben nicht anspricht, sondern stattdessen aus der Ferne weiter beobachtet. Dann wird aus einer „süßen Aktion“ ein gruseliger Moment, der der Frau ihre Sicherheit im Alltag nimmt.

Auch die Suche auf Sozialen Medien oder über den Freundes- und Kolleg*innenkreis überschreitet eine Grenze. Oft wurde in den Kommentaren geschrieben, dass es ja wohl gerechtfertigt sei, eine Frau über Facebook, Instagram oder Twitter zu finden. Immerhin stellt sie ihr Leben ja online. Genauso können Freund*innen und Kolleg*innen ruhig Informationen rausrücken. Ist ja alles ganz harmlos.

Wem man als Frau traut, wo man öffentlich twittert oder auch nur den eigenen Namen zu laut sagt – das alles sollte keine Frage von „ist hier vielleicht jemand, der das hört/sieht/erfragen kann und mich danach findet?“ sein.

Es ist noch nicht lange her, dass eine Twitterin eine DM öffentlich machte, in der ein Mann zugab, dass er hinter ihr beim Einkaufen stand. Er fand sie süß, schaute über ihre Schulter, fand ihren Twitternamen und nutze dies aus. Das ist nicht okay. Und es gibt keine Rechtfertigung dafür, einer Frau ihre Sicherheit in diesen Dingen zu nehmen. Es schamlos auszunutzen, dass sie einmal ihre vermutlich eh schon dauerhaft hochgefahrenen Schutzschilde kurz nicht aktiviert hatte.

Stalkingexpert*innen und die große Liebe

Das nächste Problem ist, dass solches Verhalten immer von irgendjemandem verteidigt wird. Ob man es nun auf die Biologie des Mannes schiebt (entweder „er war halt schüchtern“ oder „Männer jagen eben gerne“), jede/r plötzlich ein/e Expert*in für Stalking ist („das ist kein Stalking, dafür muss die Situation *noch* übergriffiger sein, finde ich!!“) oder man einfach alles auf die große Liebe schiebt („das kenne ich aus dem Film X! Da war das soooo süß!“) – es gibt zu viele Menschen, die das entschuldigen.

Teilweise eben auch, weil die Chance, dass der Mann seine große Liebe findet, über die Chance, dass sich die Frau unwohl fühlt, gestellt wird.

Männern wird in zahlreichen Filmen, Büchern und anderen Medien gezeigt, dass man niemals aufgeben sollte. Auch wenn die Frau weg ist, mit dem besten Freund verheiratet ist oder deutlich nein gesagt hat. Richtige Männer (TM) geben niemals auf und richtige Frauen (TM) lassen sich ein bisschen jagen. Sonst macht das ja gar keinen Spaß. Richtig? Falsch.

Es wird immer damit argumentiert, dass es ja die eine große Liebe sein könnte, man(n) weiß ja nie. Aber wenn man die Sicherheit einer Frau aufs Spiel stellt, damit ein Mann sich wie ein Jäger fühlen kann, dann läuft etwas falsch. Auch die Behauptung, „er wäre halt verliebt“ ist grausig, wenn man darüber nachdenkt. Er ist nicht verliebt, wenn er noch nie mit ihr gesprochen hat. Alles was diese Aussage ist, ist eine romantisierende Ausrede, die Stalking relativiert, weil es ja um Liebe geht und da ist alles erlaubt.


Nun zurück zu der Umfrage, die ich gestartet habe. Meine Fragestellung war bewusst gewählt zwischen „das ist romantisch“ und „das ist gruselig“. Ich muss zugeben, dass ich eigentlich gar nicht wissen wollte, wie die Menschen auf Twitter abstimmen. Tatsächlich wollte ich eine Theorie testen, die sich (leider) bestätigt hat: Menschen gehen weite Wege, um ihre toxischen Denkweisen zu erklären und zu verteidigen.

Es dauerte wenige Minuten, bis sich unter dem absichtlich polarisierenden Tweet die Kommentare sammelten: „kann man so pauschal ja nicht sagen“, „kommt immer auf die Umstände an“, etc. Etwas, was ich unfassbar problematisch finde. Nur eine Person meinte, dass die Frau, die im Zweifelsfall betroffen ist, das zu entscheiden hat. Ebenfalls nur ein/e Nutzer*in fand, dass „romantisch“ ein schwieriges Wort an dieser Stelle ist. Einige wenige fanden es komplett bedenklich, die Mehrheit hatte mindestens eine Situation, in denen sie das Ganze „romantisch“ finden würden. „Geht ja alles, wenn er es so oder so macht“ – nein. Es geht nicht. Es ist absolut nichts romantisch daran, jemanden so zu verunsichern.

Ich will niemanden angreifen, der das auf den ersten Blick romantisch findet. Vielmehr möchte ich an dieser Stelle dazu aufrufen, dass sich die Personen hinterfragen. Wieso finde ich das romantisch? Woher kommt das? Denke ich jetzt vielleicht anders darüber und wieso?


Das große Problem hinter den Wörtern „Kavalier“ und „Gentleman“

Natürlich geht dieser Umgang mit Stalking und dem Anrecht, auf eine Frau/Informationen über sie, weiter, als die Kommentare unter einem Tweet. Deshalb möchte ich jetzt noch ein bisschen über etwas schreiben, was oft bei solchen Geschichten genannt wird.

Wenn wir die Worte „Kavalier“ oder „Gentleman“ sehen, denken wir an die typisch-stilisierten Männer des Mittelalters und des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Romantisierter Sexismus inklusive, sind diese Wörter nichts, mit dem man(n) sich identifizieren sollte.


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Gentlemen, Ju Ming (Chicago)


Der Trop, dass Männer sich wie „Gentlemen“ benehmen, wenn sie locker flockig die Zigarette ihrer Loveinterest anzünden, ihren langen Mantel im schwarz-weißen Flackern des Films schwingen und dabei mit tiefer, verrauchter Stimme „hey babe, everything’s gonna be alright, as long as I’m with you“ flüstern, ist genau das: ein Trop. Das Anrecht auf die Frau kommt in dieser Männerrolle immer wieder durch. Klar bekommt der „Gentleman“ die Frau am Ende! Wie könnte sie auch jemals nein sagen? Er war schließlich kurz mal irgendwie nett zu ihr.

Männer die wir als „Gentlemen“ und „Kavaliere“ bezeichnen, sehen Frauen historisch betrachtet immer als schwächer. Sie halten nur Frauen die Türen auf, greifen ihrer  sexy Sekretärin verspielt an den Hintern und lachen über die „starke Frau“ die eine von ihnen sein will. Ekelhafte Überbleibsel dieser Männlichkeitsauffassung und der Anrechtsdenkweise können wir noch heute in Burschenschaften und Gentlemens Clubs beobachten.

Aber auch im Internet (beispielsweise auf der Plattform „Reddit“) kann man dies sehen. Dort sind zahlreiche Männer der Ansicht, dass Frauen ihnen etwas schulden, weil sie nett zu ihnen waren. Ein bekanntes Phänomen dieser Subkultur ist das Wort „Friendzone“, worüber man jedoch einen eigenen Artikel schreiben müsste. Kurz erklärt ist die „Friendzone“ ein Ort, an den Frauen Männer verbannen, die zu nett zu ihnen sind. Frei nach dem Motto: Frauen wollen Arschlöcher, ich bin nett zu Frauen und sie wollen immer nur mit ihr befreundet sein.

Es ist beängstigend zu überlegen, dass die Männer, die das denken, überall um einen herum sein könnten. Daterape und „ich schlage diese Frau zusammen, weil sie nein gesagt hat“ oder die neuste Ausführung dieser Sichtweise: „ich schlage eine Frau zusammen, weil ich mich nicht getraut habe sie anzusprechen“, sind die (nicht so selten auftretend, wie man jetzt vielleicht annimmt) Ausgeburten dieser Denkart.

Wenn jemand sagt, dass es keine richtigen „Kavaliere“ mehr gibt, dann ist das gut. Wird jemand als Überbleibsel dieser „guten alten Zeit“ bezeichnet, so ist das nichts anderes als eine Beleidigung.


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Gentlemen On The Bench (Łańcut)


Wenn also Frauen in den Kommentaren zu diesen Begebenheiten (auf Twitter und in anderen Sozialen Medien) schreiben, dass es schön sei zu sehen, dass es noch richtige „Kavaliere“ und Romantiker gibt, dann ist das kein gutes Zeichen für die betreffenden Männer.


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Portrait of two gentlemen (1817), James Warren Childe


Männer die sich höflich benehmen, verdienen keine Goldmedaille und auch keine Auszeichnung als „richtiger Mann“ oder „Kavalier“. Es sollte normal sein, dass man sich als Mensch höflich und respektvoll gibt. Die verstaubten Definitionen von Männlichkeit und „Gentlemen“ gehören in den Geschichtsunterricht und alte Schwarz-Weiß-Filme.

Gleichsam sind Männer, die das Risiko eingehen, einer Frau ihre Sicherheit in alltäglichen Situationen zu nehmen, um mehr über sie herauszufinden, nicht „Kavaliere“, wie wir sie uns gerne vorstellen. Sondern übergriffig und davon überzeugt, dass sie ein Anrecht auf die Frau haben.

Fazit

Wie kann man diese Frauen sonst ansprechen, fragt ihr euch jetzt vielleicht? In dem Moment, in dem man sie sieht. An der Kasse beim Rewe, in der Bahn, an der Uni. Nicht Wochen später, nicht auf ihrer Arbeit, nicht mithilfe einer Information, die ihr durch gruseliges Verhalten herausgefunden habt. Gebt der Frau die Möglichkeit, nein zu sagen. Erbeutet euch keine schwammige Antwort, in dem ihr sie in einer Situation ansprecht, in der sie nicht nein sagen kann, weil sie arbeitet oder ihr sie mit etwas überrascht, was sie in eine Schuld-Situation bringt (wie das, mit den Konzertkarten).

Wenn ihr das nicht schafft, dann lasst es bleiben. Sie ist nicht die eine große Liebe, sondern eine fremde Person, deren Sicherheit ihr aufs Spiel setzt, weil Männern beigebracht wird, dass sie ein Anrecht auf sie haben.

Dieses Verhalten ist niemals gerechtfertigt und niemals romantisch, ganz egal was moderne Medien und alte Filme mit ihren „Gentlemen“ uns gerne erzählen. Männer haben nicht das Gott gegebene Recht darauf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Namen einer Frau zu erfahren, auf die sie scharf sind. Es ist nicht romantisch, jemanden zu verfolgen, zu beobachten oder durch Dritte aufzusuchen.

Frauen haben ein Recht darauf, offen ihren Namen zu sagen, ohne das die Chance besteht, danach von jemandem über Facebook kontaktiert zu werden, der sich „halt nicht getraut hat“ sie anzusprechen. Sie haben ein Recht darauf, regelmäßig dieselben Orte zu besuchen, ohne von einem „schüchternen“ Bewunderer aus der Ferne gestalked zu werden. Vor allem aber sind „Gentlemen“ etwas, was auch früher schon grenzwertig war. Heute mehr als jemals zuvor ist es nichts Besonderes, einfach nett zu einer Frau zu sein. Männer verdienen sich damit nichts, Frauen schulden ihnen nichts.

Unsere Vorstellung von dieser grenzwertigen Romantik und genereller Ritterlichkeit ist etwas, was dringend aussterben muss.


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Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt [Rezension]

 

Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt

Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt

Maya Angelou


TW: Rassismus, Homophobie, sexuelle Gewalt


Das Team von 54books hat für das Jahr 2019 einen Lesekreis gegründet, für den jeden Monat ein Teammitglied ein Buch aussucht, das dann im Kollektiv gelesen wird. Updates werden dann via Twitter mitgeteilt, aber auch in Privatchats geht die Diskussion heiß her.

Das Projekt startete vor wenigen Tagen offiziell und ist bereits erfolgreich. Maya Angelous Biografie Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt (engl. I Know Why the Caged Bird sings) ist das Januarbuch. Updates zum Projekt gibt es über den Twitteraccount @54reads und die Hashtags #54reads und #54readsMA.


Nun aber zu meiner Rückbesprechung. Denn genau das ist dieser Artikel. Auch wenn es noch früh im Monat ist, muss ich ein bisschen was zum Buch loswerden.

Für den Lesekreis las ich die 2018 bei Suhrkamp erschienene Neuauflage von Angelous Buch, die von Harry Oberländer übersetzt wurde.


Die Zusammenfassung von Suhrkamp:

Die Ikone der afroamerikanischen Literatur, ihr epochemachendes Werk: Maya Angelou wächst in den Dreißigerjahren im Kramerladen ihrer Großmutter am Rande einer Baumwollplantage auf. Für sie und ihren Bruder ein Ort des Zaubers und des Spiels inmitten einer schwarzen Gemeinde, die der Hass und die Armut auszulöschen droht …


Bereits zu Beginn des Buches ist die Stimmung bedrückend. Armut und Segregation schwingen drohend in jedem Wort mit.

In der Zeit der Baumwollernte enthüllten die frühen Abendstunden die Bitterkeit des schwarzen Lebens im Süden.

Es wird zu keinem Zeitpunkt ein Blatt vor den Mund genommen. „Kann sein, dass ein paar von den Jungs später mal vorbeikommen“ löst panische Angst bei der Erzählerin aus. Der KKK. Mir wird schlecht, wenn ich es nur lese, es zu erleben möchte ich mir gar nicht erst vorstellen.

Dann plätschert die Geschichte vor sich hin. Das schwarze Leben im Süden wird mit klarer und zu Teilen fast verklärter Stimme abgebildet. Verklärt nicht, weil es beschönigt wird, sondern eher, weil man die Melancholie, die hinter den Seiten liegt, spürt. Sehr zu meinem eigenen Missfallen musste ich feststellen, dass ich begann, es als blanke Kindheitsmemoiren zu lesen. Als rein biografischen Text, als historische Quelle. Mein Blick wurde mit jeder Beschreibung eines Südstaaten-Details oder einer Erinnerung, die spezifisch auf das Leben in einer afroamerikanischen ‚Siedlung‘ anspielt, zunehmend exotisierender.

Ich las Angelous Schreiben über den Süden und ihre Kindheit als einzigen langen Jazz-Song, der zu Teilen in einen traurigen Blues überging. Vielleicht auch, weil ich heute so von der Musik aus dieser Zeit beeinflusst bin und die Geschichten der Menschen fast nur aus eben solchen Liedern kenne. Vielleicht, weil ich mich davor wehrte zu realisieren, wie schlimm es tatsächlich war.

Und dann kam das Kapitel, dass mich wachrüttelte. Und schockierte. Und bis zu diesem Moment nicht loslassen will. Mein verklärter, historischer Blick auf den schwarzen Süden wurde brutal aus den Zeilen gerissen und zurück blieb fremder Schmerz. Angelou beschreibt den Missbrauch, den sie als Kind erlitt, so genau und doch distanziert. Man liest in den Zeilen die Angst, die sie als 8-Jährige fühlte ebenso wie den Schmerz, den sie als erwachsene Frau beim Schreiben erlitt, als sie sich zwang diese Erinnerung festzuhalten.


Ich glaubte, ich sei gestorben. Ich wachte in einer Welt auf, wo alle Wände weiß waren, das musste der Himmel sein. Aber da war Mr Freeman und wusch mich.


Bei all dem behält sie ihren Stolz und trägt ihn vor sich her, wie als Kind die Schuld. Lange zieht es sich durch den Text, dass sie Mitleid für den Mann, Mr. Freemann, empfand. Man fragt sich – ich frage mich, ob sie wohl jemals aufhörte, so zu denken.

Nach dieser Szene ist alles irgendwie nur noch Nachspiel. Man liest die Heilung einer jungen Frau, ihre Erziehung, ihr Leben. Wie sie von ihren Eltern zu anderen Verwandten zieht, eine Ausbildung beginnt und nach ihrem ersten Schulabschluss erneut umsiedelt. Diesmal für immer. Als Leser*in erfährt man Details so persönlich, wie man sie man sonst nur aus eigenen Erinnerungen kennt.

Angelou bildet sich, wird gefördert, erfährt Grauen und Gutes gleichermaßen. Auch wenn einem als Leser*in das Schlechte besonders mitnimmt, weil sie in fast gleichgültigem Ton erzählt, was für uns heute unerhört erscheint.

Was hängen geblieben ist.

Eine der Erinnerungen Angelous bleibt besonders an mir haften: die der Namensänderung. Etwas, was heute noch gemacht wird, wenn ein Name dem deutschen Amt zu anstrengend oder kompliziert oder ‚ethnisch‘ ist. Für Angelou ist nicht das der Grund, warum sie ihren Namen verliert. Eine weiße Frau benennt sie um. Einfach so, weil es ihr besser passt und der Name kürzer ist. Sie macht aus der Erzählerin im Buch ein Ding, einen Gegenstand, über den sie frei verfügen kann. So wie sie es mit ihren anderen Bediensteten machte.


Eine davon relativiert dieses Vorgehen:

Sie hielt mir die Tür auf. „(…) Ich war damals nicht viel älter als du. Mein Name war Halleluja. So nannte mich Mutter, aber meine Herrin gab mir den Namen Glory, und dabei ist es geblieben. Er gefällt mir auch besser.“ Ich war schon auf dem kleinen Pfad hinter dem Haus, als Miss Glory mir nachrief: „Außerdem ist er kürzer.“
Ein paar Sekunden lang war mir unklar, ob ich lachen (stell dir vor, du heißt Halleluja) oder weinen sollte (stell dir vor, irgendeine weiße Frau gibt dir aus eigener Machtvollkommenheit einen fremden Namen).


Ein anderes Thema ist die Vorsicht, mit der schwarze Eltern ihre Kinder behandeln. Zum Beispiel die festen Zeiten, wann diese Zuhause sein sollen. Angelou schreibt dies der Angst zu, dass etwas passieren könnte. Eine Angst, die in realen Vorkommnissen bestätigt wird, wenn die Polizei dunkelhäutige Menschen einfach so erschießt, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Etwas, was ebenfalls heute noch geschieht.


Schwarze Frauen im Süden, die für die Erziehung von Söhnen, Enkeln oder Neffen verantwortlich sind, tragen ihr Herz in der Schlinge. Jedes Abweichen von den Regeln kann der Bote einer schrecklichen Nachricht sein. Das ist der Grund, warum die schwarzen Südstaatler bis zur heutigen Generation zu Amerikas Erzkonservativen gehören.


Auch der Leistungsdruck ist glasklar. Bei einem Boxkampf zwischen einem Schwarzen und einem Weißen kämpfen zwei Systeme miteinander. „Falls Joe verlor, sanken wir hilflos in die Sklaverei zurück.“ So schreibt Angelou. Joe Louis bleibt Weltmeister. „Champion. Ein schwarzer Junge. Der Sohn einer schwarzen Mutter war der stärkste Mann der Welt.“ Was bleibt ist ein bitteres Gefühl, nach der ersten Euphorie. Alle verlassen den Laden, in dem sie zusammen den Kampf schauten und gehen nach Hause, bevor es zu spät wird.


„Für einen schwarzen Mann und seine Familie war es nicht gut, alleine auf einer Landstraße gesehen zu werden, vor allem in der Nacht, in der Joe Louis bewiesen hatte, dass wir das stärkste Volk der Welt waren.“


Später, bei der Abschlussfeier von der Schule, wird auf diese Szene erneut angespielt. Diesmal in einem anderen Kontext. Ein Redner erklärt den Jugendlichen, dass sie Sportler werden können.


Weiße Jugendliche hatten die Chance, Galileos und Madame Curies zu werden, unsere Jungen durften versuchen, Jesse Owens und Joe Louis zu werden, die Mädchen waren ganz aus dem Spiel. (…) [W]ieso hatte ein Schulbürokrat im weißen Himmel von Little Rock das Recht zu bestimmen, dass diese beiden Männer unsere einzigen Helden zu sein hatte?
(…)
Bailey (Angelous Bruder) war offensichtlich zu klein, um je Athlet zu werden. Wer war dieser Engel, der irgendwo auf seinem Landsitz beschlossen hatte, dass mein Bruder, um Rechtsanwalt zu werden, erst die Strafe für seine Hautfarbe bezahlen musste: beim Baumwollpflücken, Maishacken und dem zwanzigjährigen Fernstudium in der Nacht.


All die Dichter*innen und Denker*innen, die ignoriert wurde, weil sie die falsche Hautfarbe hatten, zählen nicht als Vorbild. Schwarze Kinder hatten kaum jemanden, zu dem sie aufschauen konnten. Diese Stelle ist ein Aufruf an uns alle, den Kanon zu brechen, damit so ein Denken nicht weiter wachsen kann.

Erniedrigung, Mexiko und das Ende

Die dauerhafte Erniedrigung von ‚Momma‘, wie Angelou ihre Großmutter nennt, trotz ihrer finanziellen Überlegenheit, geht auf die nächste Generation über. Angelou beschreibt, wie wütend sie diese Behandlung macht und denkt sich Geschichten aus, wie ihre Momma all denen, die sie so behandeln, mächtig die Meinung sagt. Geschichten, in denen sie heimlich den Laden schmeißt und die Mächtige ist.

Ein Verarbeitungsmechanismus, um damit klar zu kommen, dass man zu einem gewissen Punkt machtlos ist.

Und dann kommt irgendwann Mexiko. Die Erzählerin ist bei ihrem Vater zu Besuch, der sie mit nach Mexiko nimmt. Dort hat sie zwar Spaß, wird jedoch auch alleine gelassen und muss mit ihm auf dem Rücksitz schließlich alleine das Auto zurück zur Grenze fahren.

Ihr Selbstbewusstsein baut sich, auch durch solche Einschübe, immer weiter auf. Sie ist sich bewusst, dass sie stark ist. Stärker als Gleichaltrige. Sie traut es sich zu, abzuhauen und einen Monat quasi auf der Straße zu leben. Sie sagt sich selbst immer wieder, dass sie stark ist. Weil niemand sonst es tut.

Zum Ende hin, beginnt die Geschichte mir weniger zu gefallen. Das, was passiert, ist weiterhin spannend. Leider integriert Angelou jedoch zunehmend misogyne, klassizistische und homophobe Kommentare in ihren Text. Sie ist sie ihrer doppelten Unterdrückung als schwarze Frau bewusst, äußert sich jedoch immer wieder abfällig gegenüber anderen Frauen und deren Weiblichkeit. Die hübschen Mädchen werden gegen die schlauen und starken aufgeführt. (Angelou äußert sich am Ende auch über die Schmerzen beim Kinderbekommen und meint, dass es ihr vorkommt, als würde da seitens der Frauen immer übertrieben werden).

Das ist eine sehr unnötige und für mich die Leseerfahrung zerstörende Addition zum Text. Auch stellt sie sich über andere Schwarze, weil sie sich ohne Slang ausdrückt und äußert sich abfällig über die MexikanerInnen, die eben kein „schönes Schulspanisch“ sprechen, wie sie. Es ist ein Anzeichen von Unsicherheit und ganz klar auch ein Überbleibsel der Zeit, in der Angelou aufwuchs und das Buch schrieb. Als erwachsene Frau so unreflektiert über diese Themen zu schreiben, bzw. ihre früheren Erfahrungen nicht zu erklären, ist allerdings etwas, was angesprochen werden muss.

Noch deutlicher wird dieses Problem bei der Homophobie. Angelou beschreibt ihre Gedankenprozesse als Jugendliche, als sie dachte, sie sei lesbisch. Etwas, was sie großflächig mit Intersexualität verwechselte. Als sie sich dann ästhetisch zu einer Frau hingezogen fühlt, reflektiert sie dies zwar aus ihrer mittlerweile erwachsenen Perspektive heraus, der Kasus des Textes bleibt aber: ‚Gott sei Dank bin ich keine Lesbe‘ und ‚ich kann nicht lesbisch sein, weil ich schwanger bin‘.

Dass dem Vater dann jegliche Verantwortung entzogen wird, weil „es keinen Grund gibt, drei Leben zu ruinieren“, ist ein weiterer Punkt, an dem ich stirnrunzelnd vor dem Reader saß und mich gefragt habe, warum es diese komischen Szenen brauchte. Warum auf diese unreflektierte Art, wenn der Rest des Buches doch gegen Bevormundung, Stereotype und die Benachteiligung von Gruppen ausgerichtet ist?

Diese Entwicklung zum Ende hin muss von LeserInnen reflektiert werden. Ob man es nun als ‚historisches‘ Abbild eines problematischen Gedankenguts sehen will oder aktiv kritisiert und sagt, Angelou hätte als erwachsene Frau besser reflektieren sollen, besonders, da das Buch weltweit einen gigantischen Einfluss ausübt(e), muss jede/r mit sich selbst ausmachen.

Rezeption des Lebensgefühls in der Popkultur

Ganz gleich wie befremdlich das Ende für mich auch sein mag, es lässt sich nicht bestreiten, dass Angelous Biografie ein Meisterwerk ist. Es ist eine pointierte und deutliche Darstellung davon, wie es war, zu einer gewissen Zeit in den USA schwarz aufzuwachsen.

Heute finden wir die Erfahrung in der Popkultur widergespiegelt. Filme wie ‚Get Out‘, Lieder wie ‚This is America‘, ‚Daddy Lessons‘ oder ‚Formation‘, Serien wie ‚Roots‘, in der Maya Angelou selbst mitspielte. Sie öffnete mit ihrer Biografie eine Tür, die wir nicht wieder schließen dürfen.

Besieht man sich die Fortschritte, die wir seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht haben, so ist es leicht, sich auf die Schulter zu klopfen und Rassismus für gelöst zu erklären. Aber wenn es etwas gibt, was aus Angelous Buch mitgenommen werden muss, dann das es nicht so einfach ist. Ein gutes Ereignis oder zwei oder zehn besiegen nicht das System. Es ist der dauerhafte Kampf dagegen, der eine wirkliche Änderung bewirkt.

 

1. Basics: Was ist ein Volksstück und wieso sollte ich das wissen?

Go the Distance

Basics: Was ist ein Volksstück und wieso sollte ich das wissen?


TW: Alkoholismus, Gewalt


In diesem ersten Artikel aus der Reihe möchte ich die Grundlagen klären und die Grundzüge an einem ersten Beispiel festmachen.


Was ist das Volksstück?

Das Volksstück an sich ist eine Form des Dramas, also des Theaters, dass sich in den Ursprüngen an ein möglichst breites Publikum richten sollte – daher der Name Volksstück. Angesprochen mit dem (gerade heute ja durchaus problematischen) Begriff „Volk“, war das „gemeine Volk“ des späten 18. Jahrhunderts. Das Volksstück entwickelte sich aus dem barocken Hoftheater und dem bürgerlichen Trauerspiel. Es wurde zu einer Alternative, in der das Volk auf der Bühne dargestellt war. Dies fand statt, da es bis dahin kaum (realistische) Figuren auf der Bühne gab, die nicht aus dem Adel stammten.

Ein weiterer wichtiger Einfluss ist zweifellos auch die Commedia dell’arte (Stehgreiftheater des 16. bis 18. Jahrhunderts aus Italien), in der feste, Sterotypen-Figuren in unterschiedlichen Situationen immer wieder aufeinandertrafen. Diese Stücke wurden auf Wanderbühnen aufgeführt.


Karel_Dujardin_-_Les_Charlatans_italiens

Scaramuccia e la ruffiana


Ende des 18. Jahrhunderts wurde es zunehmend akzeptabel, das Volk als Figur auf die Bühne zu stellen, ohne es nur im Hintergrund zu zeigen. Mitglieder des gemeinen Volkes bekamen eine eigene Stimme und standen um ihrer selbst willen auf der Bühne. Dies war ein großer Durchbruch in der Theaterszene.

Ein Fehler, der sich oft einschleicht, wenn man über Volksstücke spricht, ist, dass auch die Schauspieler*innen aus dem Volk stammten. Das ist alleine schon aufgrund der sehr limitierten Schriftlichkeit nicht möglich gewesen. Die meisten Schauspieler*innen des 18. und 19. (und durchaus auch des frühen 20.) Jahrhunderts kamen aus dem Adel oder einer reichen, gut situierten Familie.


Nestroytalisman

Szene aus „Der Talisman“ von Johann Nestroy (1840)


Die ersten Volksstücke

Das Altwiener Volkstheater war der erste Vertreter des Volkstheaters und entstand in den sehr frühen Ausläufern (und je nach Definition) bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Allgemein werden jedoch Johann Nestroy und Ferdinand Raimund als Hauptvertreter des Altwiener Volksstücks gesehen, beide lebten Anfang des 19. Jahrhunderts. Dort setzt auch das erste Beispiel dieser Blogreihe an.

Das Volksstück formierte sich in ähnlicher Form über das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinweg in Knotenpunkten wie Berlin, München und Hamburg. Im Lauf dieser Reihe wird auch die bayrische Provinzstadt Ingolstadt eine wichtige Rolle spielen. Allgemein ist es für viele Volksstücke nicht möglich, sie auf einen Ort zu reduzieren, da die meisten zwar in Wien und anderen großen Städten spielen, die Autor*innen jedoch oft aufgrund von übler Nachrede und Zensur (und Verfolgung) aus dem Exil schreiben mussten.

Der Alpenkönig und der Menschenfeind

Nun zum ersten Beispiel. An diesem (sehr frühen) Stück werden die grundlegenden Merkmale geklärt und euch ein bisschen gezeigt, wie so ein Volksstück eigentlich aussah. Dafür schauen wir uns jetzt Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828) an.


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Szenebild Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828)


Der volle Titel verrät schon das Problem, mit dem Volksstück in den Anfängen (und auch allgemein): Der Alpenkönig und der Menschenfeind, Romantisch-komisches Original-Zauberspiel in zwei Aufzügen.

Das Volksstück hat die Angewohnheit, mit anderen Arten von Theaterstücken zu verschmelzen. Raimund nennt sein Drama selbst Zauberspiel. Dabei erfüllt das Stück kaum die Merkmale eines klassischen Zauberspiels.

Diese Gattung stammt aus dem Barock und wurde von Raimund im 19. Jahrhundert umgesetzt, in der Hoffnung, ihr neues Leben einzuhauchen. Der volle Titel des Stückes zeigt, wie Raimund ein barockes Genre mit der Literaturströmung seiner Zeit, der Romantik, vereint. Das heißt, er eint den hohen Produktionswert, die magischen Elemente und die typische Verwandlung eines oder mehrere Figuren auf offener Bühne mit romantischen (sprich mittelalterlich angelehnten) Elementen. Raimund tut dies, da das Volksstück zu dieser Zeit noch kein etabliertes Genre ist, zumindest keines, mit dem sich Geld verdienen lässt.

Das Stück

Im Stück geht es um einen reichen und boshaften Gutsbesitzer, dessen Familie und Angestellte unter seinem Temperament leiden. Eine märchenhafte Figur, der Alpenkönig, tauscht für einige Zeit den Platz mit dem Gutsherren, Herr von Rappelkopf, der so lange aus dem Körper seines Schwagers sich selbst dabei zuschaut, wie er seine Familie misshandelt. Am Ende wird Rappelkopf in einer himmelsähnlichen Umgebung verwandelt. Das Stück geht gut aus.

Am auffälligsten ist die Musikalität des Dramas. Die ersten drei Auftritte werden gesungen. Dabei wird die Jagd des Alpenkönigs Astragalus dargestellt, untermalt von einem Chor aus Alpengeistern. Im gesamten Stück wird die Handlung immer wieder durch Lieder gestützt und vertieft.

Dadurch werden einerseits Elemente wie die Jagd oder Augusts (der Verlobte von Rappelkopfs Tochter Malchen) Wanderung akzentuiert, andererseits auch inhaltliche Punkte zusammengeschlossen. Die Lieder am Anfang und Ende des Stückes rahmen die Handlung ein. Musik war in der Romantik ein sehr wichtiger Teil der Kunst. Viele Gedichte wurden musikalisch interpretiert.

Raimund baut immer wieder Einschübe ein, die gleichzeitig modern sind und doch auf den Ursprung der Gattung hinweisen. Neben dieser Absicht macht die Musik eine Aufführung des Dramas lebendiger. Es verbindet das Klischee von singenden Wanderern und Menschen auf dem Land mit Eigenreflexion, Gattungsmerkmalen der Romantik und dem Ursprung des Zauberspiels.

Ein weiterer Punkt, welcher direkt zu Beginn hervorsticht, ist die Sprache. Im Gespräch zwischen Malchen und Lischen, wenn die Bediensteten von Rappelkopf miteinander reden und auch wenn der Menschenfeind selbst wütet. Die Sprache ist sehr einfach gehalten. Charaktere wie Lischen und Sabine stechen durch ihre besonderen Arten zu sprechen hervor. So ist Lischen sehr abergläubisch und naiv, Sabine hat einen schwäbischen Dialekt und ist sehr selbstverliebt. Habakuk, ein Bediensteter, beharrt darauf, dass er in Paris war. Die Sprache bei Volksstücken soll auf künstlerische Art und Weise die Sprache des Volkes imitieren. Das ist auch hier der Fall. Allerdings wird diese Sprache hier stark mit der Komik verknüpft. Insbesondere durch die Bediensteten wird dies übermittelt. Malchen mit ihrer dramatischen Art, die Köchin und der Diener, welche sich streiten. Aber auch die Familie, deren Haus Rappelkopf aufkauft, bringt dies hinein.


Raimund spielt mit der Sprache. Gut sichtbar ist dies, am Beispiel der Familie:

Salchen: Mein Franzel ist ein wiffer Bua,/ Singt den ganzen Tag:/ Daß er mich alleinig nur/ Und kein andre mag.

Die drei Kinder: Wenn wir nicht was z‘ essen kriegn,/ So gehn wir ja zugrund!

Salchen: So weckts das Kind nicht in der Wiegn,/

Die drei Kinder: Sapperment, ein Brot!

Salchen: So weckts das Kind nicht in der Wiegn,/ Und spielts euch mit den Hund!/    Mein Franzel ist ein wiffer Bua,/ Singt den ganzen Tag:/ Daß er mich alleinig nur/ Und kein andre mag.

Christian: Wanns nicht euern Schnabel halts,/ Schlag ich euch noch tot!

Marthe: Still!

Das Kind: Qua qua!

Die Katze: Miau!

Der Hund: Hau hau!

Fünfzehnter Auftritt


Es ist unterhaltsam, man lacht. Gleichzeitig werden Probleme wie Alkoholismus, Geldmangel, der grobe Umgang untereinander, die sehr niedrige Stellung der Kinder und Hunger angesprochen. Zuschauer dieses Stückes reflektieren aktiv über die Welt, in welcher sie leben und über ihre eigenen Umgangsformen. All dies ist versteckt in lebhafter Sprache und Komik.

Anweisungen zur Umsetzung

Durch das ganze Stück ziehen sich sehr genaue Anweisungen die Bühne, Sprechweise und Hintergrundmusik betreffend. Aufwendige Bühnenproduktionen sind seit dem Barock Teil des Zauberspiels. Raimund hinterlegt diese mit romantischen Elementen. Gut sichtbar ist dies, direkt vor der ersten Szene:


Die Ouvertüre beginnt sanft und drückt fröhlichen Vogelsang aus, dann geht sie in fremdartiges Jagdgetön über, begleitet von Büchsenknall. Beim Aufziehen der Kurtine zeigt sich eine reizende Gegend am Fuß einer Alpe, welche sich im Hintergrunde majestätisch erhebt. Im Vordergrunde zeichnet sich in der Mitte ein Gebüsche von Alpenrosen, links ein abgebrochener Baumstamm und im Vordergrunde rechts ein hoher Fels aus. [Hervorhebungen sind nicht im Originalzitat]

Erster Auftritt


Idealisierte Natur ist ein wichtiger Teil der Romantik. Landschaften werden hervorgehoben und mit Elementen des Erhabenen ausgeschmückt. Die Bühne wird genau beschrieben und das Beschriebene darauf wird aktiv genutzt (in diesem Fall der Holzstamm, der Felsen und das Gebüsch). Dadurch das Raimund Anforderungen an das Zauberstück erfüllt, macht er sie zu Teilen des Volksstücks, die andere AutorInnen (wie Jelinek) später wieder aufgreifen. Die Anweisung setzt sich fort und vereint weiterhin die Romantik mit ursprünglichen Teiles des Zauberstücks:

Ein Chor von Alpengeistern, dabei Linarius, durchaus grau als Gemsenjäger gekleidet, jeder eine erlegte Gemse über den Rücken hängen, eilt von der Alpe herab und sammelt sich im Vordergrunde der Bühne.

Mythologie

Mythologische Figuren sind Teil des originalen Zauberspiels, zusammen mit Figuren der Commedia dellʼarte. In Der Alpenkönig und der Menschenfeind wird die Mythologie durch den Alpenkönig und seine Geister erfüllt. Der Nutzen von lokaler Mythologie (welche nicht immer tatsächlich mythologischen Ursprungs sein muss (vgl. Lorelay)) ist ein wichtiger Bestandteil der Romantik. Sie hauchen dem Stück Ursprünglichkeit ein. Die Alpen werden durch die Geister lebendiger als Schauplatz, die Landschaftsbeschreibungen verstärken dies ebenfalls.

Raimund nimmt sich Elemente aus dem Zauberspiel, Figuren und Sprache aus der überzogenen Commedia dell’arte/dem Bürgerlichen Trauerspiel und vereint diese mit der (höfischen) Mode aus der Romantik. Er zeigt damit nicht nur die Natur des Volksstücks, dass es aus verschiedenen Elementen und Ideen zusammengesetzt wurde, sondern setzt auch die Grundlagen für spätere Versionen/Interpretationen des Volksstückes. Sprache, Musikalität und Absurdität ziehen sich durch (fast) alle späteren Volksstücke, wie ich euch in den nächsten Tagen weiter erläutern werde.

Zensur

Das Volksstück hatte von seinen Anfängen an mit Zensur zu kämpfen. Karikaturistische Darstellungen von Adel und Menschen in hohen Positionen, wie reiche Bürgerliche oder Politiker, waren Teil der Anziehungskraft, die das Volksstück auf die breiten Massen hatte. In den Anfängen bestand das Publikum aus Menschen, die sich selbst auf der Bühne sehen und über die, für die sie arbeiteten/die über ihnen standen, lachen wollten. Dieser Aspekt wird im nächsten Beitrag deutlicher behandelt.